Doppelmoral und Propaganda - Der Krieg und die Medien

Der Krieg und die Medien – die unterschiedliche Darstellung der Kämpfe um Mossul und Aleppo
erschien in junge Welt, 22.01.2018, Seite 12/ Thema

Redaktionell bearbeitete und stark gekürzte Fassung des Vortrages Real War and Fake News: Die Kämpfe um Mossul und Aleppo vom 2. Dezember 2017 beim Kasseler Friedensratschlag.
Fake News sind in aller Munde. Dabei werden unter diesem Begriff meist nur frei erfundene oder stark verfälschte Nachrichten verstanden, die politisch motiviert und gezielt auf Täuschung angelegt sind. Zudem werden sie nur in »sozialen Medien« und auf Nachrichtenportalen gegnerischer Staaten vermutet. Geht es nach dem politischen und medialen Mainstream, so könnte man »Fake News« als diejenigen Falschmeldungen definieren, die nicht von den etablierten Medien selbst verbreitet werden.

Nun steht natürlich außer Frage, dass die »sozialen Medien« einen besonders guten Nährboden für die leichte und schnelle Verbreitung von Falschmeldungen bilden. Wenn wir aber in der Geschichte zurückblicken, müssen wir feststellen, dass die Falschmeldungen, die die schlimmsten Schäden anrichteten, aus der Politik und den etablierten Medien selbst kamen. Ein berüchtigtes Beispiel dafür ist die von einer Werbeagentur erfundene »Brutkastenlüge« über irakische Soldaten, die 1990 in Kuwait Babys aus Brutkästen gerissen hätten. Sie wurde damals von den meisten Medien weiterverbreitet und trug maßgeblich dazu bei, die öffentliche Meinung in den USA zugunsten des ersten US-Krieges gegen den Irak zu beeinflussen. Weit häufiger als mit reinen Falschmeldungen wird jedoch mit einseitigen oder stark übertriebenen Beiträgen versucht, die gewünschte Stimmung zu schaffen. Auch wenn es vom Mainstream nicht so gewertet wird, ist das Weglassen essentieller Teile einer Geschichte, die zum Verständnis und zu ihrer Einordnung nötig sind, letztlich ebenfalls eine Desinformation.

Wie stark solche Desinformationen zur Durchsetzung herrschender Politik eingesetzt werden, lässt sich sehr gut am Umgang von Politik und Medien mit den Kämpfen um Mossul und Aleppo zeigen. Diese sind nicht nur drastische Beispiele für die Brutalität der Kriege im Irak und in Syrien, sondern auch für eine extreme Doppelmoral in der Bewertung und Berichterstattung, die weit mehr an den strategischen Interessen der herrschenden Kreise im eigenen Land als am tatsächlichen Kriegsgeschehen ausgerichtet sind.

Ein zweites Ruanda

Die Ausgangslage war in den beiden großen Metropolen ähnlich. Sowohl Ostaleppo als auch Mossul standen unter Kontrolle islamistischer Kräfte. Beide Städte wurden von Regierungstruppen mit ausländischer Unterstützung belagert, bombardiert und schließlich gestürmt. Die Darstellung von Politik und Medien hätte jedoch unterschiedlicher kaum sein können. Die Schlacht um Mossul, wo sich nach Schätzung westlicher Geheimdienste 7.000 bis 10.000 Dschihadisten des »Islamischen Staates« (IS) unter rund eineinhalb Millionen Einwohnern verschanzt hatten, wurde durchgehend begrüßt. Die Offensive zur Befreiung Ostaleppos aus den Händen von rund 8.000 islamistischen Kämpfern wurde hingegen als grausamer und verbrecherischer Angriff auf die »Opposition«, die »Rebellen« oder gar die Bevölkerung der Stadt verurteilt. Den Charakter dieser »Opposition« wie auch ihr tatsächliches Verhältnis zur zu diesem Zeitpunkt noch 150.000 bis 200.000 Menschen umfassenden Bevölkerung blendete man dabei völlig aus. Man ließ so den Eindruck entstehen, es handele sich um fortschrittliche Kräfte und um Stadtviertel, die von der Mehrheit der Einwohner als »befreit« angesehen würden.

