Irak - der endlose Krieg: „Islamischer Staat“, irakischer Aufstand und das Erbe der Besatzung (Teil 2)

Mit der Fokussierung auf den „Islamischen Staat“ wird ein genuiner Aufstand gegen das von der Besatzung geschaffene Regime ausgeblendet und Vorwände für ein erneutes direktes militärisches Eingreifen im Irak geschaffen.


Der folgende Text ist Teil II der ungekürzten Rohversion eines zweiteiligen Artikels, der in der jungen Welt vom
16.12. und 17.12.2014 erschien. Die Rohfassung des ersten Teils ist aufgeteilt in Teil 1a und Teil 1b. Als Druckversion gibt es auch den gesamten Beitrag als PDF-Dokument.

Jenseits von ISIL ‒ Gräueltaten regierungsnaher Milizen

Der Großteil der Aufmerksamkeit der Welt richte sich auf den Islamischen Staat, so Erin Evers, die Irak-Beauftragte von Human Rights Watch, Ende September, „doch dessen aufsehenerregenden Tötungen und Entführungen sind nur ein Teil der Geschichte von abscheulichen Misshandlungen.“ Dazu gehören auch die, „die irakische Zivilisten durch Regierungstruppen und schiitischen Milizen erleiden.“ [1] Sie hatte in den Tagen zuvor Zeugen zur Belagerung von Latifiyya angehört, einer mehrheitlich sunnitischen Stadt im sogenannten „Bagdad-Gürtel“, deren Bevölkerungszahl infolge der Angriffe der berüchtigten 17. Division und Milizen, die noch immer unter Kontrolle des Ex-Premiers Nuri al-Maiki stehen, in den vergangenen Monaten von 200.000 auf 50.000 schrumpfte. Dutzende Bürger der Stadt waren entführt und ermordet worden. Anwohner berichten von Exekutionen auf offener Straße, nur wenige Meter von Polizeiposten entfernt. Am 11. Juni verschleppten Milizionäre 137 Männer von einem Markt der Stadt. Die Leichen von 30 von ihnen wurden gefunden, von den übrigen fehlt jede Spur.
 
Teufelskreis religiös motivierter Gewalt

Es ist nur eine von Dutzenden solcher Berichte in Latifiyya und anderen Städten im „Bagdad-Gürtel“, die Evers hörte. In vielen Gegenden seien die meisten Männer entweder getötet oder geflohen. In der Diyala-Provinz überfiel, wie die UNO berichtete,  die schiitische „Liga der Gerechten“ im August mehrere Städte, zerstörte zahlreiche Häuser, brannte mehrere sunnitische Moscheen nieder, entführte über 200 Männer und ermordete mehr als 50. [2]

Auch Amnesty International dokumentiert in ihrem 28-seitigen Report Dutzende Fälle von Verschleppungen und Exekutionen durch schiitische Milizen in Bagdad, Samarra, Kirkuk und viele anderen Städten im ganzen Land.[3] Allein in Samarra wurden dem Report zufolge seit Anfang Juni 170 junge sunnitische Männer entführt. Dutzende von ihnen wurden später tot aufgefunden, vom Rest fehlt jede Spur. Zum Teil wurden sie wegen des Verdachts der Unterstützung oder heimlichen Sympathie für ISIL ermordet, teils willkürlich als Vergeltung für ISIL-Angriffe. Diese Milizen, „oft von der irakischen Regierung bewaffnet und unterstützt“, operieren, so AI mit „unterschiedlichem Grad der Kooperation mit Regierungskräften“.

Die Macht der schiitischen Milizen, die z.T. auch vom Iran militärisch unterstützt werden, wuchs ab Juni massiv, nachdem sich die regulären Streitkräfte sich als wenig schlagkräftig erwiesen hatten. Sie tragen Uniform, operieren aber völlig außerhalb des Gesetzes. Sie greifen zu den gleichen Mitteln ‒ Verschleppung, Ermordung und Vertreibungen ‒ die sie bereits 2005 bis 2008 massenhaft gegen die sunnitische Bevölkerung anwandten. Mit ihrer Förderung durch die Regierung wand sich, so AI, die Spirale konfessioneller Gewalt durch sunnitische und schiitische Extremisten auf ein Niveau, wie es seit den schlimmsten Tagen zwischen 2006 bis 2007 nicht mehr gesehen wurde. „Indem sie Milizen ihren Segen geben, die routinemäßig solche fürchterliche Gewaltakte begehen, unterstützt die Regierung Kriegsverbrechen und feuert einen gefährlichen Teufelskreis religiös motivierter Gewalt an, der das Land zerreißt,“ so Donatella Rovera, Krisenbeauftragte von Amnesty International in der Presseerklärung zum Bericht.[4]

