Opferzahlen im Irak erneut heruntergespielt

Leserbrief zu Zu: Geplante Massaker – Studie konstatiert fast 100000 zivile Todesopfer im Irak-Krieg, Junge Welt, 17.04.2009
(ähnlich: Study highlights Iraqi militia role, Aljazeera, 18.4.2009)
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Die junge Welt hatte in dem Artikel über die Ergebnisse einer Studie berichtet, die am 16.4.2009 im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden war. Diese Studie beruht auf Zahlen des „Iraq Body Count“ (IBC)
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Man darf die Ergebnisse einer solchen Studie nicht ohne Kommentierung veröffentlichen. Die Zahlen sind völlig irreführend. Wie die junge Welt selbst oft berichtet hat, beträgt die Zahl der Opfer im Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit längst über eine Million. (s. z.B die Schätzungen von Justforeing Policy sowie "Debatte um Opferzahlen")
Es ist richtig, dass der „Iraq Body Count“ (IBC) insoweit verdienstvoll ist, dass er durch die Registrierung von Ermordeten vielen der ansonsten anonym bleibenden Opfern einen Namen gibt. Auf der anderen Seite ist der IBC aber auch ein Projekt, das maßgeblich dazu beiträgt, die Zahl der Opfer von Krieg und Besatzung kleinzureden.

Das beginnt damit, dass die Betreiber nicht die Beschränktheit ihrer Art der Erfassung deutlich machen, sondern ihrem Projekt den Anschein höchster wissenschaftlicher Genauigkeit geben. (Z.B. heißt es im Artikel, es handele sich um „nach mehrmaliger Gegenkontrolle zusammengestelltes Material“). Tatsächlich kann erfahrungsgemäß aber durch die von IBC durchgeführte Auswertung von Medienberichten und Leichenschauhäusern in Kriegsgebieten wie Irak, nur ein Bruchteil der tatsächlichen Gewaltopfer erfasst werden. Im Bürgerkrieg in Guatemala z.B., so das Ergebnis nachträglicher Untersuchungen, waren es gerade mal 5%. Daher lassen sich die tatsächliche Opferzahlen nur durch repräsentative Umfragen vor Ort einigermaßen realistisch abschätzen.

Beim IBC kommt noch erschwerend die gewählte Beschränkung auf „zivile Gewaltopfer“ hinzu. Wie wollen die IBC-Leute denn feststellen, ob ein Getöteter tatsächlich ein Kombattant war, wie von der US-Armee – die Hauptquelle westlicher Agenturen – in der Regel behauptet wird. Und warum sollen bewaffnete Iraker keine Opfer des Krieges sein: die meisten hätten doch, wie z.B. der von Jürgen Todenhöfer vorgestellte Student Zaid, ohne Besatzung nie zu einer Waffe gegriffen. Und warum sollen z.B. Schwerkranke, die es aufgrund von Bombenangriffen nicht mehr ins Krankenhaus schaffen, keine „Gewaltopfer“ sein.

Die Fälle, die erfaßt werden, sind auch keinesfalls repräsentativ. Opfer terroristischer Anschläge, sektiererischer Morde etc. werden in der Regel von den Medien, Kranken- und Leichenschauhäuser gut erfaßt. Völlig unter gehen jedoch meist all die, die nach Luftangriffen unter ihren zerbombten Häusern begraben wurden oder die aufgrund anhaltender Angriffe an Ort und Stelle beerdigt werden mußten.
So wurde beispielsweise im Juli 2006 kein einziger gewaltsamer Todesfall aus der Provinz al-Anbar registriert, obwohl in dieser Hochburg des sunnitischen Widerstands damals fast täglich US-amerikanische Angriffe auf die Städte am Euphrat stattfanden.

Wer sich einen Eindruck vom Ausmaß der Lücken in der ICB-Datenbank verschaffen will, muss nur stichprobenartig bei ein paar Tagen, bei denen über Opfer nach Luftangriffen berichtet wurde, nachschauen. Solange die US-Armee sie nicht selbst bestätigte, tauchen sie auch dann nicht auf, wenn Recherchen westlicher Medien zivile Opfer bestätigen.*)

Aufgrund des selektiven Charakters der erfassten Opfer, sagen die neuen Statistiken über Todesursachen und Waffen auch nicht viel aus. Z.B. werden unter der Rubrik „Luftangriffe“ gerade mal knapp 3000 Opfer gezählt. Das ist lächerlich. Soviel starben vermutlich allein bei der Bombardierung von Sadr City vor einem Jahr. Nach der Lancet-Studie von 2006 wurde ein Siebtel aller Opfer durch Luftangriffe getötet, Tendenz steigend.

