Irak - der endlose Krieg: „Islamischer Staat“, irakischer Aufstand und das Erbe der Besatzung (Teil 1a)

Mit der Fokussierung auf den „Islamischen Staat“ wird ein genuiner Aufstand gegen das von der Besatzung geschaffene Regime ausgeblendet und Vorwände für ein erneutes direktes militärisches Eingreifen im Irak geschaffen.

Der folgende Text ist Teil 1a der ungekürzte Rohversion eines zweiteiligen Artikels, der in der jungen Welt vom 16.12. und 17.12.2014 erschien. Seine Fortsetzung folgt in Teil 1b und Teil 2. Als Druckversion gibt es auch den gesamten Beitrag als PDF-Dokument.


Nach zweieinhalbjähriger Pause greifen US-amerikanische Kampfjets seit dem 8. August wieder Ziele im Irak an. In Kürze operieren bereits wieder über 3000 US-Soldaten offen in dem Land, das sie Ende 2011 verlassen mussten.[1] Im Bündnis mit anderen Nato-Staaten und den arabischen Golfmonarchien weiteten sie ihre Angriffe im Rahmen ihres Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ auf syrisches Territorium aus. Syrien wurde so nach Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia, Libyen und Irak zum siebten Land der islamischen Welt, das US Präsident und Friedensnobelpreisträger Barack Obama in seiner sechsjährigen Amtszeit bombardieren lässt.
 
Im Unterschied zu seinem Vorgänger, George W. Bush, erhält US Präsident Obama für seine neuen Kriegseinsätze breite Unterstützung bis hinein in die Linke. Dramatische Berichte über die Vertreibung von Christen und Yeziden durch die brutale Miliz „Islamischer Staat“, die im Norden Iraks bis fast an die Grenzen des kurdischen Autonomiegebietes vorgerückt ist, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sogar von „Völkermord“ war schon wieder die Rede.

Nun waren die in der Region meist noch mit der bisherigen Namen „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL oder arabisch Daish) bezeichneten, al-Qaeda nahen Dschihadisten keine neue Erscheinung. Doch solange sie ihre Blutspur allein in Syrien zogen, hat man sie nur verbal verurteilt, faktisch aber weiterhin ‒ als Teil der gegen die Assad-Regierung kämpfenden Allianz ‒ unterstützt.[2] Zur zu bekämpfenden Bestie wurde ISIL erst, als seine Vorstöße im Irak bis in die, von den irakischen Kurdenparteien KDP und PUK kontrollierten Gebiete reichten und damit unmittelbar die sich dort befindlichen Öl- und Gasfelder bedrohten, auf denen westliche Ölkonzerne aktiv sind.

Mit der direkten militärischen Intervention und der erneuten Stationierung eigener Truppen im Irak will die Obama-Regierung nicht nur die aus dem Ruder gelaufene Miliz zurechtstutzen und das Regime in Bagdad stabilisieren, sondern auch den geschwundene Einfluss im Land wieder stärken. Die irakisch-kurdischen Partien nutzen die in Gelegenheit, um die faktische Unabhängigkeit der von ihnen kontrollierten Gebiete weiter voranzutreiben.

Indem das ganze Geschehen, wie schon während der US-Besatzung, auf die Auseinandersetzung mit islamistischen Terrortruppen reduziert wird, wird erneut der Kampf breiter Bevölkerungsschichten gegen das von der Besatzung geschaffene Regime ausgeblendet, wie auch die brutale Gewalt irakischer Regierungskräfte und regierungsnaher schiitischer Milizen, die der von ISIL kaum nachsteht und bisher wesentlich mehr Todesopfer forderte. Durch die Fokussierung auf den zur Inkarnation des Bösen hochstilisierten ISIL, konnte auch die öffentliche Zustimmung für ein direktes militärisches Eingreifen in Syrien gewonnen werden, das ein Jahr zuvor noch aufgrund der breiten Opposition abgeblasen werden musste.

In Syrien bombardieren die Staaten, die hauptsächlich für die eskalierende Gewalt dort verantwortlich sind – also eine „Koalition der Schuldigen“[3] ‒ nun in erheblichem Maß auch die syrische Infrastruktur, während sie gleichzeitig weiterhin die islamistischen Milizen, die gegen die Assad-Regierung kämpfen, unterstützen und das Nato-Mitglied Türkei die Grenzen auch für ISIL-Kämpfer und ihren Nachschub sowie deren umfangreichen Schmuggel mit syrischen Öls offen hält.

