"Fassbomben" in Syrien: parteiische Berichte, einseitige Vorwürfe und Doppelmoral ‒ Stimmungsmache für eine Fortsetzung des Krieges

Das folgende ist die ungekürzte und mit allen Quellenangaben versehene Version meines Artikels in der jungen Welt vom 26.01.2016.
[Updated: Fußnoten korrigiert]

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Mittel der Kriegführung
Die syrische Regierung setze Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung ein, heißt es ­allenthalben. Die ­tausendfache Wiederholung der Behauptung soll die die Notwendigkeit des Sturzes von Präsident Assads begründen. Die Vorwürfe sind jedoch völlig einseitig und Belege von unabhängiger Seite dafür gibt es kaum.
Von Joachim Guilliard
junge Welt, 26.01.2016, Seite 12 / Thema

Nachdem aufgrund unabhängiger Untersuchungen und Recherchen die Behauptung, die syrische Armee habe Giftgas gegen „Aufständische“ eingesetzt, unhaltbar wurde,[1] sind nun „Asssads Fassbomben“ das wichtigste Argument, mit dem das Festhalten am Umsturzziel begründet und jeglicher Zusammenarbeit mit der Regierung eine Absage erteilt wird.
 
So rechtfertigt US-Präsident Barack Obama in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am 28.9.2015 die fortgesetzte Unterstützung regierungsfeindlicher Milizen damit, sein syrischer Amtskollege „würde Fassbomben abwerfen, um unschuldige Kinder zu massakrieren,“ ohne die unterstellte Absicht irgendwie zu belegen.[2] Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnte Anfang Dezember die naheliegende, und u.a. auch von der französischen Regierung ins Auge gefasste, Zusammenarbeit mit der syrischen Armee im Kampf gegen die dschihadistische Miliz „Islamischer Staat“ (IS) mit der Begründung ab, Assad „werfe nach wie vor Fassbomben auf sein eigenes Volk“.[3] Westliche Medien und Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch, behaupten mit Verweis auf die angeblich hohe Zahl von zivilen Opfern dieser Waffe, das „Regime“ sei eine wesentlich größere Bedrohung als der IS und fordern Schutz- oder Flugverbotszonen, d.h. ein direktes militärisches Eingreifen der NATO-Staaten gegen die syrischen Streitkräfte.[4]

Gary Leupp, Professor für Geschichte an der Tufts University, setzte daher an die erste Stelle der „Stichpunkte des Außenministeriums für Nachrichtensprecher“ in seinem satirischen „Syrien-Spickzettel für Medien-Propagandisten“, die Anweisung, immer wieder „Fassbomben, Fassbomben“ zu wiederholen und dabei zu betonen, dass sie „vom Regime gegen das eigene Volk“ eingesetzt würden. [Dass letzteres im Westen als besonders verwerflich gilt, belegt nebenbei eine ziemlich anrüchige, aber für die westliche Kriegspolitik sehr nützliche Moral: schließlich bombardierten Nato-Staaten bisher ausschließlich fremde Völker.]

Primitive Waffe

Als „Fassbomben“ werden improvisierte Explosionswaffen aus Metallfässern oder anderen größeren Metallgefäßen wie Heizkessel bezeichnet, die mit Sprengstoff und Metallteilen gefüllt werden. Sie sind billiger zu produzieren als herkömmliche Waffen und können auch aus nicht-militärischen Hubschraubern und Flugzeugen abgeworfen werden. Erstmals 1948 vom israelischen Militär eingesetzt und später in den 1970er Jahren von der US-Luftwaffe im Vietnamkrieg, machen vor allem rüstungstechnisch weniger entwickelte Länder in militärischen Konflikten Gebrauch von ihnen.

[Bei den Vorwürfen gegen die syrische Regierung wird neben der Primitivität der Waffe als besonders empörend hervorgehoben, dass die eingesetzten Bomben durch große Mengen an Sprengstoff und beigemischte Metallteile auf eine große zerstörerische und tödliche Wirkung zielen würde. Allerdings werden auch die modernen Waffen der Nato-Armeen dafür optimiert, eine möglichst große und tödliche Wirkung zu entfalten.]

Ob tatsächlich „Fassbomben“ in dem behaupteten Umfang zum Einsatz kommen, ist äußerst zweifelhaft. Die syrische Regierung bestreitet das. Die Armee würde richtige Bomben einsetzen, keine „Fässer“, so Präsident Bashar Al-Assad am 10. Februar 2015 in einem Interview mit der BBC.[5] Auch ausgewiesene Kritiker der syrischen Luftangriffe räumen ein, dass die Aktivisten und Anwohner betroffener Gebiete nahezu jede aus der Luft abgeworfene Bombe als „Fassbombe“ bezeichnen. Häufig hätten die Medien über den Abwurf solcher Sprengkörper berichtet, wo es sich in Wirklichkeit um konventionelle Bomben aus russischer Fertigung handelte, stellt auch Waffenexperte Richard M. Lloyd in einem Beitrag auf dem der syrischen Opposition nahestehenden „Brown Moses Blog“ fest, der zu den Hauptquellen der Medien für deren Berichte über den angeblichen Einsatz der primitiven Waffe zählt. „Diese falschen Behauptungen haben Fassbomben einen falschen Ruhm beschert, indem ihr Zerstörungspotential größer dargestellt wurde, als es tatsächlich ist.“

Angesichts des langen Krieges ist es natürlich durchaus denkbar, dass Syrien, nachdem die Vorräte an importierten Waffen zur Neige gingen, begann, Bomben einfacher Bauart selbst herzustellen, wenn auch nicht unbedingt improvisiert aus Ölfässern. Im Grunde ist dies aber unerheblich, da Sprengkraft und Splitterwirkung solcher einfachen Bomben so oder so wesentlich geringer sind als die von Sprengkörpern konventioneller Bauart aus westlichen oder russischen Rüstungsschmieden, ganz zu schweigen von den Hightech-Bomben und Raketen, die NATO-Staaten aus ihren Kampfflugzeugen und Drohnen werfen oder abwerfen. Bei diesen wurden Sprengstoffart, Form, und Splittermantel aufwendig optimiert, damit ihre feinen rasierklingenscharfen Schrapnells noch auf Dutzende Meter Entfernung tödlich sind. Werden tatsächlich einfache Fässer oder ähnliches als Behälter verwendet, verpufft hingegen ein guter Teil des Sprengstoffs schon durch die geringe Dämmung. Technisch weniger ausgeklügelte Bomben kommen zudem aufgrund der simpleren, ungenauen Zündvorrichtungen häufig gar nicht zur Explosion.[6] [Würde man der syrischen Armee moderne, smarte Bomben der NATO anbieten, würde sie sicherlich gerne auf ihre ungelenkten, gar selbstgebastelten verzichten.]

