Iran und die Wahlen - Ein kritischer Blick auf virulente, anonyme "Wahrheiten"
Chavi Dehdarian sah sich daher diese Meldungen anonymer Insider und ihre Funktion genauer an und schickte mir seine Analyse zur Info zu. Mit seinem Einverständnis dokumentiere ich sie im folgenden als Gastkommentar. (Er kam 1975 aus dem Iran nach Deutschland, lebt in Backnang bei Stuttgart und ist dort in der Friedensbewegung aktiv.)
(s. dazu auch "Verwirrung mit Zahlen aus anonymer Quelle" im Tagebuch Iran der Arbeiterfotografie)
Iran und die Wahlen
Über die Wahlen im Iran sind viele Veröffentlichungen erschienen, mit deren Hilfe versucht wurde, die Ergebnisse der Wahlen infrage zustellen und einen Wahlbetrug zu beweisen
Einer diese Beweise ist eine von anonymen Insidern veröffentlichte „Mitteilung des Innenministeriums“, die angeblich nur an das Oberhaupt der Islamischen Republik Ayatollah Khamenei gerichtet war. Indem sie übers Internet rund um den Globus verbreitet wurde trug sie auf einmalige Weise zu den Auseinandersetzungen nach den Wahlen bei.
In dieser Mitteilung wird dem Oberhaupt mitgeteilt, dass die abgegebenen Stimmen gegen seinen Wunschkandidaten, d.h. Ahmadinedschad, sprechen und Mussawi die Wahlen gewonnen habe. Sie verbreitete sich kurz nach der Auszählung der Stimmen rasch durch unsere schnelle Kommunikationswelt und führte dazu, dass Mussawis Anhänger im In- und Ausland begannen, den Sieg ihres Kandidaten zu feiern.
Inzwischen werden die Angaben dieses Dokumentes auch von linken und bekannten Persönlichkeiten, wie Prof. Mohssen Massarrat (wie in seinem Rundschreiben vom 22.Juni) benutzt, um nachzuweisen, dass die Wahlen im Iran gefälscht seien und den Wahlsieg von Ahmadinedschad in Frage zu stellen-
Damit wir über dieses „Insider-Schreiben“ diskutieren können, möchte ich es zuerst aus dem Persischen in die Deutsche-Sprache übersetzen. Die Mitteilung, die ich auch übers Internet erhalten habe, ist am Ende meines Schreibens als Faksimile angehängt. Zudem, für die die mit den persischen Zahlen nicht vertraut sind, eine Tabelle mit den persischen Zahlen und ihre deutsche Entsprechung.
Die Übersetzung lautet wie folgt:
Allah
Nummer __________ Die Islamischen Republik Iran Der Innenminister Datum 13.6.2009 Das Innenministerium An das geehrte Oberhaupt Ayatollah Khamenei Gott sei mit ihnen [Salam Alikum] Da Sie über den Ausgang der zehnten Wahl des Präsidenten der Republik besorgt sind und unbedingt möchten, dass Herr Dr. Mahmud Ahmadinedschad in dieser kritischen Zeit Präsident der Republik bleibt , haben wir alles unternommen, damit der Wahlausgang zu Gunsten der Revolution und des Systems bekannt gegeben wird. Falls es nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu Unruhen kommen sollte, so haben wir die notwendigen Maßnahmen getroffen. Die Führer der Parteien sowie die Kandidaten des Präsidenten sind unter Kontrolle. Aber zu Ihrer Kenntnis geben wir Ihnen den tatsächlichen Wahlausgang wie folgt bekannt:
Der Innenminister Im Auftrag (Unterschrift) Kopie (keine) |
Meine kritische Betrachtung über dieses „Insider-Schreiben“ ist folgende;
- Ich bin der Meinung dass eine so wichtige Mitteilung vom Innenminister selbst und nicht nur in seinem Auftrag unterschrieben sein sollte.
- Eine so wichtige Mitteilung würde nicht ohne Vorgangsnummer und Kopie angefertigt. (Siehe unten die Kopie: ganz oben links ist keine Nummer, sondern nur ein Strich und ganz unten rechts steht „keine Kopie des Dokument vorhanden“.)
- Bei der Addition der einzelnen angegebenen Stimmen fällt auf, dass die Summe der gesamten abgegebenen Stimmen von 42.026.078 nicht mit der Summe der Stimmen der Kandidaten – 41.954.078 – übereinstimmt. Die Differenz zwischen den beiden Zahlen beträgt 72000 Stimmen.
