Syrien - Ignorierte Stimme: Jean-Clément Jeanbart, Erzbischof von Aleppo

Am 4.2.2012 veröffentlichte die Schweizer „katholische internationale Presseagentur“ (Kipa/Apic) ein Interview mit dem Erzbischof von Aleppo, Jean-Clément Jeanbart, in dem er vor den katastrophalen Folgen warnt, die ein gewaltsamer Umsturz in Syrien hätte und den westlichen Medien vorwirft, mit einer verzerrten, irreführenden Berichterstattung Öl ins Feuer zu gießen.
 
Nun muss man einem Kirchenvertreter nicht von vorneherein einen besonderen Glaubwürdigkeitsbonus geben. Das 1943 in Aleppo geborene Oberhaupt der in Syrien recht verbreiteten „Melkitischen Griechisch-Katholischen Kirche“ spricht aber auf jeden Fall für wesentlich mehr Leute, als die im Westen mit Vorliebe zitierten syrischen Oppositionellen. Doch obwohl Kipa und katholische Medien eine deutsche Zusammenfassung verbreiteten, findet man in den übrigen deutschen Medien nichts über die Ausführungen des Bischofs – und dies obwohl viele durch zahlreiche Leser-Zuschriften und -Kommentaren unmittelbar darauf hingewiesen wurden (z.B. zu Tagesschau-Berichten, zu Artikeln auf Spiegel Online, dem Standard oder dem Portal der ZEIT). Auch frühere Äußerungen such man hierzulande vergebens. In französischen Medien hingegen kam er durchaus einige Male zu Wort (s.u.).

Ausführlich wird das jüngste Interview des seit 1995 amtierenden Erzbischofs der zweitgrößten Stadt Syriens nur auf dem französischen Teil der Homepage der Agentur wiedergegeben (Syrie: Mgr Jeanbart craint pour l’avenir de la présence chrétienne si la violence continue). Da die deutsche Zusammenfassung (Erzbischof Jeanbart warnt vor "islamistischem Regime" in Syrien) nur wenige Teile enthält, hier das Wesentliche daraus:

„Die internationalen Medien stellen die syrische Wirklichkeit nicht ehrlich dar, sie werfen Öl ins Feuer ...“ wetterte Monsignore Jean-Clément Jeanbart gleich zu Beginn. Die syrischen Christen (rund 10% der Bevölkerung) würden mittlerweile in Angst und Schrecken leben. Im Falle einen Umsturzes sei die Zukunft der Minderheiten in Syrien generell in Gefahr, so Jeanbart, da die Regierung dann in die Hände der Islamisten fallen würde.

In Homs seien bereits Dutzende Christen durch Aufständische ermordet worden, was zu ihrer Abwanderung aus einigen Vierteln führte. "Mittlerweile werden Leute von Gangstern am hellen Tag getötet oder gekidnappt, um hohe Lösegelder zu fordern. „Früher gab es noch Sicherheit; jetzt verlassen die Christen, die es sich leisten können, das Land,“ erklärte er gegenüber Apic, wobei er betonte, dass die Lage in Aleppo zur Zeit ruhig sei.

Allein ein aufrichtiger Dialog könne das Land aus der Katastrophe retten, so Jeanbart weiter, aber die von den amtierenden Machthabern angekündigten Reformen lassen auf sich warten und die Opposition weigert sich, zu verhandeln. Der Metropolit von Aleppo ist auch sehr wütend über die internationalen Medien, die seiner Meinung nach in ihrer überwiegenden Mehrheit gegen die syrische Regierung sind und sehr oft falsche Nachrichten über die Realität seines Landes verbreiten.

Ein Beispiel, das er dafür anführt, sind die Spekulationen über den Tod des französischen Reporters Gilles Jacquier, der am 11. Januar in Homs von einer Granate getroffen wurde. Dabei sei dieser, wie auch die franz. Tageszeitung "Le Figaro" berichtete, ganz offensichtlich von Aufständischen getötet worden. "Sie haben auf eine Pro-Assad-Demonstration gezielt. Die Herkunft und die Richtung der Schüsse sind eindeutig."

Die Medien „reden nicht über die Unterwanderungen in Syrien durch Extremisten und durch Söldner, die aus der Türkei, aus dem Irak, aus Jordanien, aus Libyen, aus Pakistan und aus dem Kreis alter Afghanistankämpfer kommen. ... Wir sehen, wie von außen der Westen erbittert gegen unseren Präsidenten kämpft und im Innern bewaffnete islamistische Gruppen, die in gewisse Zonen des Landes kommen und Tod und Entsetzen säen. Leider sind schon mehrere Tausend unschuldige Zivilisten sowie Militärs – mindestens 2000 Soldaten, Polizisten und einfache Zivilisten – Opfer des Hasses und der Feindseligkeit dieser Gruppen geworden. Oft wurden sie brutal gefoltert, verstümmelt und getötet“.