"klassische Waffe gegen Zivilbevölkerung"

Die Betonung der Primitivität der „Fassbomben“ ist bei den Berichten im Grunde ohnehin nur „schmückendes“ Beiwerk, um die syrische Regierung und Armee nicht nur brutal, sondern auch selbst primitiv erscheinen zu lassen. Der Hauptvorwurf gegen ihren Verwendung leitet sich daraus ab, dass sie als nichtlenkbare Bomben sehr ungenaue Waffen sind. Ihr Einsatz sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinne des Kriegsrechts“ ‒ d.h. nicht überwiegend auf ein militärisches Ziel wirkend ‒ „und damit unzulässig“ so die zentrale Kritik der New Yorker Organisation Human Rights Watch (HRW).[7] Da sie nicht präzise genug treffen, seien sie für den Einsatz gegen militärische Ziele prinzipiell ungeeignet. Ihr Einsatz könne sich also nur gegen die Bevölkerung richten und würde belegen, dass es sich um vorsätzliche Angriffe auf zivile Ziele handele. „Es handelt sich also um eine klassische Waffe gegen Zivilbevölkerungen“, behauptet die taz in einem Beitrag vom 19.12.2013. Von einem „Kriegsverbrechen“ spricht HRW. [8]

Die im Vergleich zu modernen, sogenannten präzisionsgelenkten Waffen geringe Treffergenauigkeit gilt allerdings auch (mehr oder weniger, je nachdem wie ausgeklügelt der Abwurfmechanismus ist) für klassische, nicht lenkbare „Freifall“-Bomben.  Sie hängt stark von der Höhe und der Geschwindigkeit des Fluggeräts ab. Bomben, aus relativ niedriger Höhe aus einem langsam fliegenden Hubschrauber abgeworfen, können durchaus mit einiger Wahrscheinlichkeit ihr Ziel treffen.

Zweifellos sind solche Bomben fürchterliche Waffen. Wie der US-amerikanische Investigativjournalist Robert Parry anmerkt, der die Fassbombenvorwürfe von Seiten Obamas als „aberwitzig“ zurückweist, sind sie letztlich aber weniger gefährlich für Menschen als modernere Versionen. Anwohner betroffener Gebiete haben viel größere Chancen, Schutz zu suchen, sobald sie angreifende Hubschrauber oder Flugzeuge hören, als bei den aus großer Entfernung abgefeuerten lenkbaren Bomben und Raketen der NATO, die praktisch ohne Vorwarnung einschlagen.[9]

Anfänglich hätten die syrischen Streitkräfte die Bomben aus niedriger Höhe abgeworfen und recht genau getroffen, so der erwähnte Waffenexperte Lloyd. Dann wurden die islamistischen Milizen jedoch von ihren Sponsoren verstärkt mit modernen Luftabwehrraketen aus US-Produktion (sogenannten Man Portable Air Defense Systems, Ein-Mann-Boden-Luft-Raketen,  kurz MANPADS) ausgerüstet und so die syrische Luftwaffe gezwungen, in Höhen von über 2.000 Metern zu fliegen. Der Vorwurf, dass die Einschläge dadurch recht weit streuen und die Gefahr von Opfern unter unbeteiligten Zivilisten dadurch groß wurde, ist daher sicherlich gerechtfertigt. In welchem Maße dadurch Nichtkombattanten betroffen sind, hängt vom Einsatzgebiet ab und davon, wie viele Zivilisten sich dort noch aufhalten.

„systematisch gegen Zivilisten“

Liest man die Berichte westlicher Medien und Menschenrechtsgruppen, so scheint es, als richteten sich die Angriffe fast nur gegen Wohngebiete und zivile Einrichtungen. Die „verwerflichen kontinuierlichen Luftschläge auf Wohngebiete“ würden, so Amnesty International (AI) in der Pressemitteilung zu ihrem diesbezüglichen Report vom Mai 2015, auf „eine Politik hindeuten, vorsätzlich und systematisch Zivilisten zu attackieren, mit Angriffen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.“ [10]

Auch HRW behauptet in seinem Bericht vom Februar 2015, die „gesamte Verteilung der Orte mit größeren Zerstörungen“ ließe darauf schließen, dass die Regierungskräfte die „Gesamtheit der Bevölkerung“ der betroffenen Städte „mit Explosivwaffen angreifen“ würden. Das Gros der Berichte der beiden Organisationen konzentriert sich dabei auf das seit Juli 2012 umkämpfte Aleppo. Indem die syrische Regierung dort „schonungslos und vorsätzlich Zivilisten“ angreife, scheine sie, so AI weiter, „eine brutale Politik kollektiver Bestrafung gegen die Zivilbevölkerung“ der Stadt zu betreiben.

Angesichts der schwierigen Lage der syrischen Armee, die an Hunderten Fronten kämpfen muss,[11] klingt die Behauptung, sie fände Zeit zu umfangreichen Bestrafungsaktionen, reichlich absurd. Es liegt wesentlich näher, dass sich dort, wo die Luftwaffe eingesetzt wird, auch militärisch bedeutende Stellungen der gegnerischen Milizen befinden. Dass sich diese häufig mitten in den Städten befinden, liegt am Verlauf der Kämpfe.