Schiitische Milizen und Peschmergas ‒ Verbündete und Gegner

Mehrere, der berüchtigten schiitische Milizen, kämpfen auch gemeinsam mit kurdischen Peschmergas im Nordosten Iraks gegen ISIL. Dabei kommt es nicht nur, wie die UNO berichtet, häufig zu Racheangriffe auf Sunniten.  „Marodierende regierungsnahe Milizen nutzen den Kampf gegen den Islamischen Staat als Vorwand, um sunnitische Gemeinden quer durchs Land zu zerstören“ schreibt das renommierte US-Magazin Foreign Policy.[5] Sie hindern sunnitische Familien in ihre zeitweilig von ISIL besetzten Städte und Dörfer zurückzukehren. Häufig kommt es auch zu Brandschatzungen, z.T. werden ganze Dörfer niedergebrannt. Ein Video zeigt, wie schiitische Kämpfer einen Mann köpfen, der der Kollaboration mit ISIL beschuldigt wurde. [6]

Zu den stärksten dieser Milizen gehören die berüchtigten Badr-Brigaden, die seit 2005 Teil der Regierungskoalition sind und unter dem neuen Regierungschef erneut den Innenminister stellen. Sie machen sich keine Mühe ihr verbrecherisches Vorgehen zu verschleiern. „Die schiitischen Dschihadisten haben das Recht, das Leben und das Eigentum der sunnitischen Araber zu nehmen, die an der Seite ISILs kämpften,“ so der Kommandeur einer Badr-Einheit, die in der Nähe von Kirkuk operiert. Als Mitkämpfer gilt dabei jeder, der nicht vor ISIL floh. „Wir glauben, dass alle, die unter ISIL-Kommando lebten, ISIL-Mitglieder sind. Es gibt keine Unparteiischen unter der Autorität von ISIL.“ [7]

[Die Badr-Brigaden waren in den 80er Jahren im Iran als Miliz des Obersten Rat der Islamischen Revolution aufgebaut worden, kämpften im Iran-Irak-Krieg auf Seiten Irans und verübten zahlreiche Anschläge im Irak. Ab 2003 wurden sie zu einer der gefürchtetsten Milizen, die für Folter und Mord an Zigtausenden Sunniten und anderen Gegnern verantwortlich gemacht wird.

Als mit dem Amtsantritt der ersten Übergangsregierung im Mai 2005 die Zahl der Attentate, Entführungen und Exekutionen sprunghaft zunahm, machte der damalige Direktor des Menschenrechtsbüros der UNO im Irak hauptsächlich schiitische Milizen und Sicherheitskräfte verantwortlich, die unter Kontrolle des Innenministeriums standen. Geleitet wurde dieses von Badr-Chef Bayan al-Jabr sein Stellvertreter war Adnan al-Asadi, ein weiterer Badr-Kommandant,. Während al-Jabr aufgrund seiner offensichtlichen Verstrickungen in die Massenmorde der Todesschwadronen seinen Hut nehmen musste, behielt al-Asadi bis heute seinen Posten und damit die Kontrolle über die Milizen und Sonderkommandos. [8]

Auch heute noch unterhalten sie engste Beziehungen zum Iran. Bilder zeigen den Badr-Chef Hadi al-Amiri zusammen mit Kassim Soleimani, dem Kommandeur der iranischen Eliteeinheit al-Kuds im Kampfgebiet der Miliz gegen ISIL.[9] ]