Der Hintergrund für die Verdrehung der Fakten war die enorme strategische Bedeutung, die der Kampf um Aleppo hatte. Wäre es den Islamisten tatsächlich gelungen, die gesamte Metropole unter ihre Kontrolle zu bringen, hätte die Regime-Change-Allianz gute Voraussetzungen gehabt, den Krieg gegen die Assad-Regierung zu intensivieren. Aleppo und das umgebende Gebiet bis zur türkischen Grenze wären auch eine ausreichend große und wichtige »befreite Zone« gewesen, um als Basis für eine ernstzunehmende Gegenregierung zu fungieren. Die Niederlage der dortigen Milizen hingegen bedeutete faktisch das Ende dieses Projektes und damit auch eine empfindliche Niederlage der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten. Mit Beginn der Offensive im September 2016 hatte die Berichterstattung im Westen nahezu einhellig nur noch den einen Tenor: Regierungstruppen und russische Luftwaffe lassen die Stadt in einem Inferno untergehen.

Lauteten die Schlagzeilen zum Sturm auf Mossul etwa: »Die Offensive kommt schnell voran«, »Die Befreiung steht bevor« oder »Im Nordirak feiern die Menschen: Der IS wird zurückgedrängt«, so titelte man über die syrische Offensive beispielsweise »Blut im grauen Staub Aleppos« (Süddeutsche Zeitung, 26. September 2016), »Außenminister Steinmeier: ›Die Bilder aus Aleppo sind an Grausamkeit kaum zu überbieten‹« (Spiegel online, 9. August 2016) oder »Grünen-Chef Özdemir: ›Assad und Putin bomben Syrien zurück in die Steinzeit‹« (Spiegel online, 15. Oktober 2016). Die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, verglich das Geschehen in Ostaleppo gar mit Ruanda und Srebrenica und übernahm dabei fast eins zu eins die Propaganda der Dschihadistentruppe Ahrar Al-Scham.¹ Oft wurde nicht einmal erwähnt, dass sich die Offensive nur auf den Ostteil der zweitgrößten Stadt Syriens konzentrierte, in dem höchstens noch 15 Prozent der Einwohner lebten. So wurde der Eindruck erweckt, ganz Aleppo stehe vor dem Untergang.

Islamisten als »letzte Hoffnung«

Dabei war es kein Geheimnis, dass die heroisierten Verteidiger überwiegend aus islamistischen und dschihadistischen Milizen bestanden, unter denen der syrische Al-Qaida-Ableger, die in Dschabha Fatah Al-Scham umbenannte Nusra-Front, und Ahrar Al-Scham die dominierenden Kräfte waren. Gruppen also, die dem IS in bezug auf reaktionäre islamistische Ideologie und Brutalität nicht viel nachstehen. Westliche Medien scheuten sich jedoch nicht, sich ungeachtet dieses allgemein bekannten Hintergrunds offen hinter diese Kräfte zu stellen. So gab Spiegel online am 2. August 2016 in einem Beitrag durchaus offen zu, dass die schlagkräftigsten Milizen »für einen syrischen Staat kämpfen, in dem ihre fundamentalistische Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia«, gelten solle, bezeichnete sie aber dennoch als »Aleppos letzte Hoffnung«.
Im Unterschied zu hiesigen Medien sahen wohl nur wenige Bewohner Aleppos die von Islamisten und Dschihadisten beherrschten Viertel als befreit an. Die Enklave war auch keineswegs infolge eines Aufstands in der Stadt selbst entstanden. In Aleppo hatte es 2011 keine nennenswerten Proteste gegen die Regierung gegeben. Die Metropole galt als Hochburg der Regierungsanhänger und blieb über ein Jahr lang von Unruhen verschont. Zum Verhängnis wurde ihr die Nähe zur Türkei. In der Grenzregion formierten sich die islamistischen Milizen und eroberten von dort aus den Osten der Stadt. Der Großteil der Bevölkerung flüchtete, die Mehrheit davon in die von der syrischen Armee gehaltenen Viertel im Westteil.