Auch die Bundesregierung ist diesmal mit dabei. CDU und SPD nutzten die Stimmung, um eilig 600 Tonnen Kriegsgerät (darunter 120 Panzerfäuste, 20 Boden-Boden-Raketen vom Typ Milan und 4.000 Sturmgewehre) an die irakisch-kurdische Partei KDP zu liefern,[4] die im kurdischen Autonomiegebiet regiert. Durch diese Waffenlieferung an einen nichtstaatlichen Akteur in ein Krisengebiet, mit der sie am Parlament in einen bewaffneten Konflikt intervenierten fegte sie gleich drei bisherige militärische Selbstbeschränkungen deutscher Politik zur Seite ‒ und demonstrierten so deutlich, wie sie sich die Übernahme „größerer Verantwortung“ durch Deutschland vorstellen.

ISIL ‒ ein Produkt US-geführter Kriege

Der Vorläufer von ISIL entstand ab 2003 im besetzten Irak, als sunnitische Extremisten aus diversen Kampfgebieten der Welt ins Land strömten, das bis dahin keinerlei Basis für dschihadistische Gruppen bot.

Prominent wurde die Gruppe um den Jordanier Abu Musab as-Zarqawi (die „Organisation der Basis des Dschihad in Mesopotamien“), die aufgrund seiner Beziehungen zu Al-Qaeda von westlichen Beobachtern als „Al-Qaeda im Irak“ (AQI) bezeichnet wurde. Diese schloss sich mit ähnlich gesinnten Gruppen im „Schura-Rat der Mudschaheddin im Irak” zusammen, der 2006 die Errichtung eines „islamischen Emirats“ bzw. „Staates“ im Irak (ISI) ausrief. Finanziert und ausgerüstet wurden die Gruppierungen schon damals vor allem von Sponsoren aus den Golfmonarchien.

Obwohl ihre, stark vom Wahabismus, der extremistischen Staatsreligion Saudi-Arabiens beeinflusste Ideologie mit dem traditionellen Religionsverständnis irakischer Sunniten nichts gemein hat, wurden sie zunächst als kompromisslose, kampferprobte und gut bewaffnete Kämpfer gegen die Besatzer begrüßt. Für viele, unter Kriegs- und Embargo-Bedingungen aufgewachsenen jungen Männer, die nach dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des Landes ohne Perspektive bei ihren verarmten Familien lebten, waren ihre Radikalität und ihre Soldzahlungen durchaus attraktiv. Vor allem arbeitete ihnen die sektiererische Teile-und-Herrsche Strategie der Besatzer zu, die schiitisch-islamistische Kräfte an die Spitze des neuen Regimes stellten und sunnitische Nationalisten mit aller Gewalt zu neutralisieren suchte. [Sie installierten ein schiitisch-islamistisches Regime und initiierten eine sehr selektiv angewandten „Ent-Baathifizierung“, die unter Sunniten selbst einfache Mitglieder der einstigen Einheitspartei um ihre Jobs brachte.[5] Die USA investierten, wie der britische Guardian und die BBC letztes Jahr berichteten, acht Milliarden Dollar in den Aufbau von Spezialkommandos und Todesschwadronen, überwiegend aus den Reihen radikal-schiitischer Milizen. [6] Mit deren Hilfe führten die Besatzer ab 2005 unter Leitung von US-General David Petraeus einen schmutzigen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung der – mehrheitlich sunnitischen – Zentren des Widerstands. [7] „Die sunnitische Bevölkerung zahlt für die Unterstützung der Terroristen keinen Preis“, zitierte Newsweek 2005 einen Offizier aus dem Pentagon. „Aus ihrer Sicht ist das kostenlos. Wir müssen diese Gleichung ändern.“ [8]. Dieser schmutzige Krieg eskalierte im Zusammenspiel mit dem Terror der al-Qaeda-nahen Gruppen ab 2006 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlingen waren die Folge.]