Peschmergas und schiitische Milizen sind jedoch alles andere als enge Verbündete. Dort, wo der gemeinsame Feind vertrieben wurde, stehen sie sich sofort feindselig gegenüber. Die Gebiete, die sie von ISIL und sunnitischen Widerstandsgruppen säubern wollen, liegen in dem breiten, an das kurdische Autonomiegebiet angrenzenden Streifen Land, der von den herrschenden irakischen Kurdenparteien zusätzlich beansprucht wird und im Westen als „umstrittene Gebiete“ (disputed areas) bezeichnet werden. Beide Seiten sind daher bemüht, erobertes Terrain für sich zu sichern. [10]

Im Aufwind ‒ die Kurden

Hauptnutznießer der aktuellen Entwicklung im Irak sind die nach Unabhängigkeit strebenden Kurden des Landes, allen voran der Barzani-Clan und seine KDP. Insbesondere die offene, an der Zentralregierung vorbei durchgeführte militärische Aufrüstung ihrer Peschmerga-Verbände, die sie seit vielen Jahren vergeblich gefordert hatten, bedeutet einen weiteren großen Schritt voran in Richtung faktische staatliche Unabhängigkeit.

Auch das Zurückweichen der irakischen Armee vor ISIL und den aufständischen Gruppen kam den Kurdenparteien sehr gelegen. Die Peshmergas rückten sofort nach und besetzen nun weitere große Teile des bis zu 100 Kilometer breiten Streifens Landes, das sie jenseits der Grenze der Kurdischen Autonomen Region (KAR) beanspruchen. Vollständig unter kurdische Hoheit gerieten dabei auch die Hauptstadt der Nachbarprovinz, Kirkuk, und ihre Umgebung, in denen die zweitgrößte Erdöllagerstätte des Irak liegt.

„Umstrittenen Gebiete“

Ein großer Teil dieser „umstrittenen Gebiete“ steht bereits seit 2003 unter ihrer Kontrolle, als sie zusammen mit den US-amerikanischen Invasionstruppen einmarschierten. Irakische Armee und Peshmergas standen sich jahrelang schussbereit an der Demarkationslinie gegenüber, mehrfach mussten die Besatzer dazwischen gehen. Die kurdische Regionalregierung (KRG) hat dennoch auch schon für Ölfelder, die in diesen Gebieten liegen, Konzessionen an ausländische Ölkonzerne, darunter Total und die US-Multis Exxon-Mobile und Chevron, vergeben und damit die Spannungen mit der Zentralregierung extrem zugespitzt. ‒ Mit dem Abschluss der für Exxon, Chevron und Total außerordentlich vielversprechenden Geschäfte, schufen die Kurden jedoch in den beanspruchten Gebieten harte Fakten und konnten darauf hoffen, dass die Multis ihre erheblichen Investitionen zu schützen wissen.
[Exxon und Total verschoben ihr Engagement vom Süden in den Norden, da ihnen die Abkommen mit der Zentralregierung, die nur Service-Aufträge für ein bis zwei Dollar pro zusätzlich gefördertes Öl vergab, nicht attraktiv genug erschienen. Chevron hat sich erst gar nicht um solche Aufträge bemüht. Die KRG bietet hingegen sog. „Production Sharing Agreements“, die den Konzernen faktisch Anteile an den Ölvorräten verschaffen ‒ Abkommen, die für so leicht zu förderndes Öl völlig unüblich sind und auch von keinem Land der Region gewährt werden.
Auch deutsche Wirtschaftskreise fühlen sich davon angezogen und scheinen die unter kurdischer Kontrolle stehenden Energieressourcen denen im Süden vorzuziehen. Beim Kongress der CDU/CSU über »Außenpolitische Aspekte der deutschen Rohstoff- und Energiesicherheit« am 20. März 2013, am 10. Jahrestag des Irakkrieges, sprach in Anwesenheit Vorstandsmitglieder deutscher Energiekonzerne – auch Nechirvan Barzani, ein Neffe von Massud Barzani und Ministerpräsident der KAR, aber niemand aus Bagdad. (s. Jörg Kronauer, Tankstelle Kurdistan, Deutsche Wirtschaftskreise haben die nordirakischen Energieressourcen schon seit Jahren fest im Blick, junge Welt, 25.8.2014.) ]

