Deutschland steht in der Schuld der Griechen, nicht umgehrt

Leserbrief gegen die hetzerischen Berichte und Kommentare über die „faulen und korrupten Griechen“ und einige Quellen dazu.
 
Deutschland steht in der Schuld der Griechen, nicht umgehrt

Es ist erschreckend, wie schnell Stimmung gegen die Bevölkerung eines ganzen Landes gemacht werden kann: die „faulen und korrupten Griechen“ hätten sich betrügerisch in die Eurozone geschmuggelt, über ihre Verhältnisse gelebt und wir hart arbeitende Deutschen müssen nun für deren Schlendrian bluten.

Die eigentlichen Ursachen, wie die immer noch ungebremste Spekulation an den Finanzmärkten, werden heruntergespielt. Ignoriert wird auch, dass nicht die Griechen vom Beitritt Griechenlands zum Euro profitierten, sondern in erster Linie deutsche Unternehmen. Mit ihrer Währung gaben die Griechen auch die Möglichkeit auf, durch Abwertungen der Konkurrenz aus Deutschland etwas entgegenzusetzen. Da in Deutschland die Löhne so wenig stiegen wie in keinem EU-Land – inflationsbereinigt sogar sanken – konnten deutsche Firmen ihre Exporte immer mehr steigern, vor allem auf Kosten der südlichen Euroländer. Da ein großer Teil der notwendigen Kredite von deutschen Banken vergeben wurden, verdient die deutsche Wirtschaft daran sogar doppelt.
Logischer Weise kann man aber nicht auf Dauer Exportüberschüsse auf Kosten anderer erzielen. Irgendwann machen die Opfer dieser Politik schlapp. Nicht die – alles andere als üppigen – Löhne und Sozialleistungen der Griechen müssen daher runter, sonder die der Deutschen endlich ordentlich rauf.

Und bevor man die Griechen voll Arroganz zum Sündenbock einer allgemein verfehlten Wirtschaftspolitik macht, sollte man sich daran erinnern, dass wir es sind, die massiv in griechischer Schuld stehen – moralisch, aber auch finanziell: Noch immer stehen die Reparationszahlungen für die Zerstörungen, die Kriegsverbrechen und die große Zahl von Opfern der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg aus. Addiert man zu den 1946 festgesetzten Reparationen die nicht zurückgezahlten Zwangsanleihen, so beläuft sich – je nach Berechnung der aufgelaufenen Zinsen – die Schuld auf 60 bis 120 Mrd. Dollar. Hinzukommen individuelle Entschädigungsforderungen griechischer Gemeinden für Nazi-Massaker wie in Distomo und Kalavrita in Höhe von 11 Mrd. Euro. Damit wäre Griechenland erst mal aus dem Schneider.
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Einige Quellen:

Ein Unrecht muß gesühnt werden, Manolis Glezos, DIE ZEIT, 40/1995
(Manolis Glezos gehört zu den Symbolfiguren des griechischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg.)
[...]
Bei den Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Griechenland handelt es sich um folgende Summen:
  1. Restschulden aus Entschädigungsverpflichtungen aus dem Ersten Weltkrieg in Höhe von achtzig Millionen Mark, in Preisen von 1938.
  2. Aufgelaufene Schulden Deutschlands aus dem bilateralen Handel zwischen den beiden Kriegen in Höhe von 523 873 000 US-Dollar, in Preisen von 1938.
  3. Reparationsforderungen nach Berechnungen der Pariser Konferenz der Siegermächte von 1946 in Höhe von 7,1 Milliarden US-Dollar, in Preisen von 1938 (Entschädigung für die Beschlagnahme von Privat- und Staatseigentum, Plünderung, Zerstörung).
  4. Ansprüche aus einer Zwangsanleihe von 3,5 Milliarden US-Dollar, die der Bank von Griechenland 1942 aufgenötigt wurde, um sowohl die Stationierungskosten für die Besatzungstruppen in Griechenland als auch die Verpflegung des Afrika-Korps von General Rommel zu bestreiten. Experten schätzen die heutige griechische Forderung unter Einbeziehung eines Minimalzinssatzes von drei Prozent auf dreizehn Milliarden US-Dollar.
In diesen Wiedergutmachungsforderungen sind die enormen Verluste unseres Landes an Menschenleben nicht inbegriffen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 7 Millionen verlor Griechenland: 70 000 Personen infolge direkter kriegerischer Auseinandersetzungen; 12 000 Zivilisten infolge indirekter kriegerischer Auseinandersetzungen; 38 960 hingerichtete Menschen; 100 000 in Konzentrationslagern ermordete Geiseln (ein großer Teil davon griechische Juden); 600 000 Hungertote.
[...]