Fokus Aleppo

Tatsächlich kann man dies auch auf den von HRW und AI erstellten Karten, mit den angeblich in Aleppo von „Fassbomben“ getroffenen Orten („major damage sites“) erkennen.[12] Demnach liegen die meisten Ziele, auf die die syrische Luftwaffe ihren Berichten zufolge Angriffe flog, in Gebieten, die summarisch als „von der Opposition kontrolliert“ bezeichnet werden. (Nur das vom IS beherrschte Territorium wird separat ausgewiesen.) Diese „Opposition“ besteht jedoch zum größten Teil aus radikalen islamistischen und dschihadistischen Milizen. Die stärksten der mindestens 18 in Aleppo aktiven militärischen Verbände sind der Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front, die, von der ideologisch verwandten Ahrar Al-Sham dominierte Levante-Front und die Ansar-Al-Din-Front. Mittlerweile sind nahezu alle im Bündnis Fatah Halab („Eroberung von Allepo“) vereint, einschließlich der von den USA ausgerüsteten, angeblich „moderaten“ Kampfgruppen.

In Aleppo hatte es 2011 keine nennenswerten Proteste gegen die Regierung gegeben, und die zweitgrößte Stadt Syriens blieb über ein Jahr lang auch von Unruhen verschont. Gut versorgt über die nahe türkische Grenze rückten aber im Juli 2012 regierungsfeindliche Milizen bis Aleppo vor und konnten nach schweren Kämpfen die östliche Hälfte der Innenstadt unter ihre Kontrolle bringen. In zwei nördlichen Distrikten konnten sich kurdische Kräfte gegen die Islamisten behaupten. [Die zahlreichen Milizen bemühen sich seither u.a. unter Einsatz von Selbstmordanschlägen weitere Stadtteile unter Kontrolle zu bringen, während die Armee ihrerseits in mehreren Offensiven einige Viertel wieder befreien konnte.]

Die meisten Bürger Aleppos, die unter die brutale Herrschaft der überwiegend islamistischen Milizen fielen, hegten Berichten zufolge, keinerlei Sympathien für die neuen Herren. [13] Viele flohen in die von der Regierung gehaltenen Teile der Stadt oder in sicherere Gebiete an der Küste. Ein Anlass zu Strafaktionen gegen die „gesamte Bevölkerung“ ist daher nicht zu erkennen. Auch die Behauptung, in Aleppo seien die meisten Ziele zu weit von der Front entfernt, als dass sie militärisch relevant gewesen sein könnten, überzeugt nicht: Keine Stelle, des von den Milizen kontrollierten Streifens liegt, wie die Karten von HRW und AI zeigen, mehr als 2,5 Kilometer von den Frontlinien entfernt. Zudem verließen bei aufflammenden Kämpfen offenbar auch die meisten noch verbliebenen Bewohner die umkämpften Zonen. So flohen Anfang 2014 bis zu 500.000 Menschen aus den von den Milizen gehaltenen Stadtteilen, als die syrische Armee eine neue Offensive startete, sodass dabei ganze Viertel geleert wurden.[14] Von gezielten, ausschließlich auf die Zivilbevölkerung gerichteten Attacken, wie es HRW für die für diesen Zeitraum in die Karte eingetragene Angriffe behauptet, kann somit kaum die Rede sein.[15]

Gefakte Berichte und Bilder

Das gleiche gilt auch für andere Städte. Im Januar 2015 zeigte z. B. Reuters ein Video von der umfassenden Evakuierung Doumas durch die syrische Armee. Einige Monate später verbreitete dieselbe Agentur, gestützt auf Angaben oppositioneller Aktivisten, die Nachricht, in der Stadt sei ein „Massaker an Zivilisten“„begangen worden. „Wiederholungen solcher gefakten Vorwürfe durch Islamisten, die mit ihnen verbündeten ‚Aktivisten’ und ihre westlichen Unterstützer“, so Tim Anderson, Professor an der Universität Sydney, der die Fassbombenvorwürfe auf Basis parteiischer Quellen als Kriegspropaganda qualifiziert, „führten zu Schlagzeilen wie ’Die Fassbomben des syrischen Regimes töten mehr Zivilisten als ISIL und Al Qaida zusammen.‘„ und stützten so die Forderung nach einem militärischen Eingreifen. Die Fotos der toten und verletzten Frauen und Kinder in den Geisterstädten werden, so Anderson, einfach aus „anderen Zusammenhängen ausgeliehen“. Amnesty International (USA) wiederum übernehme dann die Bombenstorys weitgehend, inklusive der Opferzahlen.[16]

Am 26. Februar 2015 verbreitete HRW via Twitter das Foto eines weitgehend zerstörten Stadtviertels mit der Beschreibung „Syrien wirft Fassbomben trotz Bann.“ Das Foto war allerdings bereits am 13. Februar von der New York Times veröffentlicht worden. Es zeigte die kurdische Stadt Kobani, die, so die Unterschrift, durch „islamistische Kräfte und die Luftangriffe der US-geführten Koalition zerstört“ worden war.[17] Am 8. Mai verbreitete HRW-Chef Kenneth Roth ein weiteres Luftbild eines zerstörten Viertels, das zeigen würde „was Assads Fassbomben Aleppo angetan haben.“ Tatsächlich war es jedoch ein Bild von Gaza aus dem Jahr zuvor.[18]

Kriegspartei als Quelle

Auch da, wo es keine ersichtlichen Fälschungen sind, sind die Belege für die angeblich große Zahl von „Fassbomben“ (oder auch andere „Freifall“-Bomben) auf zivile Ziele dürftig und wenig belastbar. Auf Wikipedia führen Anhänger der syrischen Opposition eine Liste aller vorgeblichen „Fassbomben“-Angriffe von 2012 bis heute.[19] Geht man die angegebenen Quellen durch, so findet man nur wenige Videos, auf denen die Abwürfe selbst gezeigt werden. Auch in diesen lässt sich weder die Art der Bombe noch die des Zieles erkennen. Die übrigen Videos und Bilder zeigen nur zerstörte Gebäude. Sowohl die Ersteller der Videos und Bilder wie auch die Autoren der Berichte und zitierte Zeugen, sind durchgängig oppositionelle Aktivisten ‒ meist als „Dissidenten“, „Anti-Regime-Aktivisten“, „Aktivisten-Gruppe“ oder „Kämpfer“ bezeichnet – sowie Mitarbeiter regierungsfeindlicher Gruppen und Netzwerke. Das sind in erster Linie die „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (Syrian Observatory for Human Rights SOHR) aus dem britischen Coventry, die Lokalen Koordinationskomitees und die Shahba Press Agency. Die Medien, die darüber berichteten, haben deren Angaben, wie es scheint, ohne nachzuprüfen übernommen, obwohl sie offensichtlich von einer beteiligten Kriegspartei stammen.