Eigenmächtige Ölgeschäfte

Dennoch hatten sich die Bemühungen der Kurden um größere Unabhängigkeit festgefahren. Sie hatten in den letzten Jahren zwar die Ölförderung auf ihrem Territorium mittels eigenmächtiger Abkommen mit ausländischen Konzernen erheblich ausgebaut und im Mai auch eine eigene Pipeline in die Türkei in Betrieb genommen, konnten das Öl aber aufgrund des Widerstands der Zentralregierung nur schwer verkaufen. Washington, bemüht das offene Auseinanderbrechen des Iraks zu vermeiden, unterstützte bisher Bagdads Sicht, dass solche eigenmächtige Verkäufe illegal sind ‒ trotz des Drucks der involvieren Ölkonzerne und der türkischen Regierung.[11] Keiner der riesigen Öltanker, die im türkischen Ceyhan mit kurdischem Öl beladen wurden, konnte seine Ladung bisher legal löschen. Sie dümpelten seit Wochen im internationalen Gewässer, um der von Bagdad beantragten Beschlagnahmung zu entgehen.

Verlässlichster Partner des Westens

Mit dem Vorrücken von ISIS im Irak und dem Kollaps der Regierungstruppen avancierten die irakischen Kurden jedoch plötzlich zur einzigen verlässlichen Kraft. Dies machte nicht nur den Weg frei für direkte Waffenlieferung an Barzanis KDP und den Einsatz der US-Luftwaffe zur Unterstützung ihrer Peschmergas im Kampf um die „umstrittenen Gebiete“, sondern könnte auch die Tür für den Export kurdischen Öls zu öffnen. Ende August verwarf ein US-Gerichtshof das Urteil eines Distrikt-Gerichtes, den vor der texanischen Küste liegenden Tanker United Kalavryta  mit einer Million Rohöl im Wert von knapp 100 Millionen US-Dollar an Bord zu beschlagnahmen. US-Experten erwarten nun bald auch die Erlaubnis das Öl in einem texanischen Hafen zu entladen.[12] Die KRG hat seither ein weiteres Dutzend Tanker beladen und auf See geschickt, offensichtlich mit Grund zur Hoffnung, das kostspielige Unterfangen werde sich auszahlen.

[Mehrere Tanker mit kurdischem Öl wurden offenbar bereits heimlich entladen, nachdem sie ihr Identifizierungssystem ausgeschaltet hatten. Ein naheliegender Abnehmer ist Israel, einer der engsten Verbündeten der KRG. So tauchte ein Tanker, der nördlich des Sinai aus dem Blickfeld des Trackingsystem verschwand, zwei Tage später leer vor der israelischen Küste wieder auf. [13]]

Kämpfer von Barzanis Kurdisch-Demokratischer Partei hatten im Juni auch direkt schon die Förderanlagen des Kirkuk- und des Bai Hassan-Ölfeldes requiriert und die dort arbeitenden Angestellten der staatlichen Northern Oil Co vertrieben. Diese Ölfelder haben zusammen eine Förderleistung von rund 500.000 Barrels per Tag, ein Fünftel der gesamten irakischen Kapazität.[14]. Mitte Oktober begannen die Kurden daraus auch 200.000 Barrels täglich zu den Raffinerien zu pumpen, die unter ihrer Kontrolle stehen und damit Öl aus eigenen Ölfeldern für den Export frei zu machen. Sie haben ihren Ölexport im Sommer von 180.000 auf 240.000 bpd gesteigert und wollen ihn bis Ende des Jahres auf 400.000 bpd ausbauen. Wohin die illegale Exporte gehen, bleibt im Nebel. Ein Teil floss im Sommer offenbar nach Ungarn, aber auch Österreich und Deutschland scheinen Anteile erhalten zu haben.[15]

Massoud al-Barzani, KDP-Chef und Präsident der KAR, kündigte auch unmittelbar nach der Übernahme von Kirkuk ein baldiges Referendum über die Unabhängigkeit der von KDP und PUK kontrollierten Gebiete an. [16] Sukzessive werden die eroberten Gebiete in die politischen Strukturen der KAR eingebunden. 24.000 Peschmergas kontrollieren nun Kirkuk und das kurdische Regionalparlament eröffnete Mitte Oktober bereits eine Repräsentanz in der Stadt, um deren „kurdische Identität zu unterstreichen.“

