Giftgasangriff in Syrien: Erneut vorschnelle Urteile

Am Morgen des 4. April erfolgte ein erneuter Anschlag mit Giftgas, vermutlich Sarin, in Khan Scheikhun, einer Stadt in der Provinz Idlib, die von islamistischen, von al-Qaida-nahen Gruppen dominierten Milizverbänden kontrolliert wird. Westliche Politiker und Medien machten sofort die syrische Führung, "Assad", verantwortlich, eine Wiederholung des Scenarios nach Giftgasangriff im August 2013 in Ghuta, der fast zum Nato-Krieg gegen Syrien geführt hätte.
Im folgenden dokumentiert ist ein Leserbrief der, jeweils etwas angepasst, an mehrere Zeitungen ging, sowie Quellenhinweise zum Giftgasangriff im August 2013 in Ghuta sowie Berichte und Kommentare zum aktuellen.

Update: Die Deutsche Welle brachte am 6.4.2017 einen Beitrag, der erstaunlich ausführlich die wesentlichen Fakten dokumentiert, die die Schuldzuweisung gegen die syrische Führung entkräften (s.u.)


Es ist erstaunlich. Wofür Experten Wochen benötigen, wissen Politiker und Medien binnen Stunden: der neue Giftgasangriff in Syrien wurde von der syrischen Armee ausgeführt. An der Schuld Assads bestünde kein Zweifel heißt es auch im Kommentar der RNZ. Belastbare Indizien dafür fand man bisher zwar nicht, doch man ist sich einig: es kann einfach niemand anderes gewesen sein, da die gegnerischen Milizen nicht über das vermutete Gift, Sarin, verfügen würden.
 
Niemand scheint sich die einfache Frage zu stellen, warum die syrische Führung so idiotisch sein sollte, ihren Gegnern, die seit Jahren auf ein direkte Intervention drängen, solche Steilvorlagen zu liefern, zu einem Zeitpunkt, wo die syrischen Truppen auf dem Vormarsch sind und erneut vor einem wichtigen internationalen Treffen? Um zu testen, ob US Präsident Trump tatsächlich impulsiver ist als sein Vorgänger, Obama?

Die Argumentation läuft nach dem selben Muster wie nach dem Giftgasanschlag in Ghuta im August 2013, der ebenfalls noch ganz salopp „Assad“ zugeschrieben wird, obwohl nach späteren Untersuchungen, u.a. des britischen Geheimdienst und Waffenkontrollexperten der US-Elite-Uni MIT, es als sicher gelten kann, dass er nicht von der syrischen Armee ausgeführt wurde - wahrscheinlich der Hauptgrund, warum Obama die US-Luftwaffe damals zurückpfiff.

Wie u.a. Recherchen türkischer Parlamentarier und Staatsanwälte sowie des berühmten Investigativ-Journalisten Seymour Hersh ergaben, verfügt zumindest die Al Nusra Front sehr wohl über Sarin und steckte wahrscheinlich auch hinter dem Anschlag in Ghuta. Und die Al Nusra Front ist die dominierende Miliz in der Provinz Idlib, in der der neue Anschlag stattfand.
 
 

Update: Mit Erkenntnissen über frühere Giftgasanschläge begründet Zweifel in der Deutschen Welle:
Syrien: Assads Giftgas? War der Giftgasangriff in Nordsyrien tatsächlich ein Kriegsverbrechen des Assad-Regimes? Experten halten auch einen Angriff unter "falscher Flagge" dschihadistischer Rebellen für möglich. Dies wäre nicht das erste Mal.
Deutsche Welle, 6.4.2017
Hintergrundinfos zum Giftgasanschlag in Ghuta im August 2013,
Prof. Norman Paech, Sarin in Syrien, Ossietzky Heft 1 und Heft 2-2016 (oder als PDF auf seiner Homepage)

Fabian KöhlerWer steckt hinter dem syrischen Giftgas-Angriff?CHP-Politiker machen aufgrund von Gerichtsakten den türkischen Geheimdienst und islamistische Milizen verantwortlich, Telepolis, 30.10.2015

Seymour M. Hersh, Whose sarin?, London Review of Books, Vol. 35 No. 24 · 19.12.2013 » online 08. Dec 2013
The Red Line and the Rat Line - Seymour M. Hersh on Obama, Erdoğan and the Syrian rebelsLondon Review of Books, Vol. 36 No. 8 · 17.4.2014

MIT Study of Ghouta Chemical Attack Challenges US IntelligenceRT, 16.1.2014
A new MIT report is challenging the US claim that Assad forces u
Richard Lloyd, Theodore A. Postol, “Possible Implications of Faulty US Technical Intelligence,” MIT, 14.1.2014

The Failed Pretext For War: Seymour Hersh, Eliot Higgins, MIT Rocket Scientists On Sarin Gas Attack, MintPress News, April 15, 2014
MintPress News interviews a Pulitzer Prize-winning journalist, MIT professors and rocket scientists, and a blogger on who perpetrated a sarin gas attack that almost dragged the U.S. into Syria’s civil war.
Gute deutschsprachige Erklärungen zum aktuellen Anschlag dazu gab es u.a. Wie brisant das werden kann, beschreibt ein heutiger Artikel der Deutsche Wirtschafts Nachrichten:
Trump unter Druck: Kriegsgefahr zwischen USA und Russland steigt
US-Präsident Trump ist unter Druck und kündigt eine härtere Gangart gegen Syriens Präsident Assad an. Außenminister Tillerson schickt eine Warnung an Russland. Die USA wollen offenbar noch einen Versuch starten, Russland in Syrien in die Defensive zu drängen
Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 06.04.2017

(siehe dazu auch: Is Trump Going to Commit the Next Great American Catastrophe in Syria?
It would be foolhardy to take military action before we know the details of the recent horrific gas attack.