Allen Berichten von Betroffenen zufolge, die nicht mit den Islamisten sympathisieren, errichteten die Milizen ein islamistisches Terrorregime inklusive Schleierzwang und Scharia-Gerichten. Sie nutzten Ostaleppo als Basis, um auch unter Einsatz von Autobomben und Selbstmordkommandos in die benachbarten Viertel vorzustoßen. Die Mehrheit der Bewohner betrachtete daher die Vertreibung der Terroristen durchaus als Befreiung.
Die romantisierende Darstellung der Dschihadisten als »Verteidiger der Freiheit« führte dazu, dass Quellen aus ihrem Umkreis im Westen eine enorme Glaubwürdigkeit erhielten. Dies nicht nur bei den Medien, sondern auch bei Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW). Beide führten umfangreiche Kampagnen zur Delegitimierung der Assad-Regierung durch, die fast vollständig auf den Informationen oppositioneller Gruppen beruhten. Dies führte etwa dazu, dass HRW mehrfach Bilder zerstörter Gebäude und Straßenzüge zeigte, die die Auswirkungen von Fassbombenabwürfen demonstrieren sollten, die jedoch an anderen Orten, etwa im kurdischen Kobani oder gar in Gaza, aufgenommen worden waren (siehe jW-Thema vom 26.1.2016). Egal, ob es sich um Berichte über angebliche Fassbombenabwürfe, Angriffe auf Krankenhäuser oder ähnliche Vorwürfe handelte, primäre Quellen waren in den meisten Fällen ausschließlich oppositionelle Gruppen wie das »Aleppo Media Center«, die mehr oder weniger eng mit den Milizen verbandelt waren. Unabhängige Journalisten hingegen konnten kaum in die von Regierungsgegnern kontrollierten Gebiete vordringen.

Professionelle PR-Arbeit

Es wäre allerdings blauäugig anzunehmen, dass die durchaus professionelle und erfolgreiche PR-Arbeit allein das Werk der Milizen und verbündeter »zivilgesellschaftlicher Gruppen« war. Arabische und westliche Regierungen haben von Beginn an ziemlich offen eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung und Ausbildung regierungsfeindlicher Medieninitiativen gespielt. Häufig war, was als spontane Gründung eines unabhängigen Medienbüros durch lokale Aktivisten wirkte, von syrischen Exiloppositionsgruppen und westlichen Nichtregierungsorganisationen in enger Zusammenarbeit mit westlichen Regierungsstellen aufgebaut worden. So wurde etwa das Radioprojekt Syria Radio Network (Syrnet) von der Berliner Organisation »Media in Cooperation and Transition« (MICT) mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes entwickelt – kofinanziert unter anderem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem belgischen und französischen Außenministerium und der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.²

Im Fall Aleppos wurde hauptsächlich durch ex­treme Einseitigkeit und Weglassen wesentlicher Aspekte Stimmung gegen das Vorgehen der syrischen und russischen Streitkräfte gemacht. Dies begann schon mit dem großen Raum, der der Offensive – im Verhältnis zu sonstigen Kriegsereignissen in der Welt – von den Medien eingeräumt wurde. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass die Folgen mit Hilfe der Berichte, Bilder und Videos oppositioneller Gruppen massiv aufgebauscht wurden. Die Angriffe der »Rebellen« auf den Westen Aleppos blieben unerwähnt, oft sogar die Präsenz bewaffneter Milizen generell. Auf diese Weise entstand zwangsläufig der Eindruck, die Angriffe der Regierungstruppen und ihrer russischen Verbündeten würden sich durchweg auf zivile Ziele richten. Nahezu alle Opfer und Kriegsschäden wurden Syrien und Russland angelastet, so als würden diese allein Waffen einsetzen.

