Falludscha erneut unter Belagerung - Die Stadt wird ausgehungert und bombardiert

An der geschundenen Stadt zeigt sich exemplarisch die Brutalität und Kontraproduktivität des Krieges gegen den „Islamischen Staates“ im Irak
(erschien leicht gekürzt auf der Thema-Seite der jungen Welt vom 01.06.2016)

Siehe dazu auch den dringenden Appell des ehem. schottischen Europa-Abgeordneten Struan Stevenson  für die Menschen in Falludscha
und Jürgen Todenhöfers offenen Brief an US-Präsident Obama: "Nicht schon wieder Falludscha! "

Wer die fürchterlichen Angriffe der US-Truppen auf Falludscha 2004 verfolgte, konnte sich kaum vorstellen, dass der Großstadt am Euphrat noch Schlimmeres bevorstehen könnte. Doch die einstige „Stadt der Moscheen“ wird seit einem erfolgreichen Volksaufstand im Januar 2014 von Regierungstruppen belagert und bombardiert und geriet im Sommer 2014 zudem unter die Herrschaft des »Islamischen Staates«. Seit Februar sind alle Versorgungswege in die Stadt unterbrochen. Die letzten Vorräte sind aufgebraucht, Zigtausende Bewohner hungern. Der Angriff auf die Stadt steht nun kurz bevor. Ihr droht, wie zuvor Tikrit und Ramadi, die weitgehende Zerstörung und der verbliebenen Bevölkerung Racheaktionen schiitischer Milizen.
 
Dies sei die bisher härteste Situation, so Um Hussein, eine 59jährige Bürgerin der Stadt, die alle Angriffe auf die Stadt seit 2003 miterlebt hat, am 30. März gegenüber Al Jazeera, „Die Leute sitzen in der Stadt fest und es gibt keine sichere Route um zu entkommen.“ Der „islamische Staat“ kontrolliere die Stadt von innen, die Regierungstruppen und Milizen von außen. „Niemand darf sie verlassen.“ Man habe jedes Mitleid mit den Menschen in Falludscha verloren und überlasse sie einem langsamen Tod. „Die Kinder in der Stadt heulen vor Hunger. Was sollen wir ihnen sagen?“ [1]

Das arabische „Guernica“

Falludscha ist vermutlich die irakische Stadt, die am stärksten von Krieg und Besatzung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Beim zweiten Großangriff der US-Truppen im November 2004 wurden siebzig Prozent aller Gebäude verwüstet. Die Stadt wurde zum „Guernica der arabischen Welt“.[2] Gemäß der Bestandsaufnahme, der von der Regierung eingesetzten „Entschädigungskommission für die Bürger Falludscha“, zerstörten die Angreifer 36.000 Wohnhäuser, 8.400 Geschäfte, 60 Schulen und 65 Moscheen, sowie zwei Kraftwerke, drei Abwasseranlagen und das gesamte Wasser- und Telefonsystem der Stadt.[3] Die US-Armee setzte dabei auch in hohem Maß Uranmunition und chemische Waffen wie die geächtete Phosphorbomben ein. Das „Studienzentrum für Menschenrechte und Demokratie in Falludscha“ (SCHRD) schätzt die Zahl der Opfer auf 4.000 bis 6.000.[4] Die Stadt wurde zum „Guernica der arabischen Welt“.[5] (Mehr dazu auf der Seite des Justice for Fallujah Project, http://thefallujahproject.org )