Kirkuk ist jedoch keineswegs überwiegend kurdisch geprägt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie mehrheitlich turkmenisch, 1977 stellten schon, nach dem der Bedarf an Ölarbeiter viele arabische Familien in den Norden gezogen hatte (evtl. auch gefördert durch die Regierung), Araber die größte Bevölkerungsgruppe. In der gesamten Provinz betrug ihr Anteil 1997 rund 70 Prozent.[17] Dies hat sich zwar infolge massiver Vertreibungsmaßnahmen von Seiten der Kurdenparteien seit 2003 zugunsten der Kurden verschoben, eine Mehrheit stellen sie jedoch sicherlich noch nicht.

Die neue irakische Verfassung sieht im Artikel 140 vor, dass der Status von Kirkuk per Referendum geklärt werden soll. Da dessen Durchführung die Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen mit Sicherheit explodieren ließe, wurde es auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Artikel 140 sei nun endlich umgesetzt, wenn auch durch besondere Umstände, erklärte nun Barzani im Juni auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem britischen Außenminister. Jegliche weitere Diskussion über diesen Artikel sei damit überflüssig. [18] Das sehen die übrigen Bevölkerungsgruppen und die anderen Parteien – unabhängig von Konfession und ideologischer Ausrichtung naturgemäß anders. Der Widerstand gegen die Annexion ist längst nicht überwunden und wird wieder aufleben sobald sich die Lage an den anderen Fronten geklärt hat. Der nichtkurdische Teil der Bevölkerung in Kirkuk wird die Herrschaft der Kurdenparteien nie akzeptieren.

Diese wiederum bemühen sich, den Widerstand gegen die Annexion im Keim zu ersticken. So wird offenbar vielen Arabern mittlerweile der Zugang zur Provinzhauptstadt verwehrt. Peschmerga stünden nun an den Checkpoints rund um Kirkuk und hätten die Aufgabe die Zivilisten von Militanten zu trennen, so die Rechtfertigung eines kurdischen Offiziers.[19]

Reporter des niederländischen Fernsehprogramms Nieuwsuur berichten, auch kurdische Peschmergas würden Gefangene exekutieren.  Der niederländisch-kurdische Kommandant der „Kurdischen Volksverteidigungskräfte“ Serdar Dosky teilte ihnen mit, als er die Kamera abgeschaltet glaubte, sie würden keine Gefangene machen. „Wir geben ihnen eine Kugel. Eine Kugel kostet 50 Cents. Wir geben ihnen eine zweite Kugel und sind sie los.” Peschmergas haben Nieuwsuur zufolge auch aus Rache für die Ermordung kurdischer Kämpfer das arabische Dorf Barzan, nördlich von Mosul, nahe der Grenze zur KAR, vollständig zerstört. [20] KRG-Vertreter bestreiten zwar die Vorwürfe, sie werden aber durch einen Bericht des US-Mediennetzwerks NPR gestützt.[21] Demnach hatten US-amerikanische Luftangriffe bereits einige Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Die Peschmergas sprengten die, die noch standen, in die Luft, damit ihre Bewohner nie mehr wiederkommen. Die Araber seien alle ISIL-Sympathisanten, so kurdische Kämpfer gegenüber NPR. Sie hätten die Peschmergas, die die Gegend zuvor kontrollierten, als Besatzer beschimpft und die sunnitischen Kämpfer als Befreier begrüßt.

Krieg gegen den Wiederaufbau eines einigen, souveränen Irak

Amnesty International appelliert an den neuen Regierungschef, Haider al-Abadi, den Verbrechen der Regierungstruppen und verbündeter Milizen ein Ende zu machen und HRW fordert Washington auf, die schweren Vergehen der Regierung in Bagdad und ihrer Milizen nicht länger zu unterstützen. „Das ganze letzte Jahr über haben die USA ununterbrochen militärisches Material an Bagdad geliefert“, so HRW, trotz vieler dokumentierter „entsetzlicher Verbrechen durch Regierungskräfte“, wie „willkürliche Luftangriffe, die in sunnitischen Gebieten Tausende Zivilisten töteten, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen“, sowie „ein Justizsystem, das viel häufiger willkürlich als gerecht erscheint.“ Die Eingliederung schiitischer Milizen in die Sicherheitskräfte habe ein Ausmaß erreicht, das sie nun faktisch ununterscheidbar mache. [22]

Regierungswechsel ‒ Chancen für eine politische Lösung?

