Besatzung abgewählt - Neue Koalitionen im Irak

Artikel in: junge Welt, 27.02.2009

Irak: In Provinzparlamente ziehen überwiegend nationalistische, nichtreligiöse Kräfte. Präsenz der US-Truppen bleibt zentrales Problem
 

Gern gesehen: US-Soldaten beim Abschiedsfoto in Bagdad (1.1.2009) - Foto: AP

Im besetzten Bagdad geben sich dieser Tage Spitzenpolitiker aus EU-Staaten die Klinke in die Hand. Nach Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier reiste am Donnerstag der britische Außenamtschef David Miliband in die irakische Hauptstadt. Zusammen mit der irakischen Regierung versuchen sie, Normalität im Okkupationsgebiet zu suggerieren und für eine Rückkehr ausländischer Unternehmen ins Zweistromland zu werben – gerade so, als wären Krieg und Besatzung Geschichte.

Tatsächlich haben im vergangenen Monat die Iraker über ihre Provinzparlamente abgestimmt – umgeben von Stacheldrahtzäunen, Panzern und schwerbewaffneten Soldaten. Washington feierte anschließend den erfolgreichen Urnengang als Beweis dafür, daß die US-amerikanische Besatzungspolitik nun doch Erfolg zeigt. Manche Medien priesen die Wahlen gar als »späten Triumph des George W. Bush«. Tatsächlich erteilten die irakischen Wähler der US-Politik aber eine klare Absage. Auch wenn man die Ergebnisse von Wahlen unter Bedingungen wie im Irak nicht überbewerten sollte, so zeigen sie doch eines deutlich: das von den USA installierte, sektiererische, auf Volks- und Konfessionszugehörigkeit basierende Regime hat in der irakischen Bevölkerung keinerlei Basis. Die Wähler gaben ihre Stimmen überwiegend nationalistischen, nichtreligiösen Kräften, die einen einheitlichen Irak mit starkem Zentralstaat anstreben sowie natürlich ein rasches Ende der Besatzung und die vollständige Wiederherstellung der irakischen Souveränität.

An diesem Ergebnis ändern auch die verhältnismäßig hohen Stimmengewinne der »Koalition für Rechtsstaatlichkeit« des Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki nichts, in denen viele Medien einen »überragenden Sieg« des Regierungschefs sahen. Diese erhielt er nicht wegen, sondern trotz des islamistischen Charakters seiner kleinen, mehrfach gespaltenen Partei Al-Dawa. Außer den vielfältigen Möglichkeiten als Regierungschef, die Al-Maliki exzessiv nutzte, verdankte er den Stimmenzuwachs vor allem der neuen Ausrichtung seiner Politik. Indem er sich nun als irakisch-nationalistischer Führer präsentiert und sich aktiv für einen zentralisierten Staat und gegen separatistische Bestrebungen einsetzt, kam er der allgemeinen Stimmung im Land entgegen.

Viele Iraker hoffen darauf, daß Al-Maliki als potentiell »starker Mann« das politische Chaos in den Griff bekommen kann. In der Wahl seiner Partei wurde ein möglicher Weg gesehen, die Besatzung zu beenden. Da sich die Stimmen auf eine sehr große Zahl von Listen verteilten und das Wahlsystem die größeren Parteien begünstigt, errang seine Koalition in den meisten Provinzen des Südens eine beachtliche Zahl der Parlamentssitze. Prozentual blieb sie landesweit jedoch unter 20 Prozent aller Stimmen – ein »überragender Sieg« sieht anders aus.

In Kerbala, der einzigen Provinz, in der Al-Malikis Partei bisher regierte, kam sie nur noch auf 8,5 Prozent. Obwohl die Stadt neben Nadschaf das zweite Zentrum des schiitischen Islams im Irak ist, gewann hier der unabhängige, säkulare Kandidat Yousef Majid Al-Habboubi mit Abstand vor den religiösen Parteien. Das ehemalige Baath- Mitglied war bis zur US-Invasion 2003 Bürgermeister Kerbalas gewesen und hatte sich in dieser Zeit große Anerkennung erworben.

Die anderen Regierungsparteien – der schiitische »Oberste Islamische Rat im Irak« (SIIC), die beiden kurdischen Organisationen PUK und KDP und die sunnitische »Islamische Partei« – verloren massiv. Hatte der proiranische, klerikal ausgerichtete SIIC bei den letzten, äußerst fragwürdigen Wahlen noch in vielen Provinzen die Mehrheit errungen, erhielt er selbst in seinen einstigen Hochburgen gerade noch zehn Prozent, landesweit landete er bei unter fünf Prozent. Die magere Wahlbeteiligung von 51 Prozent reduziert die Bedeutung der Stimmanteile der US-Verbündeten noch weiter. Obwohl es keine formellen Boykottaufrufe gab, blieben mehr Wahlberechtigte zu Hause als vor vier Jahren.

Das Gros der Organisationen, die dem Widerstand nahestehen, lehnt ein Votum unter Okkupationsbedingungen grundsätzlich ab. »Aus unserer Sicht sind die Wahlen zu den Provinzräten, wie auch alle anderen Arten von Wahlen, die unter Besatzung stattfinden, nutzlos und rechtfertigen nur die Besatzung«, erklärte beispielsweise Scheich Harith Al-Dhari, der Führer der Assoziation muslimischer Schriftgelehrter im Irak (AMSI). Auch während des Wahlkampfes gingen Razzien und die willkürliche Gefangennahme von Oppositionellen weiter. Für radikale Gegner der Besatzung war daher an eine aktive Beteiligung an den Wahlen ohnehin nicht zu denken.