Erfolgreicher Aufstand und „Islamischer Staat“

Seit Januar 2014 ist die Stadt erneut unter Beschuss. In dem Maße wie die breite zivile Protestbewegung der sunnitischen Bevölkerung gegen ihre systematische Ausgrenzung und Unterdrückung durch das von den USA geschaffene Regime unter Nuri al-Maliki im Laufe des Jahres 2013 blutig niedergeschlagen wurde, waren die Proteste in den sunnitischen Provinzen vielerorts in einen bewaffneten Aufstand übergegangen. Als im Dezember 2013 Regierungstruppen ein großes Protestcamp im Zentrum Falludschas stürmten und ein weiteres Mal ein Blutbad unter friedlichen Demonstranten anrichteten, ging die dortige Stadtbevölkerung auf die Barrikaden und trieb Armee und Nationalpolizei aus der Stadt. Ein aus Stammesführern, ehemaligen Armee-Offizieren, Geistlichen und andere führenden Persönlichkeiten gebildeter „Militärischer Rat“ übernahm die Kontrolle (siehe jW-Thema vom 16. und 17.12.2014 [6]). Einheiten des „Islamischen Staates im Irak und der Levante“ (ISIL, arab. Daesch [7]), die die Situation auszunutzen suchten, wurden an den Stadtrand verbannt. Auch in den folgenden Monaten konnten die Dschihadisten, wie u.a. das Nahostteam der transatlantischen Denkfabrik International Crisis Group (ICG) und die New Yorker Organisation Human Rights Watch (HRW) Ende April bzw. Ende Mai berichteten, nur vom Rand der Stadt aus operieren. [8] Dennoch schrieben die Medien, Falludscha sei in der Hand der Dschihadistenmiliz, und Bagdad erhielt internationale Unterstützung für das militärische Vorgehen gegen die angebliche „Terroristen-Hochburg“.

Das irakische Regime unter Nuri al Maliki verweigerte jegliche Verhandlungen mit den Repräsentanten der Stadt, in der damals mehr als 300.000 Menschen wohnten, und ließ sie unter Beschuss nehmen. Die USA lieferten dafür Waffen und auch die UN-Mission im Irak stellte sich hinter Maliki, ohne ein einziges Mal mit Vertretern der Stadt zu sprechen. Sie billigte die Angriffe auf Falludscha, obwohl bereits in den ersten vier Wochen mindestens 109 Zivilisten durch Artilleriebeschuss getötet und 632 verwundet worden waren.

Die Bürger Falludschas hatten nichts für den „Islamischen Staat“ übrig, so die ICG in ihrem Report über die Ereignisse, aber die fortwährende Angriffe steigerten Woche für Woche den Hass auf Zentralregierung und Armee, während die Dschihadisten halfen, deren Angriffe immer wieder zurückzuschlagen. Dies wiederum konnte die Regierung zur Rechtfertigung weiterer Angriffe nutzen – ein Teufelskreis, so die ICG, aus dem die Stadt in der Folge nicht mehr heraus kam. Mit dem Erstarken von Daesch und der Ausweitung seiner Kontrolle über große Teile Westiraks wurde er auch in Falludscha die dominierende Kraft.

Berichte über Zusammenstöße zwischen den Dschihadisten und anderen Kämpfern zeigen, dass er nicht unangefochten herrscht. Doch wie stark auch die Differenzen sein mögen, die Feinde vor den Toren der Stadt, werden von der Mehrheit der Bewohner nach wie vor als wesentlich schlimmer angesehen.

„Falludscha ist am Verhungern“

Nach der Eroberung Ramadis im Dezember 2015 schlossen Regierungstruppen und schiitische Milizen mit Unterstützung der US-Armee die letzten Versorgungswege der Stadt. Rasch gingen die restlichen Vorräte an Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Güter zu Ende. Gleichzeitig lässt Daesch Berichten zufolge niemanden mehr aus der Stadt und blockieren nach UNHCR-Angaben auch die Belagerer mögliche Fluchtwege.[9] Darüber, wie viele Menschen sich noch darin aufhalten, gehen die Angaben auseinander. „Bis zu 50.000 Bewohner sehen sich Hunger und Tod gegenüber“, teilte Lise Grande, Chefin der UN Mission für den Irak, in ihrer Alarmmeldung Anfang April mit. [10] Das World Food Programme (WFP) der UNO geht von 30.000 bis 60.000 verbliebenen Bewohner aus, ein irakischer Brigadegeneral sprach von 100.000[11], Al Jazeera von 80.000 bis 100.000 [12]

