Irak-Wahlen 2010 - Foulspiele und was möglicherweise hinten rauskommt

Auch nach über zwei Wochen sind noch nicht alle Stimmen ausgezählt. Dies und die vielen Berichte über Manipulationen haben das Vertrauen in einen sauber Urnengang ziemlich minimiert.

Am Ende wird jedoch - zumindest in Europa und den USA - alles bald wieder vergessen sein, wie 2005 oder wie jüngst bei den "Präsidentenwahlen" in Afghanistan. Egal wie wenig demokratisch die Wahl und wie unglaubwürdig das am Ende verkündete Ergebnis ist, wird die Farce international anerkannt und somit für die Iraker zu einem harten Fakt werden. Es lohnt sich also, die möglichen Ergebnisse mal anzusehen.
 
Zahlreiche Hinweise auf Wahlbetrug

Schon bald nach den Wahlen häuften sich die Vorwürfe von Wahlmanipulationen. Nicht nur die oppositionellen Organisationen, auch drei angesehene, irakische NGOs, die in etwa vier Fünfteln der Wahllokale als unabhängige Beobachter präsent waren, erhoben schwere Vorwürfe. Demnach haben Soldaten und Polizisten in mehreren Provinzen eine geheime Stimmabgabe verhindert, Wähler aufgefordert, bestimmte Listen anzukreuzen, offiziellen Wahlbeobachter den Zutritt verweigert und einige sogar festgenommen. (siehe u.A. Spiegel online v. 15.3.2010, )
Hinzu kommen Berichte vom Fund gefüllter Urnen in Müllcontainern sowie Gerüchte über vorbefüllte Urnen und Übermittlung gefälschter Zählergebnisse. Mit der langen Dauer der Auszählung wächst bei vielen Irakern der Verdacht schwerwiegender Manipulationen immer mehr.
Da weder die USA noch die EU den einschlägigen NGOs dafür Gelder zur Verfügung stellen wollten, waren nur wenige internationale Walbeobachter im Land.

Nach mehrfacher Verschiebung wurde die Bekanntgabe eines vorläufigen Endergebnisses für Freitag den 26.3. angekündigt.

Obwohl es diesmal keinen umfassenden Wahlboykott von Sunniten und säkularen Besatzungsgegnern gab, liegt die von der irakischen Wahlkommission IHEC veröffentlichte Wahlbeteiligung von 62 Prozent unter der, die sie für die letzte Parlamentswahl angab. Im Dezember 2005 waren offiziell 79,6 %verkündet worden. (Diese Zahl war aber mit Sicherheit stark geschönt: Da nur ein sehr kleiner Teil der Sunniten, die rund 20% der Bevölkerung ausmachen, damals wählen ging, müsste der Rest fast zu hundert Prozent an die Urnen gestürmt sein.)

Die veröffentlichten Teilergebnisse der Stimmauszählung zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Malikis „Rechtsstaatskoalition“ und der säkularen, oppositionellen „Irakischen Nationalen Bewegung“ (Al-Irakia), die Allianz der Partei von Exinterimspremier Ijad Allawi, der „Irakischen Nationale Front“ von Salih al-Mutlaq und weiteren säkularen, schiitischen und sunnitischen Gruppen und Prominenten. Diese Liste ist am stärksten vom Ausschluss oppositioneller Kandidaten von den Wahlen betroffen. Offenbar mobilisierte dies viele Iraker, die sich nach einem Ende der völkisch-religiösen Politik sehnen, sie erst recht zu wählen.
Dies, obwohl Allawis Übergangsregierung (Juni 2004 bis April 2005) sicherlich nicht weniger korrupt war, wie die jetzige. Auch dass er damals wohl auch mal eigenhändig Verdächtige auf Polizeiwachen erschossen hat, hat man ihm anscheinend verziehen. (s. Ayad Allawi, once seen as a U.S. puppet, returns to the center of Iraqi politics, WaPo, 26.3.2010)

Im Moment, nachdem 95% der Urnen ausgezählt sind, liegt Al-Irakia laut IHEC sogar knapp mit 11.000 Stimmen in Führung. (siehe Reuters, 22.3.2010 und ausführlicher die New York Times)