Viele von der »Opposition« verbreitete Berichte konnten aber auch direkt als Fälschung oder Irreführung entlarvt werden. Wenn man die mediale Berichterstattung zu Aleppo überfliegt, so wird offenbar, dass ein wesentlicher Teil rein auf Emotionalisierung zielte. Als besonders geeignet hierfür erwiesen sich Geschichten mit Kindern. So machte im Dezember 2016 das Bild eines kleines Mädchens in den »sozialen Medien« die Runde, das in den Ruinen von Aleppo zwischen Leichen herumirrte. Das scheinbar aktuelle Foto war jedoch bereits 2014 im Libanon entstanden und stammt aus einem inszenierten Videoclip der libanesischen Sängerin Hiba Tawadschi über den »arabischen Frühling«.

Ein ähnlich lehrreiches Beispiel ist die Geschichte um das rührende Bild von Omran, dem »Jungen von Aleppo«. Es wurde im August 2016 geradezu zur Ikone der Schlacht um die Stadt. Es gab kaum eine Zeitung, die das Bild nicht veröffentlichte. Omran sei, so der Fotograf, durch einen syrischen oder russischen Luftangriff verletzt und von den »Weißhelmen« aus den Trümmern geborgen worden. Der Vater des Jungen, Mohammed Daknisch, bestritt die Geschichte allerdings umgehend: Sein Sohn sei nur leichtverletzt gewesen und dies keineswegs durch einen Luftangriff. Er beschuldigte die »Weißhelme« und die internationalen Medien, seinen Sohn für Propagandazwecke missbraucht zu haben. Über einen interessanten Aspekt dieser Geschichte wurde auch später kaum berichtet: Der Fotograf Mahmud Raslan hatte kurz vor diesem Foto ein »Selfie« gepostet, das ihn grinsend mit Angehörigen der berüchtigten Dschihadistenmiliz Harka Nur Al-Din Al-Senki zeigte. Raslan arbeitete im »Aleppo Media Center« (AMC), das zu den wichtigstes Informationsquellen der westlichen Medien zählte. Im Westen gilt es als »unabhängiges Netzwerk« sogenannter Bürgerjournalisten – es steht jedoch fest im Lager der Regimegegner und ist eng vernetzt mit den Dschihadisten. Gegründet wurde es mit Hilfe der »Syrian Expatriates Organisation« (SEO), die ihren Sitz in Washington hat und wohl auch erhebliche Summen von US-amerikanischen Regierungsstellen erhält.³

Die »Weißhelme«

Noch besser ausgestattet und wesentlich prominenter als das AMC ist die bereits genannte zweite Organisation, die bei der Inszenierung von Omran als Bombenopfer mitwirkte: die »Weißhelme«. Auch sie versorgten die Medien fleißig mit Berichten und Bildmaterial aus den Kampfgebieten. Entgegen ihrer Selbstdarstellung handelt es sich bei den »Weißhelmen« jedoch nicht um eine originär syrische Organisation. Sie wurde von einem ehemaligen britischen Offizier gegründet und hat ihren Hauptsitz in Großbritannien. Die Finanzmittel kamen zunächst aus den Golfstaaten, anschließend überwiegend aus Washington und London – jeweils mehr als 30 Millionen US-Dollar.⁴ Auch das Auswärtige Amt der BRD hatte Ende 2016 schon zwölf Millionen Euro überwiesen.⁵ Während eta­blierte Hilfsorganisationen mit sinkender staatlicher Unterstützung zu kämpfen haben, hat diese seltsame Zivilschutztruppe in den letzten vier Jahren insgesamt schon weit über 100 Millionen Euro erhalten.