Einig sind sich alle, dass sich die humanitäre Situation in den letzten drei Monaten drastisch verschlechtert hat und die Stadt vor einer Katastrophe steht. HRW hatte Anfang April die Namen von 140 Menschen erhalten, hauptsächlich alte Menschen und Kinder, die schon aufgrund des Mangels an Nahrung und Medizin gestorben sind – dies dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein.

Im Bericht des WFP zur Lage im März heißt es, dass Geschäfte und Märkte seit Januar keinen Nachschub an Nahrungsmittel mehr bekommen hätten, keinen Weizen, keinen Reis, kein Gemüse, keine Linsen. Es gebe kein Gas zum Kochen und nur wenige Stunden am Tag Strom. Die wenigen Lebensmittel, die es noch gibt, würden zu exorbitanten Preisen verkauft. Für ein Kilogramm Mehl, das in Bagdad 30 US-Cent kostet, muss man hier 15 Dollar hinlegen. Viele seien gezwungen, Suppen aus Gras zu essen, so HRW. Auch arabische Medien berichten, dass die Menschen in ihrer Not Gras und Blätter von Bäumen essen würden. [13]

Kinder, die Blätter essen und horrende Schwarzmarktpreise, dies war Anfang des Jahres auch der Aufmacher vieler Berichte über die dramatische Lage in der „syrischen Hungerstadt Madaja“. [14] Im Unterschied zu Falludscha war ihr breite Anteilnahme im Westen sicher, weil sie von der syrischen Armee, also dem gemeinsamen Gegner, eingekreist worden war. Die Situation dort ließ sich rasch entspannen. Nach internationaler Vermittlung zwischen den regierungsfeindlichen Milizen, die die Stadt kontrollierten und der Armee konnten nach wenigen Tagen wieder Hilfslieferungen nach Madaja gebracht werden. Für Falludscha ist keine Hilfe in Sicht.

Während die Welt zuschaue, sind gewöhnliche Menschen mit akuter Unterernährung und Hunger konfrontiert, so die in London lebende, irakisch-turkmenische Schriftstellerin Nazli Tarzi. Dabei sollte es, wenn es um Hilfe für notleidende Menschen geht, doch keine Rolle spielen, dass sie in einer vom Daesh eroberten Stadt wohnen. [15] Mittels einer Online-Kampagne unter dem Titel „Falludscha verhungert (Fallujah Is Being Killed by Starvation,”) versucht der irakische Journalist Mohammad Arab die internationale Gemeinschaft zu bewegen, sich für das Ende der Belagerung einzusetzen. Auch aus der EU kommt ein entsprechender Appell. Struan Stevenson, Präsident der „European Iraqi Freedom Association (EIFA)” ruft im Namen seiner Organisation dazu auf, die „menschenverachtende Blockade“ der Stadt umgehend zu beenden.[16] Stevenson war von 1999 bis 2014 Abgeordneter der schottischen Konservativen im Europäischen Parlament und von 2009 bis 2014 Präsident der „Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zum Irak“.

HRW fordert ebenfalls, die Abriegelung der Stadt umgehend aufzuheben und verlangt allgemein eine größere internationale Aufmerksamkeit für die Lage in den belagerten Städten der Region. Das Kriegsrecht untersage nicht die Belagerung feindlicher Truppen, so HRW, sie verbiete aber das Aushungern der zivilen Bevölkerung. Dies sei ein Kriegsverbrechen. Alle Appelle blieben bisher jedoch ohne Resonanz.