Das gilt im Grunde auch für die zahlreichen Berichte von Amnesty International und HRW, denen aufgrund der guten Reputation der beiden Menschenrechtsorganisationen besonderes Gewicht bei diesem Thema zukommt. Auch deren Berichte beruhen im wesentlichen auf den Angaben derselben Quellen – das sind neben den oben genannten vor allem das Violations Documentation Center (VDC) in Istanbul und das Syrian Network for Human Rights (SNHR) in Großbritannien. Alle diese Organisationen sind eng mit oppositionellen Gruppierungen in und außerhalb Syriens verbunden, haben ihren Sitz in den USA, Großbritannien, Türkei und anderen Ländern, die sich für den „Regime Change“ in Syrien engagieren, und werden teilweise von ihnen finanziert. [20]

Die bedeutendste Quelle, die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) wird nach außen im wesentlichen vom syrisch-stämmigen Kleiderhändler Rami Abdelrahman aus seiner Wohnung im englischen Coventry betrieben. Seinen Angaben zufolge sammelt sie die, von einem Netz aus rund 200 oppositionellen Aktivisten übermittelten Informationen, bereitet sie auf und verbreitet sie weiter. Persönlich kennt er, wie er zugeben musste, seine Informanten nicht.[21] Finanziert wird die obskure Initiative u. a. vom britischen Staat, der EU und einigen britischen Medien. [22] Wem ihre Sympathien gehören, zeigt sie bereits mit der Fahne der „Freien syrischen Armee“, die in ihrem Logo weht. Obwohl hie und da Zweifel an der „Beobachtungsstelle“ hochkam geäußert wurden – die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal vom „Ominösen Protokollanten des Todes“ (26.11.2012) – ist sie die in westlichen Medien am häufigsten zitierte Quelle für das Geschehen in Syrien. [23]

Das SNHR ist eine Abspaltung von der SOHR, die vermutlich aufgrund von Differenzen über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Oppositionslager und die Frage der Befürwortung einer ausländischen Intervention erfolgte. Abdulrahman stand eher den Nationalen Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel nahe, während der Gründer der konkurrierende „Beobachtungsstelle“, Mousab Azzawi, aus der später das SNHR wurde, dem von den NATO-Mächten gegründeten Syrischen Nationalrat nahestand.[24]

Wo das VDC politisch zu verorten ist, lässt sich mit einem Blick auf seine Homepage (www.vdc-sy.info) erkennen, auf der die Kriegsopfer in zwei Kategorien eingeteilt werden: in „Märtyer“ und „Regime fatalities“ (Regime-Tote). Unter „Märtyer“ werden dabei alle gelistet, die von Regierungskräften getötet wurden ‒ Zivilisten wie islamistische Kämpfer, inklusive die des IS und ausländische Dschihadisten, die etwa in den Kämpfen um Kobani von kurdischen Selbstverteidigungskräften oder US-Luftangriffen getötet wurden.[25] [U.a. findet man in der VDC-Datenbank der „Märtyer“ dem Namen „Deniz Kosbert“ einen Eintrag zum deutschen Dschihadisten Denis Cuspert, mit Foto und Organisationsangabe „ISIS“, sowie Todestag 16.10.2015 und Todesursache „Kampfflugzeug-Beschuss“ (Warplane shelling).[26]  Auf der anderen Seite wird, wenn man unter der Rubrik „Regime fatalities“, auf „Child - female“ filtert, u.a. das Mädchen Nour Omar Hajji gelistet, das in Aleppo von der Mörsergranate einer der zur „Freien syrischen Armee“ gezählten Miliz getötet wurde [27] oder sechs Studentinnen, die am 22.12.2015 in Deir Ezzor Artillerieangriffen es IS zum Opfer fielen.[28] ]

Embedded NGOs

Der jüngste Bericht von Amnesty „‘Death everywhere’ War crimes and human rights abuses in Aleppo“ basiert auf Interviews mit Bürgern der Stadt aus „von der Opposition kontrollierten Gebieten“ und Personen, die dort, z. B. als Mitarbeiter von NGOs, aktiv waren. AI arbeitete dabei eng mit den oben genannten Organisationen zusammen, die sowohl die Zeugen und „lokale Experten“ vermittelten, als auch das Bild- und Videomaterial zur Überprüfung der Zeugenaussagen beisteuerten. Insgesamt also ein ziemlich geschlossener Kreis selbstreferentieller Zeugen und Quellen. Auf die Idee, z.B. auch Bewohner Aleppos einzubeziehen, die keine Verbindung zur Opposition haben und aus den umkämpften Gebieten in die von der Regierung gehaltenen Stadtteile, nach Damaskus oder Latakia geflohen sind, kam AI nicht. Das hätte sicherlich ein völlig anderes Bild des Geschehens gegeben und vor allem auch der Gewalt der Milizen Platz eingeräumt.[29] [Müßig zu erwähnen, dass die Mörsergranaten und Raketen, die die Milizen auf die von der Armee gehaltenen Stadteile feuern, ebenfalls äußerst ungenau sind. [30] ]

Armee ohne Gegner

Regierungstruppen, die nur auf zivile Ziele feuern, das war von Anfang das durchgängige Bild, das westliche Medien von den Kämpfen in Syrien verbreiteten. In den ersten zwölf Monaten kamen die Angriffe bewaffneter Regierungsgegner schlicht nicht vor.[31] Auch Amnesty International und Human Rights Watch ignorierten deren Gewalt ein volles Jahr lang und klagten statt dessen die syrischen Streitkräfte an, sie würden „willkürlich Kanonensalven und Granaten auf Wohngebiete von Städten abfeuern.“