Die »Weißhelme« helfen natürlich auch Verletzten. Nach eigenen Angaben haben sie bereits Zehntausenden das Leben gerettet. Bis Ende 2017 sollen es nach eigenen Angaben 99.200 gewesen sein. Überprüfbar ist diese Zahl nicht. Klar ist aber, dass sie nur in Gebieten aktiv sind, die unter Kontrolle regierungsfeindlicher Milizen stehen. Auch dort fühlen sie sich aber offenbar nicht für die gesamte Bevölkerung zuständig. Bassam Hajak, der Arzt, der im Ärzteverband von Aleppo für die Versorgung der Flüchtlinge verantwortlich war, die über die humanitären Korridore der syrischen Armee in den Westteil gelangten, berichtete, dass weder seine in Ostaleppo verbliebene Familie noch sonst jemand, mit dem er gesprochen habe, etwas von den »Weißhelmen« mitbekommen habe.⁶ Der schwedische Konfliktforscher Jan Oberg fand unmittelbar nach der Befreiung vor Ort ebenfalls keine Spur von ihnen. Sie kümmerten sich nicht um die Versorgung derer, die auch nach Ende der Kämpfe dringend auf Hilfe angewiesen waren. Statt dessen hatten sie sich zusammen mit den regierungsfeindlichen Kämpfern evakuieren lassen.⁷

Gut vertraut sind die geisterhaften Zivilschützer hingegen mit den dschihadistischen Gruppen vor Ort, mit denen sie auch personell eng verflochten sind. Auf zahlreichen Bildern und Videos sind sie mit Al-Nusra-Fahnen zu sehen, wie sie zusammen mit islamistischen Kämpfern Erfolge feiern oder über erschossenen Soldaten posieren.⁸ Zudem kann man einige ihrer Aktivisten, die in Videos beim Einsatz in ihren weißen Uniformen zu sehen sind, auf anderen Fotos auch als bewaffnete Kämpfer erkennen.⁹ All dies schadete jedoch ihrem Ansehen im Westen bisher wenig. So erhielten sie trotz allem den Alternativen Nobelpreis, und eine Kurzdoku über sie wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Im Dezember 2016 überreichte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihrem Chef Raed Al-Saleh den »Deutsch-französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit«.

Wenn man die gesicherten Erkenntnisse über das Kriegsgeschehen in Aleppo betrachtet, so war die Offensive auf den Ostteil der Stadt mit Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Straßenkämpfen für die verbliebene Bevölkerung selbstverständlich ein Horror, bei dem große Verwüstungen angerichtet und Tausende getötet wurden. Das trifft aber auch auf die pausenlosen Raketen- und Mörserangriffe der »Rebellen« auf den Westteil der Stadt zu. Nach Einschätzung der UNESCO waren nach Ende der vier Jahre andauernden Kämpfe 60 Prozent der Altstadt, durch die die Front verlief, schwer beschädigt und bis zu 30 Prozent völlig zerstört.¹⁰ Es ist jedoch bewusste Irreführung, wenn dafür ausschließlich die syrischen und russischen Streitkräfte verantwortlich gemacht werden. So wurde bei den vielen anklagenden Bildern über die Zerstörungen völlig verschwiegen, dass ein erheblicher Teil der Schäden bereits im Sommer 2012 beim Eindringen der islamistischen Milizen verursacht worden war. Teile der Altstadt waren damals bereits durch Feuer verwüstet und der berühmte Souk, das weltgrößte überdachte Marktviertel, von den Islamisten geplündert und gebrandschatzt worden.¹¹

Die meisten neueren Schäden waren den Beobachtungen Jan Obergs zufolge während der Straßenkämpfe entstanden. Er schätzt, dass – entgegen dem durch die Medien vermittelten Eindruck – höchstens zehn Prozent der Zerstörungen auf das Konto von Luftangriffen gingen.
Noch stärker zerstört wurde das irakische Mossul. Hier wurden beim Sturm der Stadt bis zu 80 Prozent zerstört.¹² Nach Einschätzung der UNO stellt das Ausmaß der Schäden jedenfalls alle bisherigen Kriegsschäden im Irak in den Schatten. Von den 54 Wohndistrikten Westmossuls wurden 15 völlig dem Erdboden gleichgemacht und dabei fast 32.000 Häuser komplett zerstört. In den 23 mittelschwer und 16 leicht beschädigten Distrikten kommen weitere 16.000 vollständig zerstörte Gebäude hinzu. Insgesamt wurden dadurch vermutlich Wohnungen für weit mehr als eine halbe Million Menschen zertrümmert.¹³