Tod aus der Luft

Akuter noch als vom Hunger ist das Leben der Menschen in Falludscha von dem seit über zwei Jahren anhaltenden flächendeckenden Bombardement der Regierungstruppen und Milizen bedroht, das zum großen Teil auch auf zivile Ziele niedergeht. So wurde beispielsweise am 3. März 2015 eine Grundschule und das Krankenhaus im Jamhouriya-Viertel, drei Tage später das Garma-Krankenhaus und am 13. August 2015 das Kinderkrankenhaus der Stadt von Flugzeugbomben getroffen. Die US-Luftwaffe beteiligt sich an den Angriffen auf Stellungen in der Stadt und ihrer Umgebung und ist, wie das Airwars-Projekt, das Buch über den internationalen Luftkrieg gegen den Daesch und andere Milizen in Syrien und Irak führt, auf seiner Seite dokumentiert, ebenfalls für zahlreiche zivile Tote verantwortlich.[17]

Den Bürgern drohe der Tod durch Daesh, wenn sie fliehen, und durch Luftangriffe, wenn sie bleiben, fasste Nazli Tarzi deren Ausweglosigkeit zusammen. Mediziner aus Falludscha teilten HRW mit, dass zwischen Januar 2014 und März 2016 insgesamt 3.455 Zivilisten und Kombattanten durch Luft- und Artillerieangriffe getötet und 5.769 verwundet wurden – rund ein Viertel davon Frauen und Kinder.[18]. Nach Angaben des Chefs des Zentralkrankenhauses von Falludscha vom Juli 2015 waren bereits bis dahin 8.488 tote oder schwer verwundete Zivilisten registriert worden, die Opfer „militärischer Angriffe und willkürlichem Bombardement“ geworden seien. Die tatsächliche Zahl liegt auch hier vermutlich um ein mehrfaches darüber. [19]

Jenseits von Daesch – Massaker, Brandschatzung und Vertreibung durch regierungstreue Milizen

Während es der irakischen Armee in anderen Städten der zeitweilig fast vollständig vom Daesch besetzten Provinz Anbar gelang, die Unterstützung einiger sunnitischer Stämme im Kampf gegen die Dschihadisten zu gewinnen, verweigern in Falludscha alle lokalen Stämme jeglichen Kontakt. Dasselbe gilt auch für bewaffnete Organisationen, wie die „Brigaden der 1920er Revolution“ oder die „Mudschaheddin Armee“, die sich bisher der Unterordnung unter oder Zusammenarbeit mit Daesh widersetzten. Auch sie sehen weiterhin in dem von schiitischen Parteien dominierten Regime in Bagdad den größeren Feind.[20]

Am meisten gefürchtet werden dabei die schiitischen Milizen, die den stärksten Teil der militärischen Kräfte in der Allianz gegen den Daesch stellen. Und das nicht ohne Grund ‒ stehen doch die schiitischen Gotteskrieger den sunnitischen an Brutalität kaum nach. Sie waren mit ihren Gräueltaten gegen Sunniten bereits in den Jahren 2006 bis 2008 – neben dem „Islamischen Staat im Irak“, dem Vorläufer von Daesch – maßgeblich für die damalige fürchterliche Eskalation sektiererischer Gewalt verantwortlich.

Ab 2013 traten sie im Zuge der Niederschlagung der Protestbewegung in den mehrheitlich sunnitischen Gebieten wieder stärker in Erscheinung, indem sie auf eigene Faust gegen sunnitische Oppositionelle vorgingen.[21] Als Daesch im Sommer 2014 in Richtung Bagdad vorstieß, weiteten auch sie ihre Angriffe gegen Hochburgen der sunnitischen Opposition aus.

