Adapt a Revolution - Propaganda mit Zahlen

ungekürzte Version des Artikels "Propaganda mit Zahlen" in Ossietzky 22/2015

„Lüge und Statistik liegen oft eng beieinander. Das gilt insbesondere auch im Umgang mit Flüchtlingen und deren Motiven,“ schreibt Götz Aly in der Berliner Zeitung v. 12.10.2015 über eine Umfrage von „Adopt a Revolution“ (AaR ) unter syrischen Flüchtlingen.
Obwohl sie in keiner Weise repräsentativ ist und von Unterstützern einer Konfliktpartei präsentiert wurde, die ‒ wie leicht ersichtlich ist ‒ ihre Zahlen völlig einseitig in ihrem Interesse interpretiert, wurde deren zentrale Message von den meisten Medien eifrig weiterverbreitet: „Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge flieht vor dem Assad-Regime und nicht vor dem Islamischem Staat.“
„Neue Studie über Fluchtmotive: Die Angst der Syrer vor dem Assad-Regime“ titelte z.B. die Tagesschau am 7.10.2015. „Der Terror durch das Assad-Regime und die Bombardierung der eigenen Bevölkerung sind die wesentlichen Gründe für die Flucht aus Syrien. Eine Umfrage unter syrischen Flüchtlingen in Deutschland, die in Berlin vorgestellt wurde, belegt das.“
Nahezu gleichlautend auch Schlagzeile und Inhalt der Artikel von Spiegel, Stern und

Die Zeit
. Die überwältigende Mehrheit wolle zurück in die Heimat, nenne aber die Entmachtung des Assad-Regimes als Voraussetzung so stets der Schluss. „Der Kampf gegen den Terror des IS löst das Problem in Syrien nicht“, so wird AaR-Sprecher Elias Paraba zitiert.
Wer die Flüchtlinge bald wieder loswerden will, so die Botschaft, darf also keineswegs eine Verhandlungslösung anstreben, sondern muss weiterhin auf die militärische Karte, d.h. auf die Unterstützung der „Aufständischen“ als dem anscheinend kleineren Übel.
Cem Özdemir, der Vorsitzenden der Grünen, aus deren Reihe viele AaR unterstützen, nahm den Ball sofort auf und verlangte von der Bundesregierung und der EU anzuerkennen, dass die „größte Fluchtursache in Syrien“ Assad sei. Zwar müsse der „brutale Terror“ des IS beendet werden, aber Frieden in Syrien könne es nur ohne Assad geben.]

Nicht repräsentativ

AaR hat für seine Studie rund 900 syrische Flüchtlinge vor deutschen Massenunterkünften zu Fluchtgründen, Voraussetzungen für eine mögliche Rückkehr und ihre Haltung zur „Flugverbotszonen“ befragt. Die Aktivisten räumen zwar am Ende ihres Hintergrundpapiers ein, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist, präsentierten ihre Zahlen dennoch so, als könnten sie ein zuverlässiges Bild der Stimmung unter den Millionen syrischen Flüchtlingen vermitteln. Die Medien erwähnten dies, wenn überhaupt, nur nebenbei, als wäre es unwesentliches Detail. Sie sei „zwar im statistischen Sinne nicht repräsentativ“, so z.B. der Spiegel, gebe „aber sehr wohl einen breiten Eindruck.“ Doch ohne nachvollziehbare Angaben, inwieweit die Antworten der wenigen befragten Menschen, repräsentativ für die gesamte Zielgruppe sind, sind solche Statistiken praktisch wertlos.

Tatsächlich kann man aus dem Umfrageergebnis nur schließen, dass von syrischen Flüchtlingen, die man vor deutschen Flüchtlingsunterkünften antrifft und die bereit sind Fragen zu beantworten (das waren zu 90 Prozent Männer) so und so viel Prozent dies oder das angekreuzt haben. Da sich wahrscheinlich wesentlich häufiger pro-westliche Oppositionelle für Europa und Deutschland als Fluchtziels entscheiden als regierungsloyale Syrer, würden die Antworten vor Flüchtlingslager im Libanon oder in den von der Regierung kontrollierten syrischen Landesteile, wo sich knapp die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge aufhält, die Ergebnisse sicherlich völlig anders ausfallen.

Unabhängig davon sind Umfragen unter Flüchtlingen zu Fragen, die ihren Status tangieren grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen, da viele aufgrund ihrer prekären Situation vermutlich die Antworten geben, die in den potentiellen Aufnahmeländern gerne gehört werden und die ihnen bei der Anerkennung nicht schaden.

Zahlen grob einseitig interpretiert

Kann man über die Aussagekraft nichtrepräsentativer Befragungen noch diskutieren, so fällt die dreiste Art der Interpretation der Ergebnisse und ihre Präsentation eindeutig in die Kategorie Propaganda.
Geht man davon aus, dass AaR die Umfrageergebnisse unverfälscht wiedergibt, so haben knapp 70% der Interviewten angeben, sie seien vor der „unmittelbaren Gefahr für ihr Leben“ geflohen. Bei der Frage wer „für die bewaffnete Kämpfe verantwortlich“ sei, kreuzten 69,5% „Assad-Regime und Verbündete“ an, 31,6% „ISIS“ (also „Islamischer Staat) an. Verknüpft man die beiden Fragen, so sind es nur noch 49% der Befragten, für die das „Assad-Regime“ Fluchtgrund war.