Auch sie sunnitischen Besatzungsgegner mussten bald feststellen, dass die sunnitischen Extremisten den irakischen Kriegsschauplatz nur für ihr universelles Ziel des Aufbaus eines islamischen Gottesstaates missbrauchten und zu Mitteln griffen, die absolut inakzeptabel waren und dem Widerstand massiv schadeten.[9] Zum offenen Konflikt kam es, als die Gruppen vielerorts versuchten, gewaltsam die örtliche Kontrolle zu übernehmen. Oft waren es nichts weiter als Banden junger Männer, die unter Berufung auf Al-Qaida die Bewohner tyrannisierten und Geld erpressten.

Die Dschihadisten erwiesen sich damit für die Besatzer im Kampf gegen den patriotischen Widerstand als überaus nützlich. Sie schwächten diesen durch ihre Auseinandersetzungen nicht nur militärisch, sie lieferten mit ihren Terroranschläge gegen schiitische Gläubige, religiöse Einrichtungen etc. vor allem auch Steilvorlagen für die westliche Propaganda zur Diskreditierung des bewaffneten Widerstands allgemein und torpedierten die zunächst erfolgversprechenden Ansätze eines Zusammengehens säkularer, sunnitischer und schiitischer Besatzungsgegner.

Die wichtigsten Widerstandsgruppen schlossen 2006 schließlich ein Bündnis gegen ISI. Parallel dazu entstand die sogenannte „Al-Sahwa“- oder „Erwachen“-Bewegung: sunnitische Bürgerwehren [von US-Stellen gerne „Söhne Iraks“ genannt], aus ehemaligen Guerilla-Kämpfern und Stammeskriegern, die von den Besatzern Sold und Ausrüstung für den Kampf gegen die dschihadistischen Gruppen erhielten.[10] Mit vereinten Kräften wurden sie schließlich weitgehend zerschlagen.[11] Ende 2010 war die Stärke von ISI auf maximal 1000 Kämpfer geschrumpft.[12]

Kämpfer „made in America“

Der NATO-Krieg gegen Libyen und der von außen angefeuerte bewaffnete Aufstand in Syrien schufen jedoch bald die Basis für ein Revival. Im Krieg zur Unterwerfung Libyens waren von den USA, England und Frankreich 2011 Zehntausende Islamisten ausgerüstet und teils auch ausgebildet worden, denen mit dem Zusammenbruch des Staates große Mengen weiterer Waffen in die Hände fielen. Ein großer Teil davon floss über Jordanien und die Türkei nach Syrien.[13] Auf demselben Weg strömten auch Tausende Kämpfer aus Libyen, Afghanistan, Irak, Tschetschenien und vielen anderen Ländern nach Syrien, um dessen verhasstes, weitgehend säkulares Regime zu stürzen.[14] Geld, Waffen und Material flossen aber auch aus den USA und den Golfstaaten an die aufständischen Gruppen. Offiziell waren sie für die „moderaten Aufständischen“ bestimmt, vor Ort gab es jedoch so eine klare Trennung zwischen „moderaten“ und radikalen Islamisten nicht. Der größte Teil ging, wie auch ein erheblicher Teil der Kämpfer, zu den Gruppen über, die sich als am schlagkräftigsten und finanzstärksten erwiesen ‒ und dies waren die Al-Nusra-Front und ISI, der sich als „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL) nach Syrien ausgedehnt hatte.[15](Wie eng die verschiedenen Gruppen auch heute noch zusammenarbeiten läßt sich u.a. einer Reuters-Meldung vom 16.12.2014 über Gebietsgewinne im Norden Aleppos entnehmen. Demnach standen der Armee dabei Kämpfer des ISIL und der al-Nusra-Front sowie "vom Westen unterstützte Rebellen" gegenüber.)

Weil „die Türken … die Saudis und die Emirate unbedingt Assad stürzen wollten, haben sie sogar einen Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten in Kauf genommen und für Hunderte von Millionen Dollar Zehntausende von Tonnen Waffen an alle geliefert, die Assad bekämpfen wollten, auch an Al-Nusra, Al-Qaida und die radikalen Dschihadisten, die aus allen Teilen der Welt herbeigeströmt sind,“ gab Vizepräsident Joe Biden in einem schwachen Moment vor Studenten der Harvard University preis.[16] Die Rolle der USA und der anderen Nato-Mächte überging er dabei geflissentlich.