Nach dem Aufruf des geistlichen Oberhaupt der Schiiten, Ayatollah Ali al-Sistani, das Land gegen die extremistische Miliz zu verteidigen, entstanden unter dem Dach der sogenannten „Volksmobilisierungseinheiten“ (arabisch „Hashd al-Shaabi“) zahlreiche neue schiitische Milizen. Am stärksten profitierten von der nun folgenden Mobilisierung die alt-bekannten, aufgrund ihrer Gräueltaten während des Bürgerkriegs berüchtigten Organisationen mit ihren engen Verbindungen zum Iran: die Badr-Brigaden, die „Liga der Gerechten“ und die irakische Hisbollah. Durch einen enormen Nachschub an modernen Waffen und militärische Unterstützung aus dem Iran wurden sie bald schlagkräftiger als die Armee.

Sie trugen am meisten dazu bei, den Vormarsch des ISIL zu stoppen und an vielen Stellen zurückzuschlagen. Ihre Siege waren jedoch begleitet von Racheaktionen gegen die verbliebene Bevölkerung. Es häuften sich rasch die Berichte von Menschenrechtsgruppen und UN-Organisationen über Massaker und die systematische Zerstörung sunnitischer Dörfer in zurückeroberten Gebieten.[22]


Rachefeldzüge und Vertreibungen

Nachdem Regierungstruppen, schiitische Milizen und kurdische Peschmerga Ende August 2014 mit Hilfe von Luftangriffen der US-Air Force die dreimonatige Belagerung der schiitisch-turkmenischen Stadt Amarli durch den Daesch brechen und die Dschihadisten gen Westen zurücktreiben konnten, begannen die schiitische Milizen wie auch einige Armeeeinheiten sunnitische Ortschaften rund um die 150 Kilometer nördlich von Bagdad gelegenen Stadt zu überfallen. Durch viele von ihnen war Daesch auf seinem Vormarsch durchgezogen. Große Teile ihrer Bewohner waren vor ihm geflohen, die Verbliebenen waren aber bis dahin weitgehend unbehelligt geblieben. Nun wurden viele als angebliche Sympathisanten getötet oder verschleppt, ein Großteil der Häuser geplündert und niedergebrannt.

Von HRW ausgewertete Satellitenaufnahme zeigen, dass 30 von 35 Dörfern in einem Gebiet von 500 Quadratkilometer der Provinz Salah ad-Din weitgehend zerstört wurden. Vertriebene Bewohner und Augenzeugen, darunter kurdische Peschmerga-Kommandeure, die an der Militäroperation beteiligt waren, berichten von mindestens 47 vorwiegend sunnitischen Ortschaften, die methodisch verwüstet wurden ‒ getrieben, so HRW, „von Rache und dem Bestreben, die demographische Zusammensetzung der traditionell gemischten Provinz zu ändern“. [23]

Von Milizen nach dem Sieg in Amerli und Umgebung zerstörte Gebäude<


HRW, After Liberation Came Destruction


Auch in der gleichfalls ethnisch und konfessionell gemischten Provinz Diyala, aus der Daesch wieder weitgehend vertrieben wurde, sind viele Gebiete von dem betroffen, das man nach , nach Auffassung von Raad al-Dahlaki, einem sunnitischen Parlamentsabgeordneter, der dem Ausschuss für Immigration und Vertreibung vorsteht, als „ ethnische Säuberung“ bezeichnen muss. Die Regierung unternehme nichts, um dem Treiben schiitischer und kurdischer Milizen Einhalt zu gebieten, die alles tun, die Geflohenen daran zu hindern, in ihre Häuser zurückzukehren.[24]

Dutzende prominente örtliche Persönlichkeiten und Scheichs wurden bereits in diesen Gebieten von den Milizen getötet und die Zerstörung zahlreicher sunnitischer Moscheen nötigte die UNO zu einer förmlichen Verurteilung..[25] Auf einer Tour durch kurz zuvor vom Daesch zurückeroberten Gebieten, sahen Reporter der Washington Post Ortschaften, in denen jedes Haus niedergebrannt worden war. Im Dorf Barwana wurden die Leichen von 70 sunnitischen Männern gefunden, die nach dem Rückzug von Daesch exekutiert worden waren. Sie waren Zivilisten, die Zuflucht in Barwana vor den Kämpfen gesucht hatten.[26]<