Da es offensichtlich ist, dass die repressive, die Sunniten massiv benachteiligende Politik Malikis den Aufstand in den sunnitischen Provinzen provozierte und damit auch den Boden für das Vordringen von ISIL bereitete, hofft man nun im Westen, al-Abaidi werde die Interessen von Sunniten und anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen stärker berücksichtigen. Da den meisten Strategen in Washington bewusst ist, dass ISIL nur im Bündnis mit sunnitischen Kräften zu besiegen ist, ist der Druck auf die neue Regierung groß, zu einem Ausgleich mit „moderaten“ sunnitischen Führern zu kommen. Al-Abadi versprach auch bei seinem Amtsantritt, die Bombardierung sunnitischer Städte einzustellen und die Forderungen der sunnitischen Opposition zu prüfen.

Aus deren Reihen kamen ernsthafte Angebote, den Kampf gegen die Zentralregierung einzustellen und gegen ISIL zu kämpfen, wenn Bagdad zentrale Forderungen erfülle. Neben der Einstellung der Bombardierungen waren dies vor allem die Freilassung der Zigtausend politischen Gefangen, einen fairen Anteil an Jobs in Verwaltung und Staatsbetrieben, die Haupt-Erwerbsquellen im Land, und die Rückgabe sunnitischer Stiftungen und Moscheen sowie die Vertreibung schiitischer Milizen aus Bagdad und anderen sunnitischen oder gemischten Städten. <[23]

[Entscheidend für eine Einigung seien US-amerikanische und internationale Garantien für die Einhaltung von Absprachen. „Wir wollen eine echte politische Lösung, die die USA bei den Leuten durchsetzen soll, die sie in der Grünen Zone an die Macht brachten,“  so ein Sprecher der Rebellen gegenüber BBC. „Wenn sie uns diese Lösung garantieren, garantieren wir, dass wir ISIl loswerden.“

Sie verlangen eine nationale Versöhnungskonferenz unter internationaler Schirmherrschaft, zu der alle relevanten Kräfte eingeladen werden, mit Ausnahme von ISIL und den schiitischen Milizen, die sie als mindestens genauso übel betrachten. Die sunnitischen Politiker in Bagdad, die sich erneut auf eine Beteiligung an der Regierung einließen, lehnen sie als nicht repräsentativ ab. „Diese Leute sind seit 2003 in den politischen Prozess involviert und erreichten nichts.“[24]]

USA und Iran einig gegen Wiedererstarken Iraks

Faktisch ist Al-Abadi bisher jedoch keinen Schritt auf die Aufständischen zugegangen. Sowohl die Luftwaffe als auch die Artillerie feuern weiterhin in Falludscha und anderen sunnitischen Städten auf zivile Ziele. Das Zentralkrankenhaus von Falludscha wurde direkt am Tag nach der Ankündigung Al-Abadis erneut getroffen. Auch im Oktober gingen die Angriffe weiter und töteten mindestens 178 Menschen und verwundeten 285.[25] Die Zahl der seit Anfang des Jahres durch Luft- und Bodenangriffe getöteten Zivilisten stieg dadurch auf über 1400, darunter Hunderte Frauen und Kinder.[26]

Eine grundsätzliche Änderung der Politik Bagdads war von Malikis Nachfolger auch nicht ernsthaft zu erwarten. Wenn nach dem rasanten Aufstiegs ISILs die „Unfähigkeit“ Malikis und der irakischen Politiker in der Grünen Zone Bagdads allgemein, gegeißelt wurde, so wurde geflissentlich übersehen, dass die Politik, die den Irak immer weiter in den Abgrund treibt, bereits unter der direkten US-Besatzung begonnen wurde. Vor 2003 gab es im Irak weder konfessionellen Proporz noch dschihadistische Gruppen. Sie installierten ein schiitisch-islamistisches Regime, förderten eine einseitig gegen Sunniten betriebene „Ent-Baathifizierung“ und entfesselten schließlich zur Schwächung des Widerstands im Land einen schmutzigen Krieg gegen Sunniten und die unabhängige Intelligenz des Landes.[27] Maliki führte diese Politik nur fort, ab 2009 mit Unterstützung Obamas.[28]