Bei der Frage waren allerdings Mehrfachnennungen möglich. 16,3% nannten so auch die Al Nusra Front , 17,8% die sog. „Freie Syrische Armee“ (FSA) und 8,2% die Kategorie „andere Rebellentruppen“. Auch wenn man aufgrund der Mehrfachnennungen die Prozentzahlen für die regierungsfeindlichen Milizen nicht einfach addieren kann, relativiert dies die Behauptung die Mehrheit der Flüchtlinge sei allein vor dem „Assad-Regime“ geflohen beträchtlich.

Die Einschätzung von Götz Aly im oben zitierten Kommentar, dass vermutlich die meisten jeweils die Miliz nannten, die in der Gegend aus der sie flohen dominierten, und ein Teil davon gleichzeitig auch „Assad-Regime und Verbündete“ ankreuzten, ist plausibel. Unter der vereinfachenden Annahmen, dass jeder höchstens zwei Bürgerkriegsparteien als Schuldige bezeichnete, kann man abschätzen, dass höchstens 20% nur die Assad-Regierung angaben, rund 60% aber die Regierung und eine Miliz.

Mit den erfassten Daten ließen sich auch solche Angaben mühelos exakt berechnen. In einer seriösen, unvoreingenommen Studie wäre eine solche Auswertung, wie auch die Verknüpfung der Antworten mit der Herkunftsregion, Standard. Doch offenbar haben weder die Tagesschau noch die großen Zeitungen danach gefragt.

„Adopt a Revolution“ ‒ Sprachrohr pro-westlicher Assad-Gegner

Dabei wäre bei einer Initiative wie „Adopt a Revolution“ Misstrauen grundsätzlich angebracht. Sie macht keinen Hehl daraus, auf welcher Seite sie steht. Sie wirbt offen für einen Regime-Change in Syrien und trommelt u.a. auch für ein militärisches Eingreifen des Westens via Flugverbotszonen. Unter den Organisatoren sind führende Mitglieder der syrischen Exil-Opposition, die schon 2012 mehr Waffen für die „Rebellen“ forderten. Letztlich ist AaR ‒ wie auch ihre Veröffentlichungen zeigen ‒ ein deutsches Sprachrohr pro-westlicher Assad-Gegner.

Seriöse Umfrage unterschlagen

Mitte September veröffentlichte das renommierte Meinungsforschungsinstitut ORB International die Ergebnisse ihrer im Auftrag der BBC, in allen vierzehn Gouvernements Syriens durchgeführten repräsentativen Umfrage (Syria Public Opinion – July 2015). Sie geben ein deutlich anderes Bild als das von den Medien üblicherweise gezeichnete oder das der AaR-Umfrage. Sie wurden daher konsequenter Weise von keinem Fernsehsender und keiner größeren Zeitung in Deutschland erwähnt.
Auf die Frage, ob bestimmte Personen und Gruppen einen positiven oder negativen Einfluss auf die Entwicklung in Syrien haben, gaben beim syrischen Präsidenten, Baschir al-Assad, zwar 49% an, er habe einen negativen Einfluss und nur 47% einen positiven. Er erhielt damit aber dennoch die beste Wertung. Nur 27% werten den Einfluss der syrischen Oppositionskoalition positiv, 36% die der FSA, 35% die von Al Nusra und 21% die des Islamischen Staates. Zudem sehen 43% den Einfluss Irans positiv und 37% den der Golfmonarchen ‒ letzteres entspricht der Prozentzahl von FSA und Al Nusra.

Auch die Antworten der übrigen Fragen sind interessant. So sprechen sich 51% für eine politische und 37% für eine militärische Lösung des Konfliktes aus. 65% halten es für wahrscheinlich, dass die Syrer ihre Differenzen überwinden und wieder zusammenleben können und 71% sind besorgt über die Präsenz bewaffneter, religiöser Gruppen im Land.
Auf die Frage nach Erklärungen für das Erstarkens des Islamischen Staates, bei der ebenfalls Mehrfachnennungen möglich waren, stimmten nur 23% der These „Zuspitzung konfessioneller Spannungen“ voll oder teilweise zu. 44% sahen eine gewisse Mitverantwortung bei der syrischen Regierung und 59% bei der weitverbreiteten religiös-sektiererischen Politik der arabischen Staaten. Die überwiegende Mehrheit aber, mehr als 82%, hält ihn für eine Schöpfung der USA. Die Hälfte der Befragten lehnt, somit wenig überraschend, die Luftangriffe der US-geführten Allianz auf syrisches Territorium ab.
ORB hat auch Tabellen erstellt wo die Antworten nach der Region und nach der Partei die die Region kontrolliert aufgesplittet sind.

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Siehe dazu auch:

Götz Aly, Kommentar zum Bürgerkrieg in Syrien Assad, Rebellen und Fluchtgründe,
Berliner Zeitung, 12.10.2015

Eine Lawine aus dem Nichts
Syrien - Wie es eine mehr als zweifelhafte Umfrage auf das Tagesmenü der Politischen und Medialen Propaganda für Millionen Deutsche schafft.
Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied berlino1010


Rico Grimm, Die Umfrage unter Flüchtlingen, die Angela Merkel bei Anne Will zitiert hat, ist problematisch, 10.2015
petersson (Gast) - 4. Feb, 08:48

Süddeutsche

In dem Zusammenhang habe ich hier noch was Schönes. Auch die Süddeutsche berichtete darüber. Gegen Ende des Artikels wird behauptet, dass 70% der Befragten Abitur haben. Diese Zahl taucht in keinem anderen Medium auf und selbst im offiziellen Bericht von Adopt A Revolution steht nichts darüber. Ich denke die Süddeutsche hat das einfach frei erfunden, anders kann ich mir das nicht erklären.
http://www.sueddeutsche.de/politik/umfrage-unter-syrischen-fluechtlingen-sie-fliehen-wegen-der-fassbomben-1.2681748

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