By Vijay Prashad, Alternet, 6.4.2017)

Die Anzeichen verdichten sich, dass es in Syrien zu einer militärischen Konfrontation zwischen den USA und Russland kommen könnte. Äußerer Anlass könnten Berichte über einen Giftgasangriff in Syrien sein. Zwar hat bisher weder eine Untersuchung der Ereignisse durch die Organisation zur Vernichtung von Chemiewaffen (OPCW) oder die UN stattgefunden. Doch US-Präsident Trump, dessen Sprecher noch am Dienstag gesagt habe, es sei zu spät, um Syriens Präsident Assad zu stürzen, vollzog in einer Pressekonferenz mit dem König von Jordanien im Weißen Haus eine spektakuläre Wende. Ohne auch nur ansatzweise auf Belege einzugehen, sagte Trump, dass Assad an den Giftgasangriff schuld sei: Trump bezeichnete die Attacke als „Affront gegen die Menschlichkeit“, der nicht hingenommen werden dürfe. Mit dem Angriff seien „eine Menge Linien überschritten“ worden, sagte Trump. Auf die Frage, ob er einen Kurswechsel in seiner Syrien-Politik erwäge, entgegnete er: „Das werden wir sehen.“ Seine Einschätzung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad habe sich aber „sehr geändert“ (Video drei).

Die UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley, drohte im Sicherheitsrat einseitige Aktionen ihres Landes an: „Wenn die Vereinten Nationen fortlaufend ihre Pflicht zum kollektiven Handeln verletzen, dann sind wir gezwungen, unsere eigenen Maßnahmen zu ergreifen.“ Sie ließ offen, wie solche Maßnahmen aussehen könnten.
[...]
Robert Parry von Consortiumsnews analysiert, es erschließe sich aus der militärtaktischen Lage nicht, warum Syriens Präsident Baschar al-Assad ausgerechnet jetzt Giftgas gegen seine eigene Bevölkerung einsetzen sollte. Die syrische Armee ist fast überall auf dem Vormarsch und hat die islamistischen und internationalen Söldner in allen Frontabschnitten zurückgedrängt. Amerikaner und Russen haben vergleichsweise vernünftig gegen den IS gekämpft.
[...]
In einem Interview mit dem arabischen Teil des staatlichen Senders Deutsche Welle sagte der Gründer von Wikileaks, dass es das oberste Ziel der CIA sei, Assad zu stürzen (zweites Video). Die CIA hätte einen erheblichen Teil ihres Budgets in den „regime change“ in Syrien investiert. In diesem Zusammenhang ist die Entfernung von Trumps Chefstrategen aus dem Nationalen Sicherheitsrat des Präsidenten am Mittwoch interessant: Steven Bannon ist eher ein Gegner von militärischen Interventionen und vor allem gegen die große Macht, die die Geheimdienste in der US-Politik angesammelt haben. Die CIA und der britische Auslandsgeheimdienst MI6 arbeiten in Syrien eng zusammen.
[...]
Der Druck auf US-Präsident Trump ist enorm. Die Lage in Nahost ist unübersichtlich. Erst vor wenigen Tagen war der US-Armee vorgeworfen worden, am Tod von Zivilisten schuld zu sein. Zuordnen kann man keine dieser Angaben – im Grunde kann jeder alles behaupten. Trump selbst war attackiert worden, weil bei einem Einsatz im Jemen ein US-Soldat getötet worden war.

Auch der politische Druck ist erheblich: Die Senatoren Graham und McCain fordern Krieg gegen Russland. Trump hat in den vergangenen Wochen Treffen mit den Führern von Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und Israel abgehalten. Bei all diesen Treffen ist es um eine militärische Allianz für einen Krieg gegen den Iran gegangen. Trump hat innenpolitisch nach dem Scheitern der Gesundheitsreform und der sich abzeichnenden Verspätung bei der Steuerreform nichts vorzuweisen. Eine militärische Mission könnte ihm helfen, seine Gegner ruhigzustellen. Einen Krieg gegen Russland und/oder den Iran begrüßen faktisch alle wichtigen Player in Washington. Ein Feldzug gegen Russland würde auch die Unterstützung durch die Medien finden, die Trump bisher komplett abgelehnt haben.
[...]
Es ist denkbar, dass jene Kräfte, die jetzt die verschiedenen Söldner in Syrien unterstützen, noch einen letzte Versuch starten könnten, den Präsidenten zu einer Intervention in Syrien zu drängen. Diese aber würde wegen der militärischen Realität in Syrien zu einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland führen.
[...]

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