Allerdings ist für die Sitzverteilung nicht die landesweite Zahl der Stimmen ausschlaggebend, sondern wieviele Sitze in den einzelnen Provinzen gewonnen werden. Das Wahlsystem begünstigt dadurch sehr stark die großen Listen. Sind z.B. in einer Provinz 14 Sitze zu vergeben, so benötigt eine Liste hier mindestens, 1/14, d.h. 7,1% der Stimmen. Chancen auf Mandate haben daher nur 6-7 der knapp 180 Gruppen und Allianzen die zur Wahl antraten.

Die Berechnung der Sitzverteilung ist knifflig, daher divergieren die div. Hochrechnungen für die Sitzverteilungen noch erheblich. Recht zuverlässig erscheint die Kalkulation des norwegischen Irak-Experten Reidar Visser. Eine Übersicht über die versch. Schätzungen findet man beim Irak-Blogger Joel Wing.
So wie es aussieht, können beide Listen jeweils mit gut 90 der 325 Sitze rechnen (Das alte Parlament hat nur 275).

Klarer Verlierer ist der Oberste Islamische Rat (ISCI), die zweite schiitische Regierungspartei. Der ISCI war zusammen mit der Bewegung des prominenten Geistlichen Muqtada Al-Sadr in einem rein schiitischen Wahlbündnis angetreten, zu der u.a. auch der berüchtigte Ahmed Chalabi gehört. (s. Wahlbündnisse) Ihre „Irakisch-Nationale Allianz“ (INA) liegt nach den bisherigen Infos zwar auf dem dritten Rang, die meisten Stimmen auf den neu eingeführten offenen Wahllisten, auf denen man einzelne Kandidaten ankreuzen konnte, erhielten aber die Kandidaten Al-Sadrs, die mit gut 40 Sitzen, d.h. über zehn Prozent der Parlamentssitze rechnen können. (s. auch Reidar Visser, The Internal Dynamics of the Iraqi National Alliance: The Sadrist Factor, 17.3.2010) INA insgesamt wird vermutlich knapp 70 Sitze ergattern.

Wie zu erwarten, haben auch die kurdischen Regierungsparteien, die zuvor massiv vom Boykott der Sunniten profitiert hatten, in den gemischten Provinzen stark an Stimmanteilen verloren. Sie werden nur noch rund 40 Sitze bekommen. Ca. 8 werden an die oppositionelle kurdische Liste Goran (Wandel) gehen.

Zählt man nur die Sitze, der von den Regierungsparteien geführten Listen zusammen, so hält sich deren Verlust in Grenzen. Mit rund 200 der 325 Sitzen wäre das rein rechnerisch eine ausreichende parlamentarische Mehrheit. Die Rechnung wäre somit aufgegangen, dass die schiitische INA-Liste die religiös-konservativen Wähler einfängt und Malikis Liste – durch die Aufnahme unabbhäniger Persönlichkeiten und Stammesführer säkular u. nationalistisch eingefärbt – den Teil der früheren, schiitischen Wähler, die die Nase voll von sektiererischen, turbantragenden Politikern haben.

Darüber hinaus hat Maliki aber keinen Blumentopf gewinnen können. In den überwiegend sunnitischen Provinzen konnte seine Liste keinen einzigen Sitz erringen. Al-Iraqia dagegen kann aber auch im Süden, wo sich ansonsten Maliki und INA die Sitze teilen, mit einer nennenswerten Zahl von Mandaten rechnen. In Basra stimmten z.B. ca. 10% und in Babil fast 20% für die säkulare Liste. (Joel Wing, Who’s Ahead In Iraq’s Election?, Musings on Iraq, 17.3.2010)

Wichtig ist auch noch, wie viele der Sitze, die Malikis Liste bekommt, tatsächlich seiner Partei Al-Dawa zukommen. Falls eine größere Zahl an die unabhängigen und nationalistischen Bündnispartner gingen, so wären seine Aussichten schlechter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn diese Partner mögen den islamistischen und pro-iranischen Kurs von INA so wenig, wie die territorialen Ansprüche der Kurdenpartien.