Kein Mitgefühl

Der größte Teil der Zerstörungen dürfte Berichten zufolge auf den Artilleriebeschuss durch die irakischen Truppen zurückzuführen sein. Ein weiterer geht auch hier – wie in Aleppo – auf das Konto der Dschihadisten. Ein erheblicher Teil der betroffenen Gebäude war aber, wie Aufnahmen zeigen, eindeutig durch Luftbombardements zerstört worden. Die US-geführte Allianz aus NATO-Staaten, Australien, Jordanien und Marokko hatte den Bodentruppen in den letzten Wochen den Weg Meter für Meter regelrecht freigebombt – ohne Rücksicht auf Hunderttausende Bewohner, die dort eingeschlossen waren. Insgesamt floh im Laufe des fast neun Monate dauernden Angriffs mehr als eine Million Menschen aus der Stadt. Die Zahl der Opfer ist nur schwer zu schätzen. Irakisch-kurdische Geheimdienste gehen von mindestens 40.000 toten Zivilisten aus. Einer Untersuchung der UN-Menschenrechtskommission zufolge wurde mindestens jeder vierte Zivilist, der bei den Kämpfen starb, durch Luftangriffe der US-geführten Koalition getötet.¹⁴

Betrachtet man die Berichterstattung zu Mossul, so fällt hier das völlige Fehlen von Mitgefühl für die Eingeschlossenen auf, deren Zahl meist recht niedrig angesetzt wurde. Aus Mossul kamen so gut wie keine Aufnahmen und Berichte über die Verwüstungen durch die Bombardierung, keine Leidensgeschichte Betroffener und keine Bilder von toten oder verwundeten Kindern. Die westlichen Medien zeigten hauptsächlich feiernde Soldaten und schiitische oder kurdische Milizionäre. Kaum Erwähnung fanden die Konflikte mit der sunnitischen Bevölkerung. Erst vor ihrem Hintergrund und der aus ihnen resultierenden Abneigung gegen die Schiiten und Kurden war es den Islamisten überhaupt möglich, sich in der Großstadt und anderen Gebieten festzusetzen. Absolut unkritisch wurde die Schlacht um Mossul als Kampf einer demokratisch gewählten Regierung gegen den IS dargestellt. Es war keine Rede davon, dass dieser Kampf von schiitischen Kräften, die die irakische Regierung dominieren und das Gros der Truppen stellten, durchaus als einer gegen die unbotmäßigen Sunniten geführt wurde. Weitgehend ignoriert wurden auch die im Windschatten der Rückeroberung durchgeführten Vertreibungen von Sunniten aus ethnisch und konfessionell gemischten Gebieten.

Realität auf den Kopf gestellt

Vergleicht man die Kämpfe um Aleppo und Mossul, so stellt man fest, dass bei der unterschiedlichen Beurteilung der Kriegführung die tatsächlichen Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt wurden. Auch wenn die syrischen und russischen Streitkräfte sicherlich nicht besonders zurückhaltend waren und selbstverständlich nicht alle Vorwürfe über Zerstörungen ziviler Einrichtungen Propaganda sind, gingen sie, wie das Ausmaß der Verwüstungen zeigt, im Vergleich zur US-geführten Allianz und ihren irakischen Bodentruppen deutlich rücksichtsvoller vor. Bei der Rückeroberung syrischer Städte bemühten sie sich, Entscheidungsschlachten in urbanen Zentren zu vermeiden. Kämpfern, die bereit waren, ihre Waffen abzugeben, boten sie Straffreiheit an. Denjenigen, die es nicht waren, wurde freies Geleit offeriert. Auch in Aleppo erlaubte Damaskus Tausenden Dschihadisten, unbehelligt mit ihren leichten Waffen und ihren Familien aus den umkämpften Stadtvierteln abzuziehen. Im Irak hingegen gab es keinerlei Anstrengungen, die verheerenden Endkämpfe durch Verhandlungen zu vermeiden.