Die NEJM-Studie jedoch erweckt den Eindruck, als wäre das Gros der Ermordeten innerirakischen Gewalttaten zum Opfer gefallen. Wenn man sich die Autoren anschaut, so verwundert dieses Ergebnis nicht. Madelyn Hsiao-Rei Hicks, Michael Spagat und die IBC-Gründer John A. Sloboda und Hamit Dardagan zählen zu den engagiertesten Gegnern der Lancet-Studien. Die Hartnäckigkeit, mit der diese alle Studien bekämpfen, die auf deutlich höhere Opferzahlen kamen, wie der IBC, grenzt schon an Verleugnung - "genocide denial", wie einige ihriger Kritiker es bereits nennen.

Beste Grüße,
Joachim

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Ein solches Beispiel ist die Geschichte der kleinen Alaa’ Khalid, die von der US-amerikanische Hilfsorganisation „No More Victims“ , medizinisch versorgt wurde. Alaa’ war schwer verletzt worden, als am 3. Mai 2005 ein US-Panzer das Haus ihrer Familie in al-Qaim (eine Stadt an der Grenze zu Syrien) zusammenschoss. Vierzehn Frauen und Kinder wurden bei diesem Angriff am Nachmittag getötet oder verletzt, die Männer waren noch bei der Arbeit. Unter den Toten waren zwei Brüder und drei Cousins Alaas. In der ICB-Datenbank taucht dieses Verbrechen nicht auf.

Am 24.12.2005 brachte die Washington Post einen ausführlichen Bericht über mögliche zivilen Opfer einer Militäroffensive die im Vormonat westlich von Bagdad den Euphrat hinaufführte. Neben „Aufständischen“ seien dabei auch zahlreiche Zivilisten getötet worden wären, vorwiegend durch Luftangriffe. Wie viele Zivilisten unter den Getöteten sind, sei umstritten, aber Krankenhäuser, medizinisches Personal und Augenzeugen würden bezeugen, dass „Massen von Nichtkombattanten“ Opfer der 17-tägigen Operation “Steel Curtain” wurden. (Nach Angaben der US-Armee wurden dabei 139 “Aufständische” und zehn US-Marines getötet.)

Am 7. November, dem 3. Tag der Offensive, sahen Augenzeugen laut Washington Post, wie US-Kampflugzeuge eine Reihe von Häusern im Stadteil Kamaliyat von Husaybah zerstörten. Am Ende konnte zumindest eine Familie – die Eltern und drei Kinder im Alter von 5, 11 und 14 Jahren – nur noch tot aus den Ruinen geborgen werden. In der IBC-Datenbank ist der Vorfall nicht verzeichnet.

Die Reporter der Washington Post besichtigten auch einem Friedhof in der Nähe von al-Qaim, auf dem nach Angaben irakischer Beamter 80 bis 90 Opfer der Offensive begraben worden seien. In der Tat registrierten die Journalisten Dutzende frische Gräber. Über vierzig Opfer der Kämpfe mußten an dem Tag noch begraben werden. Elf Leichen, die in ihren Särgen lagen, darunter zwei Frauen konnten die Journalisten sehen. Der Sohn einer der Frauen sagte aus, sie sei durch Luftangriffe getötet worden. Obwohl die Washington Post ansich den Ansprüchen des IBC an seine Quellen genügen müsste, finden sich für den November keine Informationen über Opfer in al-Qaim in der Datembank.

Nach Angaben von Stammesführern gab es auch im nahegelegenen Husaybah mindestens 80 Tote, darunter Frauen und Kinder. Eine genaue Anzahl anzugeben sei unmöglich, so einer der Führer der Stadt, da die „Leute Leichen in Hinterhöfen und auf Parkplätzen begraben hätten und immer noch weitere Leichen unter den Ruinen liegen“. Auch über Husaybah findet sich nichts in der Datenbank. Es sind schlicht überhaupt keine Opfer von Luftangriffen im November 2005 verzeichnet!

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