Ich denke bei einem so wichtigen Schreiben sollten die Zahlen wenigstens in sich stimmen.
Iraner, die mit der Wortwahl von Schreiben an eine so hohe Persönlichkeit vertraut sind, werden zudem sofort merken, dass hier etwas nicht stimmt, da man den Text anders formulieren würde.
Nun zum Rundschreiben von Herrn Prof. Mohssen Massarrat vom 22.Juni (1), in dem er Zweifel am Wahlbetrug entgegentritt und dazu, wie oben erwähnt, diese „Insider-Veröffentlichung“ heranzieht. Hier lesen wir folgendes:
Tatort Innenministerium
... Zunächst einmal Fakten und Quellen zu tatsächlichen Wahlergebnissen: Insider aus dem iran. Innenministerium haben anonym folgende detaillierte Angaben zu den Wahlen am 12. Juni 2009 im Iran veröffentlicht:
– | Mussawi: | 19.075.623 | (45,38 %) |
– | Karrubi: | 13.378.109 | (31,82 %) |
– | Ahmadinedschad: | 5.698.417 | (13,55 %) |
– | Rezai: | 3.754.218 | (8,92 %) |
– | Ungültige Stimmen: | 137.816 | (0,33 %) |
– | Abgegebene Stimmen: | 42.044.178 | (100 %) |
– | Stimmberechtigte: | 49.322.412 |
Vergleicht man diese Zahlen mit den Zahlen des ersten „Insider Schreibens“ so stellt man fest, dass nur bei 3 Kandidaten: Mussawi, Ahmadinedschad und Rezai die Stimmenzahlen übereinstimmen. Die ungültigen Stimmen werden in Massarrats Text mit 137.816 angegeben, im „Insider Dokument“ mit 38.716. Herr Karrubi hat hier statt 13.387.104 nur noch 13.378.109 Stimmen. Damit stimmt allerdings hier die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen mit der Summe der vier Kandidaten plus den ungültigen Stimmen überein.
Die britische Zeitung The Guardian nannte in einem Artikel vom 15.Juni 2009 exakt die gleichen Zahlen wie im erstgenannten „Insider Schreiben.“ Ihm zufolge wurden die Informationen von Ebrahim Amini, einem Berater von Karrubi verbreitet.
Gehen Massarrats Zahlen auf eine andere anonyme Quelle zurück oder nur auf Leute, die die widersprüchlichen Zahlen aus dem Schreiben, das als Faksimile vorliegt, stimmiger machten?
Einen weiteren Schlag erhält die Glaubwürdigkeit dieser Zahlen durch weitere, stark abweichende „wahre“ Wahlergebnisse, die u.a der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurden. Im Artikel von Martin Gehlen v. 16.6 2009 mit dem Titel „Inoffizielle Informationen belegen Wahlbetrug“ zitiert auch Gehlen ein Wahlergebnis das „anonyme Kreise des Innenministeriums“ bekannt gemacht hätten. Danach wäre die Stimmverteilung wie folgt gewesen:
- Mussawi 57,2 Prozent, das entspricht 21,3 Millionen Stimmen
- Ahmdinedschad 28,0 Prozent " 10,5 Millionen
- Mohsen Rezai 7,2 Prozent " 2,7 Millionen
- Karrubi 6.0 Prozent " 2,2 Millionen
Diese „Insider“ geben somit Ahmadinedschad doppelt soviel Stimmen wie die erstgenannten und damit Platz 2. Herr Karrubi rutscht mit 2,2 statt 13,2 Millionen Stimmen bei den von seinem Berater veröffentlichten Ergebnissen, vom zweiten auf den vierten Platz.
Der Guardian zitiert in o.g. Artikel diese Zahlen auch, beide Auflistungen jedoch eher als Beispiel, wie schwer es ist, gelaubwürdige Informationen zu bekommen.Bei kritischer Betrachtung kann ich daher nur dem Autor Esam Al-Amin zustimmen, der in seinem, in der Junge Welt von 22.6.2009 veröffentlichten, Artikel feststellt, dass alle anonyme Schreiben über die Wahlen im Iran gefälscht sind (2).