Folgerichtig wird generell auch der Eindruck erweckt, alle Kriegstoten seien Opfer der Angriffe von Regierungskräften. Doch selbst laut der SOHR, von der die Medien meist die Opferzahlen übernehmen, waren bis Ende 2015 neben 76.000 Zivilisten auch 93.000 Angehörige der regierungstreuen Kräfte (d.h. der Armee, der Polizei, der „Nationalen Verteidigungskräfte“ und regierungsloyale Milizen) getötet worden sowie 84.000 Kämpfer regierungsfeindlicher Milizen (inkl. Kämpfer der kurdischen YPG).[32] Der Anteil von Kombattanten dürfte tatsächlich sogar noch wesentlich höher liegen, da getötete regierungsfeindliche Kämpfer häufig als unschuldige Opfer von Regierungsgewalt präsentiert werden.[33]

Doppelmoral

Selbstverständlich bedeutet die Parteilichkeit der Recherchen nicht, dass alle Berichte über Luftangriffe, die zivile Ziele trafen und zivile Opfer forderten, erfunden sind. Wahrscheinlich setzten und setzen syrische Streitkräfte in der Tat die Luftwaffe teilweise auch in Fällen ein, wo das Risiko für Unbeteiligte unangemessen hoch ist.

Das gilt aber ebenfalls – und in weit größerem Ausmaß für Angriffe der USA und anderer NATO-Staaten in ähnlichen Kriegssituationen: sowohl in Afghanistan als auch im besetzten Irak, wo die Luftwaffe ebenfalls Angriffe auf Städten flog, in denen sich gegnerische Stellungen befanden, sowie im NATO-Krieg gegen Libyen 2011. Die US-Armee hatte z.B. keine Skrupel, als sie 2004 den Widerstand in der irakischen Großstadt Falludscha nicht brechen konnte, die gesamte Stadt in einem fürchterlichen Bombardement in Schutt zu Asche zu legen. Weder AI noch HRW haben die Kriegführung der westlichen Mächte im Irak systematisch untersucht und ähnlich intensiv skandalisiert, wie die der syrischen und mittlerweile auch der russischen Luftwaffe in Syrien.

Die modernen Waffen der NATO-Staaten sind zwar treffsicherer, aber aufgrund ihrer größeren Wirkung ebenfalls nicht auf militärische Ziele beschränkbar, insbesondere nicht bei der sogenannten Luftunterstützung von Truppen im Straßenkampf. Vor allem die häufig eingesetzten Streu- oder Clusterbomben waren wesentlich tödlicher als jede „Fassbomben“ sein kann. Clusterbomben sind speziell für den Einsatz gegen sogenannte weiche Ziele, d.h. vor allem gegen Menschen, konzipiert. Die nicht explodierende Submunition, sogenannte Bomblets, verminen das betroffene Gelände für Jahre. 

1991 wurden im Krieg gegen den Irak von den USA, Frankreich und Großbritannien 61.000 Clusterbomben mit 20 Millionen Bomblets eingesetzt, bei der Invasion 2003 von den USA und Großbritannien mindestens 13.000 Bomben mit rund 2 Millionen Bomblets.[34] Eine erhebliche Zahl dieser geächteten Munition, die vom HRW-Militärexperten  Marc Garlasco als die „bei weitem größte Gefahr, die von aktuell gebräuchlichen Waffen für Zivilisten ausgeht“, bezeichnet wurde, wurde auch noch nach dem Ende der Hauptkampfphase im April 2003 eingesetzt.[35]

Entgegen dem verbreiteten Eindruck verwendeten die USA und ihre Verbündete in ihren letzten Kriegen keineswegs nur sogenannte präzisionsgelenkte Munition, d.h. steuerbare bzw. selbststeuernde Raketen und Bomben. Als z.B. im Krieg gegen Jugoslawien nach den ersten Wochen die Präzisionsmunition knapp wurde, setzten die NATO-Streitkräfte ebenfalls zunehmend nicht lenkbare Freifall-Bomben ein. Zu massiven Opfern unter Zivilisten (in Syrien würde man von einem Massaker reden) kam es u.a. am 7. Mai 1999 als ein Krankenhaus-Komplex und angrenzende Wohngebiete getroffen wurden. [36] Insgesamt war am Ende nur ein Drittel der verschossenen Munition „präzisionsgelenkt“. Beim ersten verheerenden Bombardement des Iraks 1991 waren es nur acht Prozent gewesen,[37] beim zweiten, im Zuge der Invasion 2003, ging immer noch über ein Drittel (11.000) der rund 30.000 Bomben, die die USA und GB während des Überfalls abwarfen, im freien Fall auf die irakischen Städte nieder.

Der Einsatz von Präzisionswaffen bedeutet zudem keineswegs, dass jede Bombe und jede Rakete das anvisierte Ziel trifft, und noch weniger, dass die tödliche Wirkung sich auf dieses beschränkt. [38] Schlechtes Wetter, Staub, elektronische Störungen, Fehlfunktionen, etc. lassen sie oft in erheblicher Entfernung vom eigentlichen Ziel einschlagen.  Nach einer Studie des australischen Militärs verfehlten 2003 in den ersten fünf Kriegstagen 45,5 Prozent der lasergelenkten Waffen der US-Streitkräfte auf Grund von „Piloten-Fehler, schlechtem Wetter oder technischen Störungen“ ihr Ziel. [39] Durch ihre Konzeption und Sprengkraft sind sie noch im Umkreis von Dutzenden Meter tödlich.