Das Regime, das vor acht Jahren mit Maliki an der Spitze installiert wurde, beruht auf einem Kompromiss zwischen Washington und Teheran. Deren zentrales gemeinsames Ziel bezüglich Irak besteht in der dauerhaften Verhinderung jeglicher Wiederbelebung eines souveränen, arabisch-nationalistisch orientierten irakischen Staates. Die Nominierung Al-Abadis, der der gleichen Partei wie Maliki angehört, beruht auf demselben Kompromiss.

Eine solche, gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gerichtete Zielsetzung, lässt sich jedoch nur mit Gewalt durchsetzen, gestützt auf die Betonung religiöser Identitäten und die Mobilisierung ethnischer und konfessioneller Feindseligkeiten inklusive der Förderung fanatischer Milizen. Solange diese Strategie verfolgt wird, ist ein Eingehen Bagdads auf legitime Forderungen der sunnitischen und säkularen Aufständischen, wie auch der oppositionellen schiitischen Kräfte im Süden ausgeschlossen. Damit werden die bewaffneten Auseinandersetzungen anhalten, ISIL und andere radikale Milizen Rückenwind behalten und das Land weiter zerfallen.

Das immer massivere militärische Eingreifen der USA auf Seiten der Regierungstruppen, schiitischer Milizen und kurdischer Peschmergas verschärft die Entwicklung weiter. Denn es richtet sich keineswegs allein gegen den „Islamischen Staat“, sondern offensichtlich gegen die gesamte Aufstandsbewegung. Andernfalls hätte man beim Vorgehen eine klare Trennung zwischen dieser und den Dschihadisten vornehmen müssen, wie es u.a. die ICG seit Monaten fordert. Statt die Opposition in den sunnitischen Gebieten gleichfalls zu „Terroristen“ zu stempeln, sollten die UNO und die USA anerkennen, dass sie legitime bzw. verhandelbare politische Anliegen verfolgt und der, durch die brutale Niederschlagung friedlicher Proteste eskalierte Konflikt, daher durchaus politisch lösbar wäre.

Die erneute mediale Fokussierung auf dschihadistische Kräfte, wie während des raschen Anwachsens des irakischen Widerstands ab 2004, geht exakt in die entgegengesetzte Richtung und dient dazu, das alte, schiitisch-sektiererische Regime in Bagdad wieder zu stabilisieren.

[Auch zwischen 2003 und 2008 wurde die Rolle der al-Qaeda nahen Gruppen im Irak massiv aufgebauscht und zum anderen jeglicher bewaffneter Widerstand mit deren Terroraktionen in einen Topf geworfen –  mit durchschlagendem Erfolg: die internationale Solidarisierung mit dem nationalen Widerstand gegen die brutale Besatzung – die angesichts des weltweiten Engagements gegen den Krieg an sich zu erwarten gewesen wäre – wurde so effektiv verhindert.]

Durch das direkte militärische Eingreifen und den Wiederaufbau einer starken Präsenz von US-Truppen will Washington, die Gunst der Stunde nutzend, den eigenen Einfluss auf dieses Regime auch wieder ausbauen, nachdem es sich in den vergangen Jahren immer mehr an den Iran anlehnte.  Nach der angekündigten Entsendung weiterer Einheiten, steigt die Stärke der regulären US-Truppen im Irak schon bald auf über 3.000 Soldaten. [Hinzu kommen noch das Militär unter den 5.500 Mitarbeitern der riesigen US-„Botschaft“[29], über 5.000 von dieser angeheuerten Söldner sowie eine sicherlich nicht unerhebliche Zahl von verdeckt operierenden Spezialeinheiten.[30]] Auch wenn Obama versichert, die neuen Truppen hätten keinen Kampfauftrag, so sind ihre Einsatzorte direkt an der Front.[31] Mit dem Hauptquartier der 1. Infanterie Division wurde zudem bereits ein Stab für 10.000 Mann in den Irak verlegt, ein deutliches Indiz für weitreichendere Pläne.[32]