Man fragt sich was steckt hinter diesem Insider Dokument? Was wollte man mit dieser Veröffentlichung die nicht nur im Iran sondern rund um den Globus verbreitet wurde eigentlich erreichen?
Ich bin zu der folgenden Überzeugung gekommen;
Die Gruppen um Mussawi im Innenministerium haben kurz nach der Zählung der Stimmen fest gestellt, dass Ahmadinedschad die Wahlen gewinnen wird. Da sie mit einem Sieg Mussawis gerechnet haben, waren sie über dieses Ergebnis sehr enttäuscht und haben das anonyme Schreiben ganz geschickt so formuliert, als ob das Innenministerium und die anderen Organe der Staatsmacht bereit wären, einen Wahlputsch gegen Mussawi und seine Anhänger und damit gegen das Volk zu führen, nur damit das Oberhaupt seinen Wunschkandidaten nämlich Ahmadinedschad als Sieger der Wahl deklarieren kann.
Die Zahlen in diesem anonymen Schreiben wurden auch so geschickt gewählt, dass Mussawi mit 19 Mill. Stimmen gegenüber Ahmadinedschad mit nur 5,7 Mill. Stimmen als klarer Sieger der Wahlen erscheint.
Wenn ich ein Anhänger von Mussawi oder Karrubi wäre und auf Grund eines solchen anonymen Schreibens aus dem Innenministerium damit gerechnet hätte, dass mein Wunschkandidat gewinnen wird, aber dann nur dem Oberhaupt zu Liebe dessen Wunschkandidat, Ahmadinedschad, zum Sieger erklärt wird, würde ich selbstverständlich auch wütend auf die Straße gehen und gegen diesen Wahlputsch protestieren.
Ich denke genau das sollte mit dem anonymen Schreiben bezweckt werden. Man informiert vorher die Anhänger von Ahmadinedschads Gegner, dass ein Wahlputsch bevorstehe. Wenn dann tatsächlich Ahmadinedschad zum Sieger der Wahlen erklärt wird, so ist es kein Wunder wenn sie auf die Straße gehen, um ihren Unmut gegen diesen „Wahlputsch“ los zu werden. Wie wir alle gesehen haben, hat dieser vorbereitete psychologische Trick gut funktioniert.
Diese Unruhe wurde dann von ausländischen Journalisten und Staatsmännern dazu benutzt, mit dem Iran abzurechnen und den Iran für eine längere Zeit lahm zu legen. Diese Kampagne hat das Ziel, den Iran zu schwächen und zwar egal, wer von den vier Kandidaten gewählt worden wäre.
Wenn der Westen in Zukunft mit Ahmadinedschad oder anderen Repräsentanten des Irans verhandeln wird, haben sie die vielen Demonstrationen, die gegen ihn und die Staatsmacht stattgefunden haben, als Druckmittel in der Hand.
Falls Mussawi gewählt worden wäre, würden sie ihm bei Verhandlungen sagen, wir haben dafür gesorgt, dass Du zum Präsident gewählt wurdest.
Aber nun zu den Wahlen im Iran und die Beziehung zwischen Iran und USA
Ich bin überzeugt, dass die Vereinigten Staaten und Herr Obama aufgrund der Umfragen, die vor den Wahlen im Iran stattgefunden haben, vor dem Wahlausgang im Iran wussten, dass Ahmadinedschad gewinnen wird. Diese viel zitierte Umfrage zu den Wahlen, die am 15.Juni 2009 in der Washingtoner Post veröffentlicht wurde, sagte voraus, dass Ahmadinedschad, die Wahlen mit 2:1 gegen Mussawi gewinnen werde (3). Da Obama den Wahlausgang im voraus kannte, waren seine Äußerungen nach der Bekanntgabe des Sieges von Ahmadinedschad sehr moderat, was mit Recht Prof. Massarat veranlasst hat, dies in einem offenen Brief (4) an Frau Merkel zu erwähnen und sie aufzufordern, sich in ihren Äußerungen Obama zum Vorbild zunehmen und sich nicht in die innere Auseinandersetzung des Iran einzumischen.
Mit der Wahl von Obama hat wenigstens eine gute verbale Beziehung zwischen Iran und USA begonnen. Ahmadinedschad hat Herr Obama zu seinem Wahlsieg gratuliert. Obama hat das Neujahr der Iraner (nowruz) am 21 März zum Anlass genommen, und hat dem persischen Volk und seinen Repräsentanten zum Neujahr gratuliert. Er hat die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, mit dem Iran eine neue Beziehung gestalten zu können.