Ohne den Segen aus Washington würde die Türkei wohl kaum den islamistischen Kämpfer Bewegungsfreiheit in den türkischen Grenzgebieten gewähren und ihren Geheimdienst den Nachschub aus Saudi-Arabien und Katar zur Grenze transportieren lassen. Tatsächlich trainierten auch eigene Berater zusammen mit britischem und französischem Militär „FSA-Kämpfer“ in Jordanien im Umgang mit modernen Waffen, obwohl für jeden der es wissen wollte, abzusehen war,. dass viele der Rebellen, die diese Spezialausbildung erhielten, später zum ISIL oder zur Al-Nusra Front überlaufen würde. [17] „Wir hatten schon zu einem frühen Stadium Informationen …, dass Leute, die die USA und ihre Verbündeten ausgebildet haben, um in Libyen und Syrien für ‚Demokratie’ zu kämpfen ,eine dschihadistische Agenda verfolgen,“ teilte z.B. auch ein hochrangiges Mitglied eines arabischen Geheimdienstes der Washington Post mit.[18]]

Ein Kämpfer aus Bengazi schildert der Washington Post, wie er und andere Libyer während des Kampfes gegen Gaddafi von französischen, britischen und US-amerikanischen Militär- und Geheimdienstleuten Ausbildung und Ausrüstung erhalten“ haben, bevor sie 2012 über die Türkei nach Syrien gingen. Zuerst habe er unter dem gekämpft, was die Leute ‚freie syrische Armee’ nennen, doch dann wechselte er zu Al Nusra. Sobald seine Wunden verheilt seien, die in einem türkischen Krankenhaus behandelt wurden, wolle er sich jedoch dem Islamischen Staat anschließen. „Ich bin ein Kämpfer ‚made in America‘ sage ich ab und zu scherzhaft.“


Schließlich ist die Finanzierung durch Ölschmuggel aus den besetzten Ölquellen und Raffinerien nur möglich durch die einseitige Lockerung des EU-Embargos für die „syrische Opposition“ und die Komplizenschaft der Türkei, in die die Tanklastzüge rollen und von wo es von türkische Mittelsmänner verkauft wird.]

ISIL ist somit offensichtlich das Produkt der Kriege der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien, das Produkt der Zerschlagung dieser Staaten und der Zerstörungen ihrer Gesellschaften.

Zurück ins Mittelalter

Das Ziel von ISIL ist die Wiederherstellung des Kalifats, d.h. die Auflösung des durch die Kolonialstaaten nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen und Mittleren Osten geschaffenen Staatensystem und den Wiederaufbau eines einheitlichen islamischen Reiches unter Führung eines Kalifen, der als Nachfolger des Propheten Mohammeds die Herrschaft über alle Muslime ausübt] In seinen Medien stellt sich ISIS nicht als Rebellenarmee dar, sondern als soziale Bewegung mit einem bewaffneten Arm, eine Art „Befreiungsbewegung“. die den Grundstein für die Ausbreitung dieses Kalifats legt.

[So größenwahnsinnig die Proklamation eines Kalifats unter den aktuellen Umständen und auf so beschränktem Gebiet erscheinen mag, so knüpft sie an Bestrebungen an, die in den letzten Jahrhunderten immer wieder auflebten, gespeist vom Wunsch, die Vorherrschaft des Westens zu brechen und die islamische Welt zur einstigen Größe zu führen. Das grenzüberschreitende Territorium das ISIL nun für den Kern seines Kalifats reklamiert, negiert faktisch das verhasste Sykes-Picot-Abkommen und kann propagandistisch an die glorreichen Zeiten des Kalifats der Abbasiden anknüpfen, das von 749 bis 1258 über fünfhundert Jahre lang währte und damit traditionelle Sehnsüchte unter Muslimen nach dem Goldenen Zeitalter unter den rechtgeleiteten Kalifen ausnutzen.]

Diese Vision ist unter radikalen Islamisten äußerst populär, weit mehr als z.B. die der Al Nusra Front, so Charles Lister, Analyst des IHS Jane's Terrorism and Insurgency Centre gegenüber dem Magazin New York Review of Books.[19] Mit den Verbrechen westlicher Staaten an islamischen Ländern in den letzten Jahrzehnten wuchs die Attraktivität solcher Pläne, vor allem unter dem Heer arbeits- und perspektivloser junger Muslime, massiv.