Die Führer der Milizen machen wenig Hehl aus ihren Zielen. So drohte Hadi al-Ameri, der Chef der Badr Brigaden und Transportminister unter der letzten Regierung, am 29. Dezember 2015 den Bewohner der Stadt Muqdadiyah und ihrer Umgebung, der „Tag der Abrechnung“ sei gekommen. „Wir werden die Gegend angreifen, bis nichts mehr übrig ist.“[27]<

Die sunnitischen Stämme und Organisationen, die die irakische Regierung, wie auch US-Kommandeure vor Ort, für ein Bündnis gegen Daesch gewinnen wollen, werden auch ihre Schlüsse aus dem Geschehen in Tikrit vor einem Jahr gezogen haben. Die im Juni 2014 von den Dschihadisten besetzte Hauptstadt der Provinz Salah ad-Din war in einer Großoffensive, in der am Ende auch US-amerikanische Kampflugzeuge eingegriffen hatten, im Laufe des März 2015 zurückerobert worden. Schiitischen Milizen stellten dabei gut zwei Drittel der Bodentruppen. Diese begannen auch hier unmittelbar nach Abzug der letzten Einheiten des Daesh mit umfassenden Racheaktionen gegen die Bevölkerung, die sie pauschal als Anhänger der Dschihadistenmiliz betrachten. Sie führten Massenhinrichtungen durch, plünderten und brandschatzten. [28] „In Tikrit herrscht das Chaos, die Lage ist außer Kontrolle so Ahmed Al Krayam, der Vorsitzende des Provinzrates von Salah ad-Din, gegenüber Reportern. „Polizei und Behörden können die Milizen nicht aufhalten.“ [29] Nach Recherchen von HRW wurden dabei mindestens 950 Wohnhäuser und 95 Geschäfte „vorsätzlich und ohne ersichtlichen militärischen Grund“ in die Luft gejagt oder niedergebrannt. Von den mehr als 200 verschleppten Bürgern, die die Organisation registrierte, darunter auch Kinder, fehlt seither jede Spur. [30]

Auch in den folgenden Monaten verbesserte sich die Situation nicht. Tikrit ist seither eine stark zerstörte Geisterstadt. Den meisten der 200.000 Bewohner, die vor Daesh oder den Kämpfen geflohen waren, erschien eine Rückkehr bisher zu gefährlich. Neben den Milizen ziehen auch kriminelle Banden ungehindert durch die Straßen und die Reste von Verwaltung und Polizei sind nicht in der Lage, für Ordnung zu sorgen. Wasser- und Stromversorgung ist kaum mehr vorhanden, von Wiederaufbau keine Spur. [31]

„Wenn so ein Sieg aussieht …“

Die Rückeroberung von Ramadi, der Provinz-Hauptstadt von Anbar mit dreihundert bis vierhunderttausend Einwohnern wird auch keinen sunnitischen Stammesführer, Politiker oder Aufständischen oder Politiker ermuntert haben, sich mit den Regierungskräften zu verbünden. Bei der von der US-Luftwaffe mit 600 Angriffen unterstützten Großoffensive wurden rund 80 Prozent der Stadt zerstört.[32] Als ein Reporter der NYT angesichts von gewaltigen Trümmerhaufen, die nicht mehr erkennen ließen, wo einst die Gebäude standen, den ihn begleitenden irakischen General fragte, in welche Wohnungen denn geflohenen Einwohner zurückkehren könnten, antwortete dieser „Wohnungen? Es gibt keine Wohnungen mehr.” [33] Sabah Karhout, der Vorsitzende des Provinzrates von Anbar schätzt das für den Wiederaufbau der Stadt 12 Milliarden Dollar nötig sein werden. Ramadi sei nun eine Geisterstadt, ohne internationale Hilfe wird sie nicht wieder aufgebaut.