Er ist wahr, räumt der Bischof ein, dass die große Mehrheit der Syrer und voran die Christen, grundlegende, tiefe Reformen und Veränderungen in der Regierung des Landes fordern „an erster Stelle, den Wegfall der Diktatur der Einheitspartei und eine auf wahrer Freiheit errichtete Demokratie, die die unveräußerlichen Rechte aller respektiert.“ „Aber es ist genauso wahr, dass sehr wenige Syrer eine plötzliche Veränderung wünschen, die das Land in ein Blutbad, in ein katastrophales Vakuum und eine große Verzweiflung zu stürzen droht."

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Syrien: Erzbischof Jeanbart tritt für einen allmählichen demokratischen Übergang ein
Der brutale Fall der laizistischen Regierung würde für die Christen eine Katastrophe sein

Mgr Jeanbart plaide pour une transition démocratique progressive, Agence Apic, Fribourg/Alep, 10.11.2011

Ähnlich hatte sich Bischof Jeanbart auch schon in einem früheren, längeren Interview mit der katholischen Presseagentur“ Kipa/Apic geäußert. Auch damals warnte er schon, dass ein gewaltsamer Sturz der laizistischen Regierung Syriens eine massive Auswanderung der etwa 1, 7 Million Christen zur Folge haben würde, nachdem sie seit einem halben Jahrhundert sehr gut mit der moslemischen Mehrheit des Landes zusammengelebt hätten. Die Christen würden befürchten, dass dann eine fundamentalistische islamische Regierung die Macht ergreifen und die Scharia einführen würde.

Vor Ort „sei die Situation ganz anders, als das, was man bei Ihnen im Fernsehen sieht,“ berichtete er der Agentur während der Durchreise durch die Schweiz. Als er zehn Tage zuvor von Aleppo nach Beirut gefahren sei, habe er auf den 400 km Fahrt, die über syrisches Territorium ging, weder Soldaten noch Sperren auf den Straßen gesehen. Alles war ruhig und die Autos fuhren normal. Natürlich sei er dabei nicht durch Homs gefahren.

Er selbst habe keine Kämpfe gesehen, aber einige seiner Priestern wurden Zeugen wie nicht identifizierte bewaffnete Gruppen Blutbäder anrichteten, um die Bevölkerung zu terrorisieren, wie z.B. in Dschisr asch-Schughur. Wenn die UNO von 3500 Toten spreche, so das durchaus möglich. Gewalt gebe es aber auf beiden Seiten. In diesen Zahlen seien auch zahlreiche Mitglieder der Sicherheitskräfte enthalten, denn die Aufständischen schießen ohne zu zögern auf die Ordnungskräfte. Die Armee wiederum benutze Unterschied zu ihrem Vorgehen im Februar 1982 in Hama gegen die Muslimbruderschaft als es 20.000 Tote gab, diesmal keine schweren Waffen gegen die Aufständischen.

Die Kreise, die das Regime destabilisieren wollen, seien in der Minderheit, so der Bischof. Sie würden vom Ausland unterstützt, vor allem von gewissen Golfstaaten und sunnitischen Fundamentalisten, wie z.B. eine Al Qaeda nahestehende, salafistische Gruppe aus dem Libanon.

Die Fernsehsender der Region, wie Al-Dschasira oder al-Arabyia, haben für die Opposition, die die Regierung stürzen wollen, Partei ergriffen: sie geben Scheichs, die zur Gewalt aufrufen, das Wort, aus eine Demonstration von Hunderten von Oppositionellen machen sie Tausende." Als die Mehrheit, die Baschar al-Assad stützt, zu Millionen durch die Straßen Aleppos, Damaskus, Latakias oder anderer Städte zogen, sprachen sie in den Fernsehsender vom Golf von nicht mehr als nur einigen Tausenden", beklagte sich Jeanbart.
"Ich wage zu behaupten, dass der Präsident Baschar al-Assad die Unterstützung einer großen Mehrheit genießt, und falls man ein Referendum abhalten würde, so würden nicht weniger als 75% der Bevölkerung für ihn stimmen.“

Unter dem Vorwand der "Demokratisierung" werde eine Situation vorbereitet, die viel schlimmer sein wird als das aktuelle Regime, da dessen Zusammenbruch ein Vakuum schaffen werde, das sofort von den fundamentalistischen Bewegungen, die gut organisiert sind, ausgenützt würde.

Er sei davon überzeugt, dass das von der Baath-Partei eingeführte Regime sich ändern müsse, dass die Reformen, die Präsident Baschar al-Assad angekündigt hat, beschleunigt werden müssten, man das Einparteiensystem beseitigen müsse, das nur Korruption und Autoritarismus begünstige. Der Ausnahmezustand sei nun aufgehoben, die Freiheit der Presse eingeführt und die Bildung von politischen Parteien erlaubt. Das brauche viel Zeit, um Gestalt anzunehmen, aber es sei der einzige Weg, der schrittweise zur Demokratie führe und gleichzeitig das friedliche Miteinander und den Laizismus erhalten könne, der die syrische Gesellschaft positiv von seinen Nachbarn unterscheide.