ISIL strebt nicht den schnellen Sturz der aktuellen Regierungen an, sondern die sukzessive Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs. [Ihre Stärke gewann die Miliz durch ein zweigleisiges Vorgehen: Durchführung von strategischen Angriffen zur Erbeutung wichtiger Ressourcen wie Waffenlager, Ölquellen oder Getreidespeicher bei gleichzeitiger Vermeidung ausgedehnter Gefechte mit syrischen Truppen, durch die andere regierungsfeindlichen Milizen stark geschwächt wurden.[20]] Ziel ist in erster Linie die Unterwerfung der Bevölkerung in den eroberten Gebieten, inklusive der Minderheiten, und nicht deren Vernichtung oder Vertreibung. Wer jedoch Widerstand leistet oder sich der auferlegten mittelalterliche Ordnung widersetzt (zu der z.B. auch die Bezahlung der „Dschizya“, der „Schutzsteuer“ für Nichtmuslime gehört) wird grausam bestraft, oft exemplarisch exekutiert. [Zur Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruch greifen sie häufig auch zur Erpressung, indem z.B. Dorfälteste oder Stammesführer als Geisel genommen und im Falle von Gehorsamsverweigerung der örtlichen Bevölkerung ermordet werden. Als besonders brutal gelten die ausländischen Kämpfer, vor allem aus dem Westen, die nicht nur meist fanatischer sind sondern auch keinerlei persönliche Beziehung zur einheimischen Bevölkerung haben.]

[Die Realität des Kalifats sieht dennoch keineswegs so eindrucksvoll aus, wie es in den Medien hier erscheint, schreibt der Arabist Pedro Rojo Pérez.[21] Seine Präsenz im Land ist begrenzt und lückenhaft, staatliche Funktionen nur rudimentär zu erkennen. Im Irak muss ISIL meist parallel zu den Strukturen der lokalen aufständischen Kräfte agieren. Der mit der Ausrufung des Kalifats erhoffte Ansturm neuer Mitkämpfer blieb zunächst aus. Erst mit den Luftangriffen der USA, Großbritanniens und Frankreich wuchs der Zustrom rapide an.

Während in den Medien viel Aufhebens um die Ausrufung des Kalifats gemacht wurde, blieb die breite Ablehnung dieses dreisten Projekts durch sunnitische Organisationen weitgehend unerwähnt. AMSI, deren Ansichten erhebliches Gewicht bei den aufständischen Gruppen haben, verurteilte die Ausrufung scharf. Jegliche Ankündigung eines Staates oder Emirates ‒ sei es ein islamischer oder nicht-islamischer ‒ sei gegen die Interessen Iraks und dessen Einheit gerichtet. Es werde als Vorwand für die Teilung des Landes dienen und der Bevölkerung schweren Schaden zufügen.[22]]

Willkommenes Monster

Solange ISIL nur Städte und Dörfer in Syrien angriff, (darunter auch die von Minderheiten wie Drusen, Armenier oder Assyrer), hielt sich die Aufregung im Westen in Grenzen. Erst als er im Irak auch gegen kurdisch kontrollierte Gebiete vorrückte und die Ölfelder Nordiraks bedrohte (sodass westliche Ölkonzerne bereits begannen Personal aus dem Land abzuziehen[23]) füllten dramatische Berichte über seine Gräueltaten die Titelseiten.

An sich klingen die gesicherten Berichte über die brutalen Praktiken der Dschihadisten, wie Massenexekutionen und das Köpfen von Geiseln schon fürchterlich genug, doch würden sie sich damit nur quantitativ von anderen islamistischen Milizen abheben. Durch eine Flut zusätzlicher Schauergeschichten wurde ISIL zur Inkarnation des Bösen schlechthin hochstilisiert, zu dessen Bekämpfung letztlich jedes Mittel Recht ist.

Vieles ist, wie z.B. die in Kurdistan lebende niederländische Journalistin Judit Neurink berichtet, jedoch stark übertrieben oder nur ein Gerücht. [24] So erwies sich z.B. die Meldung, ISIL würde Frauen zur Genitalverstümmelung zwingen, genauso als falsch, wie Berichte über den Raub von 400 Millionen Dollar Bargeld aus der Zentralbank von Mosul. Erfüllt von Abscheu sind viele gerne bereit, jede Nachricht über die ISIL-Gräuel zu glauben und weiter zu verbreiten, ohne die Glaubwürdigkeit und Plausibilität zu prüfen.