Schätzungen irakischer Stellen zufolge wurden in den vom Krieg gegen Daesch betroffenen Provinzen vermutlich 80 Prozent der Infrastruktur – von Straßen und Brücken über Stromversorgung, Trink- und Abwassersysteme bis zu medizinischen Versorgung – beschädigt oder zerstört. [34]

Wenn der US-Verteidigungsminister im Zusammenhang mit den Plänen zur Vertreibung des Daesch aus Mosul, einer Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern, Raqqa mit 200.000 Einwohnern, Falludscha und zahlreichen anderen Städten von »Vernichtungsoperationen« spricht, so bekommt dieser Begriff angesichts der Resultate bisheriger Offensiven eine gefährliche Bedeutung, so Tom Engelhard in seinem Artikel „Wenn Ramadi so ist, wie ein ›Sieg‹ gegen ISIS aussieht, dann sind wir in Schwierigkeiten“. Würden sie doch zweifelsohne die buchstäbliche Vernichtung der urbanen Infrastruktur bedeutender Teile der Region mit sich bringen.[35]

Die Belagerer von Falludscha haben am 23. Mai begonnen den Kreis um die Stadt noch enger zuziehen.[36] Über 20.000 Soldaten, Spezialeinheiten und schiitische Milizionäre, unterstützt von iranischen Beratern, stehen nun unmittelbar vor den Toren. Eingebettet in die irakischen Elitetruppen sind US-Berater, die die Luftangriffe steuern. Mit Hilfe dieser US-Luftangriffe können sie Falludscha vermutlich einnehmen, so der kurdische Gouverneur der Provinz Kirkuk, Najmaldin Karim, gegenüber dem britischen Independent. Die Stadt werde jedoch dabei zerstört werden. [37]Während die höchste schiitische Autorität im Land, Groß-Ayatollah Ali al-Sistani, am 25. Mai die Angreifer aufforderte, Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, riefen Führer schiitischer Milizen offen dazu auf, an den sunnitischen Bewohnern, die alle Unterstützer des Daesch seien, Rache zu üben und die Gelegenheit zu nutzen, das »Krebsgeschwür Falludscha auszumerzen.« [38]
Gleichzeitig zerstören die immer intensiveren Luftangriffe der US-geführten „Anti-IS-Allianz“ auf Mosul in immer größerem Maße dessen zivile Infrastruktur und forderten bereits hunderte Opfer unter der Zivilbevölkerung. Die Propagandaabteilung des Daesch greift diese „Hilfe“ dankbar auf.[39]

Das auch von der Bundesregierung unterstützte Vorgehen Bagdads, Washingtons und Teherans gegen die Terrormiliz wird diese nicht zur Strecke bringen, den Konflikt der sunnitischen Bevölkerung mit den das Land dominierenden schiitischen Kräften aber weiter verschärfen.

Während sich in der irakischen Hauptstadt eine starke oppositionelle Bewegung gegen das unter US-Besatzung entwickelte Regime entwickelt, die sich nicht zuletzt gegen dessen sektiererische Ausrichtung und die Spaltung des Landes entlang ethnischer und konfessioneller Linien richtet,[40] beteiligt sich der Westen weiterhin an einem Krieg, der sich keineswegs nur gegen den „Islamischen Staat“ richtet, sondern gegen weite Teile der sunnitischen Bevölkerung. Die internationale „Anti-IS-Allianz“ bemüht sich beim Kampf gegen den Daesch genauso wenig wie Bagdad um eine klare Trennung zwischen den Dschihadisten und den aufständischen sunnitischen Kräften, eine Trennung, wie sie von Experten, wie dem Nahostteam der International Crisis Group, von Beginn an gefordert wurde.