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Französische Medien haben Erzbischof Jean-Clément Jeanbart in den letzten Monaten schon mehrfach befragt.
So am 11.1.2012 im Le Figaro, Mgr Jeanbart: «Il faut donner sa chance à Assad» (dt. Zusammenfassung bei Unzensuriert: Erzbischof">http://www.unzensuriert.at/content/006845-Erzbischof-Jeanbart-von-Aleppo-Assad-noch-eine-Chance-geben">Erzbischof Jeanbart von Aleppo: „Assad noch eine Chance geben“)

Am 13. Januar führte France24 ein Interview mit ihm auf Englisch in dem er sich ebenfalls für Reformen, aber gegen einen Umsturz aussprach und betonte, dass der Konflikt auf wenige Orte beschränkt sei, und man in Aleppo und Damaskus wenig spüre. 90% des Landes seien ziemlich ruhig meinte er. Er und seine Gemeinde sei keineswegs für das Regime. Reformen seien nötig, aber sie wollen das bisherige säkulare System erhalten. Ein gewaltsamer Umsturz würde jedoch zum Bürgerkrieg führen. Es wären aktuell sicherlich 70% der Bevölkerung gegen einen Sturz Assads, nicht nur Christen und Allawiten sondern auch Sunniten und viele Clans und Stämme. Er glaubt an Reformen, diese bräuchten aber – angesichts 50 Jahren Baath-Herrschaft – Zeit. Er sei zwar in Opposition zum Regime, glaube aber an Assad, der seiner Meinung nach eine gute, eine ehrliche Person ist.
Lynx (Gast) - 24. Feb, 17:28

Warum diese unbegründete Angst vor der islamischen „Schari´a“?

Nachdem im 7. Jahrhundert die muslimischen Araber Syrien erobert hatten, gewährten sie der dortigen, damals noch mehrheitlichen, christlichen Bevölkerung als „Schutzbefohlene“ Religionsfreiheit, wie es die islamische Schari´a fordert. Im Rahmen dieses Schutzauftrages begab sich bspw. im 13. Jh. der bekannte islamische Religionsgelehrte Ibn Taimiyya unter Gefährdung seines eigenen Lebens zum Mongolenherrscher, um die Freilassung der verschleppten christlichen Schutzbefohlenen zu erwirken, nachdem die Mongolen in Syrien einen Raubzug unternommen hatten. Mit der teilweisen Abschaffung der islamischen Schari´a und der Gleichstellung der Christen als „Staatsbürger“ gegen Ende des Osmanischen Reiches wurden auch sie der Wehrpflicht unterstellt. Jahrhundertelang hatten sie unter der „Schari´a“ Religionsfreiheit und ein eigenes ziviles Rechts- und Unterrichtswesen gehabt, aber jetzt, nachdem sie von der Idee des Säkularismus besessen sind, haben sie Angst vor der „Schari´a“, weil sie dann als Christen in einem islamischen Staat wieder ihre eigenen religiösen Vorschriften einhalten müßten, was ihnen anscheinend zuwider ist – wie den „Kulturchristen“ in den westlichen Ländern.

JGuilliard - 24. Feb, 20:16

Weil es einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeuten würde

Es geht nicht um eine allgemeine Angst vor der Scharia und noch weniger um Abneigung gegen die islamische Kultur. Aber was im 7. oder im 13. Jahrhundert fortschrittlich war, muß es heute längst nicht mehr sein. Wenn in einem Land die Trennung von Staat und Religion schon durchgesetzt ist, wäre ein Islamisierung und die Wiedereinführung strikten islamischen Rechtes natürlich ein eindeutiger gesellschaftlicher Rückschritt.
Nicht nur für die anderen Religionen, sondern natürlich auch die großen Teile der Bevölkerung, für die die Religion keine größere Rolle mehr spielt und/oder die wollen, dass sich die Politik und die gesellschaftlichen Regeln an zeitgemäßeren Richtlinien orientieren, als an Schriften und Gesetzen aus der Zeit des Feudalismus.
In Syrien kommt noch dazu, dass die Opposition von sehr radikalen, intoleranten, islamistischen Kräften dominiert wird die bereits jetzt Angehörige andere Religonen und Konfessionen angreifen. Die Angst davor dass diese militanten Islamisten mit Hilfe der alten Kolonialmächte und der arabischen Feudalherrscher die Macht an sich reißen können ist daher sehr berechtigt.
Der Bürgerkrieg droht daher wie einst im Libanon und vor kurzem im Irak auch entlang religiöser Konfliktlinien zu eskalieren.

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