Er hat sich vor kurzem auf einer Konferenz in Kairo für das Vorgehen der CIA im Jahre 1953 im Iran entschuldigt. Bei dieser Aktion (Militärputsch) wurde der rechtsmäßige Ministerpräsident Dr. Mohamad Mossadegh mit Hilfe der CIA gestürzt. Bei diesem Militärputsch ist der Außenminister Dr. Hussain Fatemi und vielen andere Patrioten auf grausame Art hingerichtet worden. (Jeder Iraner in meinem Alter, der damals politisch aktiv war und diese Zeit mit erlebt hat, kann diese grausame Zeit bestätigen.)
Nach dieser sehr kurzen guten verbalen Beziehung, verhält sich der Präsident der USA inzwischen mit seiner Äußerung gegenüber dem Iran ähnlich wie sein Vorgänger.
Vielleicht hat die aktuelle Kampagne gegen den Iran mehre Ziele gehabt, eine davon, die gut begonnene verbale Beziehung zwischen USA und Iran zu sabotieren.
Noch ein paar Bemerkungen:
Der Iran ist ein multikulturelles Land und hat eine lange kulturelle Geschichte. Der Iran ist nicht nur strategisch sondern mit seinen Öl und Gas Vorräten für die Weltgemeinschaft eine Bereicherung. Die Iraner verstehen es gut, wenn es um die Verteidigung ihres Landes geht. Sie sind alle bereit, Opfer zu bringen. Der achtjährige Krieg (1980-1988) von Saddams Regime gegen den Iran, der damals von allen westlichen Staaten einschließlich der USA mit allen möglichen Kriegsmitteln unterstützt wurde, hat nicht dazu geführt den Iran zu zwingen, zu einer Marionette des Westen zu werden. Das Land bestimmt seit der Niederschlagung der US-abhängigen Pahlavi-Dynastie im Jahre 1979 selbst über seine Ressourcen und führt eine selbstständige Außenpolitik.
Iran wird auch dieses Mal diese Krise bewältigen. Ich wünsche mir, dass der Westen sein arrogantes Verhalten ändert und sich nicht in die innere Angelegenheit des Irans einmischt. Ich denke der Westen hat genug Probleme (Arbeitslosigkeit, Finanzkrise, Harz IV, Kriege in Afghanistan im Irak ) am Hals. Wenn für den Westen die Menschenrechte so wichtig sind, dann sollten sie sich um das Getto in Gaza kümmern. Wenn sie gegen Wahlfälschung protestieren wollen und sich für freien Wahlen einsetzen, dann sollten sie die Hamas Regierung, die aus einer freien Wahl hervorgegangen ist, helfen, um dort das Elend zu beenden. Wenn sich die westlichen Staaten wirklich für die Menschenrechte interessieren, dann sollten sie Israel auffordern, die Blockade des Gaza-Streifens zu beenden, damit die Menschen dort sich frei und nicht wie in einem Käfig fühlen. Tun Sie was für das palästinensische Volk in Gaza, damit sie bei den Völkern glaubwürdig bleiben
Chavi Dehdarian,
Backnang, 18.7.2009
Notes:
(1) Rundschreiben von Mohssen Massarrat, „Irans neue Revolution: Fakten und Missverständnisse“
(2) Esam Al-Amin, „Nichts als unbewiesene Anschuldigungen. Ein genauer Blick auf Zahlen und Fakten zur iranischen Präsidentschaftswahl“, Junge Welt, 26.06.2009 / Thema / Seite 10
(3) Ken Ballen and Patrick Doherty, The Iranian People Speak, Washtington Post, 15.6.2009
(4) Offener Brief von Mohssen Massarrat an Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel zu Iran v. 23.6.2009
Faksimile des angeblichen Schreibens aus dem Innenministerium
(es ging mer per EMail zu, es ist aber auch auf vielen Internetseiten zu finden, z.B. bei iran.org oder Flickr)Die Persische Zahlen
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Wahlfälschung?
Jetzt allerdings wird eine Verschwörungstheorie zum Glaubensbekenntnis. Wer sich dem entzieht, wird zum Sympathisanten des reaktionären Mullah-Regimes abgestempelt. Mit kritischen und nüchternen Verstand hat man bei diesem Thema wenig Chancen.