In Aleppo kam es bei der Übernahme der Kon­trolle zu keinen größeren Racheaktionen von seiten der Regierungskräfte. Insgesamt wurden 85 Regierungsgegner ermordet – jedoch nicht von der Armee, sondern von Angehörigen zweier Milizen. Die Vorfälle wurden gerichtlich verfolgt. Im Irak hingegen folgten der Rückeroberung jeder Stadt Racheaktionen an der verbliebenen Bevölkerung. Die Täter waren dort in erster Linie die berüchtigten schiitischen Milizen. Vorwürfe von Einheimischen und Menschenrechtsorganisationen richten sich jedoch auch gegen reguläre irakische Einheiten und kurdische Kämpfer. In vielen konfessionell gemischten Gebieten nahmen Verschleppungen und Exekutionen von Sunniten oft den Charakter ethnischer Säuberungen an – und dies bei vollständiger Straflosigkeit.

Anmerkungen:
1 Thomas Pany: Aleppo: Das neue »Srebrenica«? Telepolis, 15.12.2016, kurzlink.de/Pany_Aleppo
2 Vgl. www.mict-international.org; Radio für Syrien – der Kasten, der in den Krieg sendet, Süddeutsche Zeitung, 21.10.2015
3 Tim Anderson: The Omran Deception, Telesur, 31.8.2016, kurzlink.de/Anderson_Omran
4 USAID: Supporting Syrians Who Are Struggling for a Future Syria Based on Democratic Governance and Respect for Human Rights, 12.6.2017, kurzlink.de/US-Aid_Syrien
5 Auswärtiges Amt: Factsheet – Hilfe für Syrien (Stand 2016), kurzlink.de/AA-Factsheet-Syrien
6 Vanessa Beeley: The Real Syria Civil Defence Exposes Fake »White Helmets« as Terrorist-Linked Imposters, 21st Century Wire, 23.9.2016, kurzlink.de/Beeley_Weisshelme
7 Jan Oberg: The Destruction of Eastern Aleppo, Syria, 25.12.2016, kurzlink.de/Oberg_Aleppo
8 Vgl. Marcello Ferrada de Noli: Should UN Consider White Helmets a Politically Neutral Organization, and Its Allegations as Credible Sources by UN Investigative Panels on Syria? The Indicter, 30.11.2017, kurzlink.de/Noli_Weisshelme; Vanessa Beeley: White Helmets: Hand in Hand with Al Qaeda and Extremist Child Beheaders in Aleppo, 21st Century Wire, 12.3.2017, kurzlink.de/Beeley_Weisshelme_2
9 Double Life of White Helmets: Volunteers by Day, Terrorists by Night (Photos), South Front, 29.09.2016, kurzlink.de/Doppelleben
10 UNESCO: 30 Percent of Aleppo's Ancient City Destroyed, AP, 20.1.2017
11 Souk Burns as Aleppo Fight Rages, The Irish Times, 29.9.2012; Historische Stadt in Gefahr, Süddeutsche Zeitung, 1.10.2012
12 Samuel Oakford: Mosul’s Capture Sees ISIS Vanquished – But at a Terrible Cost, Airwars, 1.7.2017, kurzlink.de/Oakford_Mossul
13 Iraq Faces Vast Challenges in Securing, Rebuilding Mosul, AFP, 3.8.2017
14 Vgl. hierzu auch Joachim Guilliard: Befreiung um jeden Preis – der Irak nach der verheerenden Schlacht um Mossul, Ossietzky 15/2017; ders.: Mossul in Ruinen – Konflikte verschärft, Ossietzky 18/2017

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