Fragwürdig bleibt zudem, ob Angriff tatsächlich militärisch sinnvollen oder gar legitimen Ziel gelten. Im Zuge der Invasion versuchte die US-Luftwaffe beispielsweise hochrangige irakische Personen „auszuschalten“.Sie stützten sich dabei auf Informationen der Geheimdienste und die Ortung ihrer Telefone. Diese lieferten die Koordinaten jedoch nur mit einer Genauigkeit von höchsten 100 Metern. Bei keinem der 50 bestätigten Angriffe wurde einer der anvisierten Führer getroffen, jedoch Dutzende Zivilisten zerfetzt. [40]

Im Kampf gegen den Widerstand setzten die USA in immer stärkerem Maße die Luftwaffe zur „Luftunterstützung“ der Bodentruppen ein. Diese flog bis 2007 über 50.000 Angriffe. Die Kampfzonen lagen zum großen Teil in den Städten, in denen der Widerstand seine Hochburgen hatte. [41] Gemäß einer im Sommer 2006 von der Bloomberg School of Public Health an der Johns Hopkins University durchgeführten repräsentativen Studie, die im britischen medizinischen Fachmagazin The Lancet veröffentlicht wurde, waren von März 2003 bis Juni 2006 ungefähr 80.000 Menschen durch Luftangriffe getötet worden, der größte Teil in den letzten beiden Jahren.[42] [Am schlimmsten getroffen wurde dabei Falludscha, das 2004 in zwei Offensiven der US-Streitkräfte zum großen Teil zerstört wurde. Neben Uranmunition kamen hier auch chemische Waffen zum Einsatz, u.a. Bomben mit weißem Phosphor.]

Wer die Berichte von AI über den Irak durchgeht, wird jedoch nur einen einzigen Report über einige zivile Opfer von Besatzungstruppen 2004 in Basra finden. [43] HRW veröffentlichte immerhin im Dezember 2003 einen Bericht, der die Kriegsführung der USA während der Invasion kritisch untersuchte und auf die dadurch verursachten zivilen Opfer einging.[44] Zum anschließenden achtjährigen Krieg gegen den Widerstand während der Besatzung findet man jedoch auch hier nur eine kurze Meldung vom März 2006, anlässlich der Ankündigung der umfangreichsten Luftschläge seit 2003. Mit Verweis auf elf Zivilisten, die wenige Tage zuvor während einer „Anti-Aufstands-Operation“ in der Stadt Balad durch US-Bomben getötet worden waren, forderte die Organisation die US-Streitkräfte auf, „in der aktuellen Luft- und Boden-Offensive“ gegen die Großstadt Samara „alle praktikablen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um zivile Opfer zu vermeiden.“ Allzu oft würden „Zivilisten  mit ihrem Leben zahlen, wenn amerikanischen Bomben auf den Irak fallen“, so die zaghafte Warnung, in der viel Verständnis für das mörderische Vorgehen der Besatzungstruppen mitschwang.[45]

Es gab durchaus zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, die sich ‒ u.a. im Rahmen einer weltweiten Tribunal-Bewegung ‒ dem Thema annahmen, die den Hinweisen auf Kriegsverbrechen nachgingen und Beweise zusammentrugen, die z.T. auch in formelle Anklagen gegen eine Reihe von Verantwortlichen eingingen. Das Global Policy Forum stellte 2007 mit Unterstützung von dreißig weiteren Menschenrechts- und Friedensgruppen einen Report zusammen, der einen umfassenden Überblick über das Ausmaß der Verbrechen durch Krieg und Besatzung lieferte.[46] AI und HRW waren weder unter den Unterstützern noch hielten sie es für nötig, selbst Nachforschungen in diese Richtung anzustellen. 

Auch während des NATO-Krieges gegen Libyen gab es ungeachtet vieler Berichte über umfangreiche Angriffe auf zivile Ziele mit unzähligen Opfern (u.a. vom katholischen Bischof von Tripolis) keine Untersuchungen. Die Zahl der Opfer des Krieges, bei der die Kriegsallianz nach eigenen Angaben 9.700 Luftangriffen flog und dabei rund 30.000 Bomben abwarf und 5.900 „Ziele“ zerstörte. wird auf über 50.000 geschätzt.

Trotz der massiven Luftangriffe auf Städte sahen sich AI und HRW hier sowenig wie im Irak, genötigt, die Kriegführung der NATO-Staaten zu untersuchen. Es gab keine Berichte mit Bildern der Zerstörungen und Zeugenaussagen von Betroffenen. Es gab auch kein Aufschrei in den westlichen Medien, keine Rede war vom „Schlächter“ Bush, Blair, Obama, Sarkozy … ‒ Nun, immerhin bombardierten die Angreifer nicht das „eigene Volk“.

AI und HRW stark parteiisch.

Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen den außenpolitischen Zielen der USA und ihren europäischen Verbündeten und den Kampagnen von AI und HRW. Letztere wurde auch schon häufig wegen ihrer großen Nähe zum Weißen Haus und dem State Department kritisiert, besonders deutlich im Juli 2014 in einem offenen Brief von Nobelpreisträgern und ehemaligen UN-Funktionären. Dieser richtete sich vor allem dagegen, dass häufig einflussreiche Stellen bei HRW mit Personen besetzt werden, die kurz zuvor noch hochrangige Ämter in der Regierung, im Militär oder der CIA bekleideten und führende HRW-Funktionäre wiederum direkt auf Regierungsposten wechseln können – die Kritiker sprechen von einem regelrechten Drehtürmechanismus. So wurde z. B. der ehemalige CIA-Analyst Miguel Díaz in das Beraterkomitee von HRW berufen, der dann acht Jahren später seine Erfahrungen in seinem neuen Job im State Department einbringen konnte – als Verbindungsmann zwischen Geheimdiensten und Nichtregierungsexperten. Mit Tom Malinowski wurde ein Mann Direktor der Organisation für Washington, der zur Zeit der Bombardierungen Jugoslawiens 1999 als leitender Direktor des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus für das Verfassen außenpolitischer Reden zuständig gewesen war.[47] In seiner neuen Funktion erklärte er die illegale Verschleppung von Verdächtigen, die sog. „Extraordinary rendition“, unter bestimmten Umständen für legitim, warb für den Libyen-Krieg und pries ihn am Ende als die „schnellste militärische Reaktion auf eine drohende Menschenrechtskrise“. Unter Obama wurde er anschließend Staatssekretär für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit im US-Außenministerium.