[ISIL würde Frauen zur Genitalverstümmelung zwingen, so lautete beispielsweise eine auf Aussagen der „Humanitäre Koordinatorin“ der UNO im Irak, Jacqueline Badcock, basierende Meldung.[25] Diese wurde rasch von allen Medien verbreitet obwohl diese Praxis nichts mit islamistischer Ideologie zu tun hat. Befragte Bürger Mosuls, darunter Ärzte und Stammesführer, hatten auch nichts dergleichen vernommen, die Geschichte war ein Hoax. [26] Nahezu alle Medien hatten auch die Geschichte über einen gigantischen Bankraub der Gruppe berichtet. Nach der Einnahme von Mosul habe ISIL über 400 Millionen Dollar Bargeld sowie große Mengen Goldbarren aus der dortigen Zentralbank geraubt und sich so zur reichsten islamistischen Organisation der Welt gemacht. Der Raub hat jedoch nie stattgefunden. Nach Angaben des Chefs des Verbands der Privatbanken Iraks gab es keinen Überfall auf die Zentralbank und auch aus anderen Banken Mosuls sei nichts entwendet worden, „nicht mal ein Stück Papier“. [27]

ISIL habe auch, so heißt es, Unmengen an Waffen und Material aus den Kasernen erbeutet, die von der irakischen Armee fluchtartig verlassenen worden waren. Anderseits berichteten irakische Offiziere der Nachrichtenagentur Reuters, sie seien knapp an Waffen und Munition gewesen. Die meisten Panzer, Geschütze und Maschinengewehre seien Anfang des Jahres in die Nachbarprovinz Anbar verlegt worden.[28]]

Letztlich arbeiten ISIL und die angreifenden Staaten bei der Eskalation des Krieges Hand in Hand. Während die Dschihadisten ihre Erfolge in ihren Medien gerne aufbauschen und mit ihren Verbrechen auch noch prahlen, sind letztere bemüht ihre Bestialität und Gefährlichkeit für die gesamte Region noch hochzuspielen.

Sahen sich Washington und London lange einer starken Opposition gegen erneute Kriegseinsätzen gegenüber, änderte sich dies schlagartig, als die Dschihadisten vor laufender Kamera US-amerikanischen und britische Geiseln köpften und ‒ der Wirkung solcher Bilder sicherlich wohl bewusst ‒ die schockierenden Aufnahmen, mit Unterstützung westlicher Medien, im Internet kursieren ließen.

[Geflissentlich wurde beim Entsetzen darüber ignoriert, dass ISIL nicht die einzige Miliz ist, die Gefangenen den Kopf abschlägt und dass diese mittelalterliche Hinrichtungsmethode auch von engsten Verbündeten regelmäßig praktiziert wird. Im August, demselben Monat in dem die beiden US-Amerikaner abgeschlachtet wurden, lies auch Riad 14 Gefangene köpfen und erhöhte die Zahl solcher Hinrichtungen in diesem Jahr auf über 46. Die Enthauptungen wurden öffentlich übertragen, einige sogar während eines Staatsbesuchs von Obama und Kerry. In keinem der führenden westlichen Medien war auch nur eine Zeile darüber zu lesen. Und so schauerlich die Aufnahmen wirken, so sind sie nicht grausamer als die Exekutionen von Terrorverdächtigen durch von Drohen abgefeuerte Raketen, die zudem neben den verdächtigen „Zielobjekten“ meist viele unschuldige Frauen, Kinder und Männer zerfetzen und auch nicht grausamer als die erneute Tötung unzähliger Unschuldiger durch die neuen Bombardierungen. ]

ISIL wiederum profitiert von den Luftangriffen der Nato-Staaten, stehen seine Kämpfer nun doch in direkter Konfrontation mit den westlichen „Kreuzrittern“. [29] Da Luftangriffe den kleinen beweglichen Einheiten der Miliz wenig anhaben können, werden die Verluste durch den seitherigen Zustrom neuer Märtyrer mehrfach ausgeglichen. Zudem scheinen rivalisierende Gruppen, wie die Al Nusra Front, angesichts des großen gemeinsamen Feindes bereit, ihre Auseinandersetzungen mit ISIL zurückzustellen.
 