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Neue Koalitionen im Irak
Al-Maliki und Al-Sadr proben Bündnisse auf Lokalebene. US-Besatzer verhandeln mit Exmilitärs über Rückkehr aus Exil
http://www.jungewelt.de/2009/02-27/014.php

Die Bewegung des populären schiitischen Geistlichen Muqtada Al-Sadr ist zu den Provinzwahlen im Irak nicht angetreten, sondern hat zur Unterstützung unabhängiger Listen aufgerufen, auf denen auch Sadr-nahe Kandidaten vertreten sind. Dies allein hat schon einen guten Teil der Anhänger Al-Sadrs davon abgehalten, im vergangenen Monat zu den Urnen zu gehen. Zudem sah sich die Führung der Bewegung gezwungen, aus Sicherheitsgründen erst kurz vor der Wahl bekanntzugeben, welche Listen sie unterstützt.

Al-Sadr hatte den Verzicht auf eigene Listen bereits im Juni des vergangenen Jahres angekündigt. Zum einen wollte er so die direkte Konfrontation mit der Regierung Nuri Al-Malikis beenden. Die guten Wahlchancen seiner Bewegung waren ein wesentliches Motiv für die militärischen Angriffe von Regierungs- und Besatzungstruppen auf seine Hochburgen im Frühjahr 2008 gewesen. Auf Druck der US-Führung hatte der »Nationale Sicherheitsrat« des Irak zudem angekündigt, der Bewegung die Zulassung zu den Wahlen zu verweigern. Zum anderen trug Al-Sadr damit aber auch der generellen Skepsis unter seinen Anhängern – vor allem in den schiitischen Armenviertel der Hauptstadt Bagdad und der südirakischen Ölmetropole Basra – gegenüber der Teilnahme am »politischen Prozeß« Rechnung.

Militärisch war zwar Al-Maliki aus den Offensiven als Sieger hervorgegangen. Nach Abschluß der Waffenstillstandsabkommen mit Al-Sadr, über deren Inhalt wenig bekannt wurde, begann der Premier jedoch, einen guten Teil dessen umzusetzen, was sein populärer Kontrahent schon lange von ihm forderte. So war die Weigerung Al-Malikis, einen verbindlichen Zeitplan für den Abzug der Besatzer auf die Tagesordnung zu setzen, der Hauptgrund der Bewegung Al-Sadrs, aus der sogenannten Einheitsregierung in Bagdad auszutreten. Nun machte Al-Maliki einen solchen Zeitplan zur entscheidenden Vorbedingung für ein Stationierungsabkommen mit den USA, das schließlich Ende 2008 unterzeichnet wurde. Al-Maliki wandte sich zudem auch aktiv gegen die Autonomiebestrebungen der schiitischen SIIC-Partei im Südirak und wehrte – z.T. sogar unter Einsatz von Regierungstruppen – territoriale Ansprüchen der Kurden im Norden ab.

Dies war nicht nur eine Gegenleistung für das Stillhalten Al-Sadrs. Er kam so auch der grundlegenden Stimmung im Land entgegen und machte den Weg zu neuen Bündnissen frei. Im Süden sicherte sich der Regierungschef z.B. die Unterstützung nationalistischer Stammesführer. Al-Maliki gründete Stammesräte und -milizen nach dem Vorbild der sunnitischen »Awakening-Bewegung« und versorgte diese mit erheblichen Summen aus der Staatskasse. Berichten zufolge sollen insgesamt 100 Millionen US-Dollar an Al-Malikis neue Verbündete geflossen sein.

Nach Informationen irakischer Medien geht Al-Maliki nun in den Provinzen mit den Sadr-nahen Listen Koalitionen ein. Daneben bemüht er sich offenbar auch darum, Unterstützung aus dem Umfeld ehemaliger baathistischer Offiziere zu bekommen. So bietet er ihnen eine Rückkehr in ihre früheren Jobs in der Armee an. Indem sich Al-Maliki nun für Verfassungsänderungen einsetzt und für ein Ende des ethnisch-konfessionellen Proporzes, dem entsprechend seit der US-Invasion 2003 alle wichtigen Posten besetzt werden, hofft er, auch die Unterstützung anderer nationalistischer Kräfte zu bekommen. Diese wird er vielleicht auch bald benötigen. Denn selbstverständlich setzten die Parteien, die am meisten vom jetzigen System profitieren, alles daran, dieses zu erhalten. Die Kurdenparteien, der SIIC und die Islamische Partei arbeiten seit längerem daran, Al-Maliki durch ein Mißtrauensvotum zu stürzen. Vermutlich erhalten sie nun dabei Unterstützung vom ersten Interimspremier, dem CIA-Mann Ijad Allawi. Dieser unterstützte in letzter Zeit die nationalistische Opposition, scheint nun aber, wie Koalitionsgespräche mit dem SIIC und ein Treffen mit Großajatollah Ali Al-Sistani andeuten, bereit, die Seiten zu wechseln.

Bisher haben die USA alle Versuche, Al-Maliki auszubooten, sehr schnell beendet. Noch ist nicht klar, ob ein Kurswechsel Allawis von US-Seite jetzt gefördert wird, weil Al-Maliki Washington zu eigenmächtig wird. Oder ob Allawi nun Chancen sieht, selbst zum »starken Mann« in Bagdad aufzusteigen. Gegenwärtig deutet mehr daraufhin, daß die Besatzungsmacht weiterhin auf ihren Premier setzt und auch nach wie vor die Fäden in der Hand hält: So führen die Gespräche mit den einstigen baathistischen Offizieren nicht etwa Vertreter Al-Malikis. Eine US-Delegation traf sich zwei Wochen lang mit den geschaßten hochrangigen Militärs in Amman, um mit ihnen ausführlich über ihre Bedingungen für eine Rückkehr und ihre Vorschläge für eine Neustrukturierung der irakischen Sicherheitskräfte zu erörtern.

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