Zu den wichtigsten Geldgebern von HRW zählen Stiftungen von US-Konzernen. Der wohl wichtigste Sponsor ist der Milliardär George Soros, der u.a. mit Finanzspekulationen gegen ganze Länder zu seinem Reichtum kam und damit Umstürze und Umsturzversuche in einem Dutzend Ländern, von Jugoslawien über Georgien bis in die Ukraine finanzierte. Allein im Jahr 2010 ließ seine „Open Society Foundation“ der Organisation, wie sie stolz auf ihrer Webseite verkündete, über mehr als 100 Millionen Dollar zukommen, damit sie sich ein internationaleres Image zulegen könne.[48]

Deutlich wurde die Nähe von HRW auch nach dem Giftgas-Angriff vom 21. August 2013 in Ghouta, im Osten von Damaskus. Innerhalb von 3 Wochen veröffentlichte die Organisation einen Report, der die Position der US-Regierung stützte, wonach allein syrische Regierungstruppen verantwortlich gewesen sein konnten. Da US-Präsident Obama den Einsatz chemischer Waffen als „rote Linie“ bezeichnete, deren Überschreitung ein direktes militärisches Einschreiten der USA zur Folge hätte, stützte HRW damit einen Vorwurf, der sehr schnell zum Kriegsgrund werden konnte. Dies war zumindest grob fahrlässig ‒ nach Recherchen des renommierten, investigativen Journalisten Seymour Hersh und zweier türkischer Abgeordneten, sowie der Analyse zweier Waffenexperten am Massachusetts Institute of Technology (MIT) kann es als sicher angesehen werden, dass Al-Qaida-nahe Milizen die Anschläge verübten.[49]

Auch bei AI kann man immer wieder eine gewisse Nähe zu außenpolitischen Positionen der westlichen Staaten beobachten. Ihr Fokus liegt ebenfalls häufig auf den Ländern, die von den USA und den EU-Staaten ins Visier genommen werden und die einflussreiche US-Sektion ist ebenfalls nicht frei vom Drehtürmechanismus. So wurde 2012 mit Suzanne Nossel ausgerechnet eine Frau Geschäftsführerin von AI (USA), die zuvor als stellvertretende Referatsleiterin im Außenministerium eine führende Rolle bei der Einführung „bahnbrechender Menschenrechtsresolutionen“ gegen den Iran, Syrien und Libyen spielte und den Begriff „Smart Power“ für das Zusammenwirken von militärischer und „weicher“ Macht in der US-Außenpolitik prägte, die Hillary Clinton als bestimmendes Merkmal ihrer Außenpolitik bezeichnet.[50]

NATO-Krieg in Syrien und Irak tötet ebenfalls unbeteiligte Zivilisten

Wer so genau weiß wo das Gute und wo das Böse ist, hält es natürlich auch nicht nötig, die Folgen der Luftangriffe der US-geführten Koalition in Syrien und Irak zu untersuchen. Diese Bombardements töteten bereits, wir die US-Zeitschrift „Foreign Policy“ meldete schon nach den ersten 16 Wochen mindestens 100 Zivilisten.[51] Die britische Initiative Airwars.org, die sich die Erfassung der Opfer dieses, offiziell gegen den IS gerichteten Krieges, an dem sich mittlerweile auch die Bundeswehr beteiligt, zur Aufgabe gemacht hat, gab die Zahl der bis Ende 2015 getöteten Zivilisten mit 795 bis 2332 an.[52] [Die tatsächliche Zahl liegtmit Sicherheit wesentlich höher, da aus den Gebieten, die vom IS kontrolliert werden, kaum Informationen erhältlich sind, und niemand sagen kann, wie viele der „23.000 IS-Kämpfer“, die nach Angaben der US-Armee von der von ihr geführten Allianz getötet wurden, in Wirklichkeit unbeteiligte Zivilsten waren.[53] ]

Der Oberkommandierende der bombenden Allianz, General John Hesterman nannte ihren Luftkrieg über Syrien und Irak, „den genauesten und diszipliniertesten in der Geschichte der Führung von Luftkriegen.“ Doch auch hier, wie der Leiter des Airwars-Projekts, Chris Woods, gegenüber dem Guardian betonte, deckt sich die gepriesene Präzision nicht mit den Fakten am Boden.[54]

Ein besonders Risiko für Zivilisten aktuell in Irak und Syrien ist, wie auch „Foreign Policy“ warnt, die schlechte Qualität der Aufklärung vor und nach dem Angriff. Aufgrund der geringen Zahl von US-Bodentruppen bestehe „eine nahezu vollständige Abhängigkeit von Luftaufklärungs- und Überwachungs-Missionen.“ Die zuständigen Einheiten sind jedoch, wie selbst Pentagon-Mitarbeiter einräumen, viel zu überlastet, um auf diesem Wege ausreichende Informationen zu liefern. Das bedeutet, dass ‒ im Unterschied zur russischen Luftwaffe, die ihre Angriffe direkt mit den syrischen Truppen am Boden abstimmt ‒ die US-Jets häufig auf vagen Verdacht feuern und letztlich niemand sagen, was genau jeweils getroffen und wer getötet wurde.

Militärische Intervention ausgeblendet

In ihren Kampagnen gegen die syrische Regierung blenden AI und HRW zudem auch die Umstände völlig aus, die der syrischen Armee den blutigen Krieg aufzwingen. Zu den Fundamenten des internationalen Rechts gehört die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Insbesondere haben sich nach Kapitel 2 der UN-Charta alle Mitgliedsstaaten der UNO jeglicher Androhung, Anwendung und Unterstützung von Gewalt gegen die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit eines Landes zu enthalten.  In keinem der Berichte der beiden Menschenrechts-Organisationen wird auf die schweren Verstöße dagegen eingegangen, die die offene „Regime Change“-Kampagne eines Bündnis aus NATO-Staaten und Golfmonarchen, sowie die Ausbildung, Ausrüstung und Finanzierung bewaffneter Gruppen darstellt.