[1] Obama to Send 1,500 More Troops to Assist Iraq, NYT, 7.11.2014, Knut Mellenthin, Wenn Präsidenten schwören ‒ Obamas Versprechen, keine Bodentruppen in den Irak zu schicken, und die Realität, jW, 19.09.2014

[2] s. u.A. Seymour M. Hersh, The Red Line and the Rat Line – Hersh on Obama, Erdoğan and the Syrian rebels, London Review of Books, April 6, 2014, Nafeez Ahmed, Follow the Money; Follow the Oil: How the West Created the Islamic State, Counterpunch, 12.9.2014

[3] Mahdi Darius Nazemroaya, US’s 'Coalition of the Guilty' part of Iraq, Syria problem, RT, 18.11,2014

[4] Waffenlieferung von Waren in den Nordirak, NDR, 18.09.2014

[5] Juan Cole: Mass Sunni Uprising Forces Iraq to Confront Sectarian Blowback of 2003 U.S. Invasion, Democracy Now, 18.6.2014

[6] Mona Mahmood, Maggie O'Kane, Chavala Madlena and Teresa Smith, Revealed: Pentagon's link to Iraqi torture centres, Guardian, 6.3.2013, Joachim Guilliard, Gezielte Zerstörung, – Zehn Jahre Krieg der USA im Irak, junge Welt, 29.04.2013

[7]   Joachim Guilliard, Gezielte Zerstörung ‒ Analyse. Zehn Jahre Krieg der USA im Irak: der Staat wurde zerschlagen, die Wirtschaft ruiniert, die Gesellschaft fragmentiert und die nationale Kultur liquidiert, junge Welt, 29.04.2013

[8] Michael Hirsh u. John Barry, ‘The Salvador Option’ -- The Pentagon may put Special-Forces-led assassination or kidnapping teams in Iraq, Newsweek, 8.1.2005

[9]AMS: We Are Now Waging Two Battles: Against 'the Occupation' and Against 'the Terrorists'“ Al-Hayat/ZNet, 26.1.2006

[10] s. J. Guilliard, Doppelte Besatzung, jW, 02.01.2009

[11] J. Guilliard, „Strukturen der irakischen Befreiungsbewegung, junge Welt vom 22.und 24.9.2007

[12] Charles P. Blair, ISIS: The unsurprising surprise that is sweeping Iraq, Bulletin of the Atomic Scientists, 18.6.2014

[13] Arms Airlift to Syria Rebels Expands, With Aid From C.I.A., 25.3.2013

[14] s. z.B. William Engdahl, 'US-trained ISIS militants used to reorganize Middle East', RT, 5.10.2014

[15] Arming Syrian 'Moderate' Fighters Emboldens Islamic State, Huffington Post, 17.9.2014, Joe Biden Is the Only Honest Man in Washington, Foreign Policy, 6.10.2014,

[16] Joe Biden Is the Only Honest Man in Washington, Foreign Policy, 6.10.2014,

[17] Nafeez Ahmed, Follow the Money; Follow the Oil – How the West Created the Islamic State, Counterpunch, 12.9.2014

[18] The terrorists fighting us now? We just finished training them, Washington Post, 18.8.2014, Inside the CIA's Syrian Rebels Vetting Machine, NewsWeek 10.11.2014)

[19] How al-Qaeda Changed the Syrian War, New York Review of Books, 27.12.2013

[20] Rebels’ Fast Strike in Iraq Was Years in the Making, NYT, 14.6.2014

[21] Pedro Rojo Pérez, Un califato de negro future, El Mundo, 11.08.2014

[22] Statement No.1003 on establishment of new 'Islamic caliphate' in Iraq and Syria, AMSI, 01.7.2014

[23] Iraq: Oil Firms Evacuate Staff from Kurdistan as US Launches Airstrikes, International Business Times, 8.8.2014

[24] ‘Geen idee hoe erg het er is’ (‘We have no idea how bad it is'), De Standaard, 13.8.2014
 Questions about the Yazidis on that Iraq Mountain, Peter Van Buren, 13.8.2014

[25] Militants order female genital mutilation in Iraq: U.N., Reuters 24.7.2014

[26] The Islamic State Isn't Circumcising Women and Didn't Steal $400 Million Either, Foreign Policy 24.7.2014, Rumors of Islamic State ordering female genital mutilation in Mosul fake?, RT, 24.7.2014

[27] The Islamic State Isn't Circumcising Women … a.a.O.,

[28] How Mosul fell - An Iraqi general disputes Baghdad's story, Reuters, 14.10.214

[29] Juan Cole, Media, Politicians should stop Letting ISIL Manipulate them, Informed Comment, 14.9.2014

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