Sehr fraglich ist auch, ob Al-Sadr und seine Leute eine zweite Amtszeit Malikis akzeptieren würden. Bisher haben sie dies ausgeschlossen und auch schon scher verdauliche Forderungen für eine Regierungsbeteiligung gestellt, darunter Druck auf Washington, den Abzug der US-Truppen zu beschleunigen und keine Zugeständnisse an die Kurden. Ohne solche Zugeständnisse bekommt Maliki oder ein anderer Kandidat aus dem schiitischen Lager diese aber nicht ins Boot.

Allawis Probleme eine Mehrheit zu finden sind noch größer. Die Parteien von INA scheiden praktisch aus. Inhaltlich gibt es zwar recht große Übereinstimmungen zwischen der Sadr-Bewegung und den Kräften von Al-Iraqia, sie haben auch schon oft gemeinsam Front gegen die Maliki-Regierung gemacht, aber die Abneigung zwischen Al-Sadr und den sunnitischen Nationalisten, von ersteren als "Baathisten" auch mit Gewalt bekämpft, dürfte zu groß für eine Bündnis sein. Ein Deal mit den Kurdenparteien dürfte gleichfalls schwer sein, solange die nationalistischen Parteien in seiner Allianz sind. (Über die Stimmverteilung innerhalb der Iraqia-Liste ist allerdings nichts bekannt, möglicherweise kam der Ausschluss der vielen Kandidaten Allawis Partei zu Gute.)

Vermutlich werden die Wahlbündnisse auseinanderbröseln und einzelne Bruchstücke – mit entsprechenden Nachdruck aus den USA – in einer von Maliki geführten Koalition landen.

Alle werden jedoch ihren Preis fordern, wodurch Maliki deutlich geschwächt dastehen würde.

Sollte am Ende aber tatsächlich Al-Irakia die meisten Sitze zugesprochen werden, wäre erst mal Allawi am Zuge, der im Grunde genommen auch eine Option für Washington wäre und stark von den arabischen Nachbarstaaten protegiert wird.

Und auch wenn dieser keine Mehrheit zusammen bekommen würde, so wäre in diesem Fall die Aussicht, dass Maliki Kandidat der Rechtsstaats-Liste bleibt gering. Viel wahrscheinlicher wäre dann ein Kompromiss-Kandidat, der für Al-Sadr und Andere akzeptabler ist. Al-Sadr hat bereits seinen Vetter Muhammad Baqir al-Sadr vorgeschlagen, die Nummer zwei hinter Maliki auf der Rechtsstaatsliste.

Kein Wunder also, dass Maliki sehr nervös wurde und nun plötzlich selbst Neuauszählungen fordert. Am Wahltag hatte er noch staatsmännisch seine Landsleute aufgefordert, das Wahlergebnis zu akzeptieren, unabhängig davon, wer den Sieg davontrage. Solange er in Führung lag, hatte er auch noch getönt, die bereits bekannt gewordenen Manipulationen hätten keinen Einfluss auf das Ergebnis.
Bis zum Stand als 65 Prozent der Stimmen ausgezählt waren, sei die Auszählung sauber abgelaufen, "seitdem springen die Zahlen ohne jede Logik" erläuterte ein Mitarbeiter Malikis den Sinneswandel.

Die Wahlkommission müsse der Forderung nach einer kompletten Neuauszählung nun "sofort nachkommen", hieß es barsch in einer Stellungnahme Malikis. Damit klar ist, aus welcher Richtung der Wind weht, vermerkte er darin zudem, dass er auch Chef der irakischen Streitkräfte sei.

Unterstützung erhält Maliki vom kurdischen Präsidenten Dschalal Talabani, dessen Aktien für eine Wiederwahl ebenfalls mit einem Sieg Allawis mächtig fallen würden.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn ausgerechnet die Regierenden, die den Wahlprozess kontrollieren, das Personal dafür einstellten, Polizei und Armee an die Urnen stellten etc. nun am lautesten Faul schreien.

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