Wie AI internationales Recht gewichtet kann man aus seiner Empfehlung an „die internationale Gemeinschaft“ ‒ gemeint sind natürlich die westlichen Staaten ‒ ersehen, sie möge, bevor sie Waffen an nicht-staatliche Gruppen in Syrien“ liefere, „zuerst eine rigorose Menschenrechtsrisikoabschätzung vornehmen und einen robusten Monitoring-Prozess einrichten. [55] Nach dieser Logik dürfte z.B. auch Syrien bewaffnete Gruppen in den USA oder Frankreich bewaffnen, oder Russland türkische Milizen, solange diese garantieren würden, nur militärische Ziel ins Visier zu nehmen. ]]

Selbstverständlich sollte man die Opfer der Kriegführung keiner Seite herunterspielen. Krieg ist eine fürchterliche Sache und fordert horrende Opfer. Die Hauptschuld daran tragen jedoch die, die ihn begannen und ihn bis heute anfeuerten ‒ und dies sind in erster Linie die NATO-Staaten und ihre Verbündete, die zudem bisher alle Bemühungen um seine Beendigung torpedierten, indem sie die Kapitulation des Gegners zur Vorbedingung erklärten. Wer etwas gegen die Opfer des Krieges unternehmen möchte, der sollte vor allem dies anprangern und nicht die Kampagne auf die russischen Luftangriffe ausweiten.[56]



[1] siehe Norman Paech, Sarin in Syrien, Ossietzky Ossietzky Heft 1/2016 u. 2/2016oder auf der Homepage des Autors)

[4] Bürgerkrieg in Syrien: Mit Bomben und Chlorgas, DIE ZEIT Nr. 37/2015, 10.9.2015
 Kenneth Roth (HRW), Barrel Bombs, Not ISIS, Are the Greatest Threat to Syrians, NYT, 5.8.2015

[13] James Foley,Syria: Rebels losing support among civilians in Aleppo
, Global Post, 16.10.2012, Rick Sterling, Eight Problems with Amnesty’s Report on Aleppo Syria, CounterPunch, 14.5.2015

[20] Rick Sterling, Eight Problems with Amnesty’s Report on Aleppo Syria, CounterPunch, 14.5.2015

[25] In der „Martyrs List“ mit dem Filter „Martyrdom location“ nach „Kobani“ suchen.

[27] Eintrag „Nour Omar Hajji” in der Rubrik “Regime Army info”,
http://www.vdc-sy.info/index.php/en/details/otherstatistics/161872

[29] s. z.B. Eva Bartlett, Aleppo Photographer Brings Syrian Reality to the United Nations, Dissident Voice, 22.1.2015

[32] Zahlen addiert aus Jahres-Angaben für 2011-2014 und den Monatsangaben für 2015 (siehe Anti-Assad monitoring group says Syrian death toll passes 130,000<, Reuters, 31.12.2013, 76021 people killed in Syria in 2014, SOHR, 1.1.2015, sowie Casualties of the Syrian Civil War, Wikipedia).
In seiner Zusammenfassung für 2011-2015 vom 16.10.2015 kommt SOHR auf eine höhere Zahl von Ziviltoten (115.000) und eine niedrigere Zahl von getöteten Angehörigen regierungsloyaler Einheiten (About 2 millions and half killed and wounded since the beginning of the Syrian Revolution,
SOHR, 16.10.2015

[38] Chris Cole, „Smart Weapons Systems”: Are we being Misguided about „Precision Strikes”?, Global Research, 5.12.2015,
Despite precision of new weapons, civilians die, critics say - Poor visibility can cause bombs to go off course, San Francisco Chronicle, 22.3.2003

[39] Impact to Defence of Lessons Learnt using Modern Precision Strike Weapons, Weapons Systems Division of the Systems Sciences Laboratory (DSTO), April 2003
[41] J. Guilliard, Irak – kein Weg vorwärts, IMI-Analyse 2008/032, 8.10.2008

[42] Opferzahlen nach 10 Jahren „Krieg gegen den Terror“, aktualisierte, internat. Ausgabe, IPPNW, September 2015

[43] Iraq: Killings of civilians in Basra and al-'Amara, Amnesty International, 10.5.2004

[45] U.S.: Minimize Civilian Casualties in Iraq, Human Rights Watch, 16.3.2006

[46] War and Occupation in Iraq, Global Policy Forum, Center for Constitutional Rights u.a., Juni 2007,

[47] Nobel Peace Laureates Slam Human Rights Watch's Refusal to Cut Ties to U.S. Government ‒ Human Rights Watch's affiliation with ex-CIA and NATO officials generates perverse incentives and undermine its reputation for independence. Offener Brief unterzeichnet u.a. von Mairead Maguire, Adolfo Pérez Esquivel, Richard Falk, Hans von Sponeck et al., Alternet, 8.7.2014

[48]George Soros spendet 100 Millionen US$ an Human Rights Watch ‒ Gelder der Open Society Foundation sollen globale Präsenz stärken, HRW, 7.9.2010, Alexander Cockburn, The Soros Syndrome - George Soros's gift of $100 million to Human Rights Watch doesn't come without strings attached, The Nation, 15.9.2010

[49]Seymour M. Hersh, Whose sarin?, London Review of Books, 19.12.2013 und The Red Line and the Rat Line, London Review of Books, 17.4.2014,
Fabian Köhler, Wer steckt hinter dem syrischen Giftgas-Angriff?, CHP-Politiker machen aufgrund von Gerichtsakten den türkischen Geheimdienst und islamistische Milizen verantwortlich, Telepolis, 30.10.2015,
Richard Lloyd, Theodore A. Postol, Possible Implications of Faulty US Technical Intelligence in the Damascus Nerve Agent Attack of August 21 2013, MIT, 14.1.2014

[50] Ann Wright and Coleen Rowley, Amnesty’s Shilling for US Wars, Consortiumnews, 18.6.2012, Coleen Rowley,
Are Human Rights Becoming a Tool of US „Smart Power“?, War Is A Crime.org, 27.8.2012

[52] http://airwars.org, Stand 6.1.2016

[53] Islamic State defections mount as death toll rises, U.S. official says, USA Today, 30.11.2015

[56] Russia/Syria: Extensive Recent Use of Cluster Munitions - Indiscriminate Attacks Despite Syria’s Written Guarantees, HRW, 20.12.2015,
Neil Clark, Insult to our intelligence: New information war against Russia, RT, 1.10.2015

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