Parallel dazu verstärken die USA auch die militärische Präsenz im irakischen Kurdistan. So plant das Pentagon drei neue Militärbasen, darunter einen Militärflughafen in Erbil.[33] Auch der bereits im Juli begonnene massive Ausbau der CIA-Zentrale in Erbil deutet auf eine Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit hin.[34] Von den 1,6 Mrd. Dollar die Washington 2015 für Waffenlieferungen in den Irak bereitstellen will, sind 355 Mio. für Barzanis Peschmergas bestimmt. [35]

Während in Syrien der wichtigste Schritt zum Frieden, das Ende der Umsturzbemühungen durch die NATO-Staaten und ihren Verbündeten, insbesondere die Einstellung der Ausrüstung regierungsfeindlicher Milizen, wäre und es dort darum geht, nicht nur die Gegenwehr in Kobani und anderen kurdischen Enklaven gegen dschihadistische Gruppen zu unterstützen, sondern in ganz Syrien, ist der Ausweg aus Chaos und Gewalt in Irak wesentlich schwieriger. Nötig wäre auch hier ein Ende der zerstörerischen Einmischung von außen, sowohl von Seiten der USA und ihren Verbündeten als auch seitens Irans, durch die erst die Bildung einer Regierung möglich würde, die tatsächlich alle relevante Kräfte vertritt, ihre Politik an nationalen Interessen orientiert und eine effektive Verwaltung ohne Proporz aufbauen kann, sowie den Provinzen mehr Autonomie gewährt und eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sicherstellt.

Ein erster Schritt wäre die ausschließliche Fokussierung auf den „Islamischen Staat“ zu durchbrechen, einer breiten Öffentlichkeit klar zu machen, dass nicht allein ISIL für brutale Verbrechen verantwortlich ist, Städte angreift und ganze Bevölkerungsgruppen bedroht, sondern auch Regierungstruppen und Milizen, der vom Westen unterstützte Regierung in Bagdad.



[3] 'Absolute Impunity: militia rule in Iraq', Amnesty International UK, 14.10.2014

[5] The Gangs of Iraq -- Marauding pro-government militias are using the fight against the Islamic State as a pretext to destroy Sunni Arab communities across the country, Foreign Policy, 3.11.2014

[6] Increasing Reports Of Sectarian Attacks By Militias In Iraq, Musings on Iraq, 9.10.2014, Sarah Margon (HRW), For Iraq’s Sunnis, sectarian militias pose an extra threat, Washington Post, 24.10.2014

[9] Breaking Badr, the bloodthirsty fighters might be Baghdad's best hope of stopping the Islamic State, Foreign Policy, 6.11.2014

[10] s. z.B. Shootout between 'allies' underscores Iraq divisions, 8.10.2014 - In Tuz Khurmatu, a gun battle between Shia militia and Kurdish fighters – nominal partners in the fight against IS militants – highlights the ethnic and sectarian tensions pulling northern Iraq apart.

[14] Laut Al-Monitor sind des 700,000-800,000 bpd, 300.000 bpd bis März  Iraqi oil sector faces prospect of independent Kurdistan, Al-Monitor, 21.7.2014

[15] Iraq’s Cash-Strapped Kurds Gear Up For Kirkuk Export Boost, mees (Middle East Energy News), 17.10.2014

[17] siehe Dilip Hiro, “The Sarajevo of Iraq”, ZNet; 22.7.2004, Anderson, Liam D.; Stansfield, Gareth R. V., Crisis in Kirkuk: The Ethnopolitics of Conflict and Compromise, University of Pennsylvania Press 2009 und „In our hands“, Al Ahram Weekly, 17.3.2005

[28] Juan Cole, Mass Sunni Uprising Forces Iraq to Confront Sectarian Blowback of 2003 U.S. Invasion, Democracy Now!, 18.6.2014

[30] Role of U.S. Contractors Grows as Iraq Fights Insurgents, Wall Street Journal, 3.2.2014, America's paid boots on the ground - The U.S. may turn to military contractors to fight ISIS, The Week, 8.11.2014

[32] Army sending division HQ element to Iraq, Stars and Stripes, 25.09.14

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