Ungeachtet einzelner Erfolge gegen Daesch, kann dieser nur ‒ wie sein Vorgänger zwischen 2006 und 2008 ‒ mit Unterstützung einer Mehrheit der Sunniten vollständig ausgeschaltet werden. Wer in tatsächlich besiegen will, muss daher dafür sorgen, dass die legitimen politische Anliegen der Sunniten erfüllt und deren Interessen in Bagdad adäquat vertreten werden. Er muss für die Bildung einer Regierung eintreten, die tatsächlich alle relevante Kräfte vertritt, den Provinzen mehr Autonomie gewährt und eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sicherstellt.<

[2] Jonathan Steele and Dahr Jamail, Fallujah: “This is our Guernica”, The Guardian 16.6.2005, Saul Landau, Where's the New Picasso? – Fallujah, the 21st Century Guernica, Counterpunch, 27.11.2004<

[3] Iraq: Compensation for Fallujah residents slow – locals, IRIN (UN-Informationsdienst), 4.4.2005<

[4] Dahr Jamail, Life Goes On in Fallujah’s Rubble, IPS, 25.11.2005


[5] Testimonies of Crimes Against Humanity in Fallujah -- Towards a Fair International Criminal Trial, 15th Session of the UN Human Rights Council, Geneva, 13.9.- 1.10.2010 vorgelegt von Conservation Centre of Environmental & Reserves in Fallujah (CCERF) und Monitoring Net of Human Rights in Iraq (MHRI)<

[6] J. Guilliard, Der endlose Krieg, jW 16.12. und 17.12.2014<

[7] Daesch (genauer „dāʿiš“) ist zwar eine korrekte Abkürzung des arabischen Namens der Truppe, „Al-Daula al-Islamija fil-Irak wal-Scham” (bzw. ad-daula al-islāmiyya fī l-ʿIrāq wa-š-Šām), wird aber von ihr selbst abgelehnt und, da sie – ausgesprochen – Begriffen wie „Fanatiker“, „jemand der Zwietracht säht“ … ähnelt, rein abwertend verwendet ‒ als Name, um nicht die Selbstdarstellung der Dschihadisten als „Staat“ und „islamisch“ zu stützen.<

[8] Iraq: Falluja's Faustian Bargain, International Crisis Group, Middle East Report N°150, 28.4.2014,
Dahr Jamail, Iraqi Government Killing Civilians in Fallujah, Truthout, 3.3.2014, Iraq: Government Attacking Fallujah Hospital: Barrel Bombs Hit Residential Areas, Human Rights Watch, 27.5.2014.<

[11] Thomas Pany, Die Belagerung von Falludscha – Hungersnot und humanitäre Katastrophe: Zigtausende Bewohner werden vom IS drangsaliert und von der irakischen Armee belagert, die Hilfskorridore sind geschlossen, Telepolis, 30.03.2016<

[13] Thomas Pany, a.a.O.<

[16] Humanitarian catastrophe in Fallujah – Call for urgent action to end callous food and medicine blockade of Fallujah, Struanstevenson.com, 4.4.2016<

[18] Iraq: Fallujah Siege Starving Population ‒ Government Forces Block Aid; ISIS Bars Civilian Flight, HRW, 7.4.2016<

[27] Iraq: Militias Escalate Abuses, Possibly War Crimes ‒ Killings, Kidnappings, Forced Evictions, HRW, 15.2.2015, siehe auch UNHCR Report human rights situation in Iraq in the light of abuses committed by ISIL and other forces, UN HRC, 13.3.2015, A_HRC_28_18_AUV<

[31] Tikrit: Iraq’s Abandoned City, New York Review of Books, 4.5.2015, «Tikrit ist eine Geisterstadt», SRF, 7..5.2015<

[36] The Campaign for Fallujah: May 26, 2016, Institute for the Study of War (ISW), 27.5.2016<

[37] Patrick Cockburn, Air strikes on Isis in Iraq and Syria are reducing their cities to ruins, in Irbil, Independent, 27.5,2016<

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