Kein Geld für Distomo? – BRD-Regierung verweigert griechischen Kriegsopfern Entschädigung
Jörg Hilbert, junge Welt, 22.02.1999
[...] Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech kommt in einem Gutachten zu dem Ergebnis, daß sich "je nach Berechnung der inzwischen aufgelaufenen Zinsen, Reparationsansprüche von 35 bis 70 Milliarden Dollar" ergeben.
[...] Bonn argumentierte: "Nach Ablauf von 50 Jahren seit Kriegsende und Jahrzehnten friedlicher, vertrauensvoller und fruchtbarer Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der internationalen Staatengemeinschaft hat die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren."
Weit gefehlt. "Das Völkerrecht kennt für derartige Tatbestände keine Verjährung", hält Paech dagegen und betont, daß aber Athen seine Ansprüche nicht vehement verfolge. [...]
Reparationszahlungen sind eine offene Frage, SPIEGEL, 08.03.2010
Der geschäftsführende Außenminister Dimitris Droutsas, 41, über die belasteten Beziehungen zu Deutschland und Athens Kampf gegen die Finanzkrise
SPIEGEL: deswegen klagen noch immer 66 griechische Gemeinden auf rund elf Milliarden Euro Entschädigung für Nazi-Massaker wie in Distomo und Kalavrita. Sogar der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist damit befasst.
Droutsas: Für uns bleiben Reparationszahlungen durch Deutschland eine offene Frage
 - Individuelle Entschädigungen:

Entschädigungsstreit belastet deutsch-griechisches Verhältnis
Der Standard, 28. Februar 2010
"Vor griechischen Gerichten anhängig sind mehr als 60.000 Schadenersatzklagen."

"... zum Schweigen gebracht"
Wie die Bundesrepublik mit Entschädigungsforderungen von NS-Opfern umspringt. Das Beispiel Griechenland

Rolf Surmann, Konkret 04/99, S. 44

Blutspur durch Hellas
Brutal herrschten die deutschen Besatzer in Griechenland - auf eine angemessene Entschädigung wartet das Land bis heute
Eberhard Rondholz, Die ZEIT, 11/2001

 - Zur Umrechung der historischen Beträge auf heutige Preise

US-Dollar Inflation Calculator: http://data.bls.gov/cgi-bin/cpicalc.pl

Preisindex für Lebenshaltung aller privaten Haushalte seit 1881 (Verbraucherpreisindex)
http://privatschule-eberhard.de/interessant/Preisindex.htm

 - Zur aktuellen "Griechenlandkrise"

Dritter Staatsbankrott?
Griechische Schulden, deutsche Panzer, Euro-Diktat & eine Fakelaki-Ökonomie made by Siemens
Winfried Wolf, Lunapark21

Krisenmythos Griechenland
Athens Schuldenkrise ist nicht Ursache, sondern lediglich Auslöser der neuesten Etappe einer seit Jahrzehnten schwelenden Krise
Tomasz Konicz, telepolis, 04.05.2010 (18 Seiten)
Hans Meier (Gast) - 20. Dez, 21:15

Vergangenheit

Meine Meinung: ich habe niemanden Schaden zugefügt. Warum soll ich als 40jähriger einem 40jährigem Griechen Geld geben weil meine Vorfahren etwas getan haben? da es nur noch wenige Überlebende gibt und die verantwortlichen Täter tot sind erübrigt sich in der Tat eine Reparation. Die Zukunft kann nur in einem gemeinsamen Europa liegen - warum gilt der Satz nur immer wenn Deutschland mal wieder Solidärleistungen abdrücken soll? wenn es mal zu Deutschlands Vorteil ausgelegt werden kann, gilt offensichtlich nach wie vor "Nix gemeinsames europa, wir wollen Kohle"Damit zeigt sich wie der europäische Gedanke wirklich ausgeprägt ist.

JGuilliard - 20. Dez, 22:35

Es geht auch um echte, materielle Schulden

Es geht natürlich nicht darum, was ein Deutscher persönlich einem Griechen schultet. Deutschland steht als Nachfolger des Deutschen Reiches zweifelsfrei in der Verantwortung.
Die Griechen können zu Recht fragen, warum müssen sie bis heute selbst die Hypothek abtragen, die die riesigen Zerstörungen während der dt. Besatzung nach Kriegsende darstellten.

Es geht aber nicht nur um Reparationen. Der deutsche Staat und deutsche Konzerne haben ja damals Milliardensummen in Gold, Geld oder Güter geraubt. Dieses Kapital war ja nach Kriegsende nicht weg, sondern wurde zur unfreiwilligen Investition fürden Wiederaufbau bei uns. Es "arbeitet" seither für den deutschen Fiskus und die Konzerne oder ihren Nachfolger. Auf der anderen Seite fehlte es den Griechen, die unter viel mieseren Bedingungen nach WK II starten mußten. Nach gängigem Rechtsverständnis müssen die Nutznießer der unfreiwilligen Investitionen - sowohl Staat wie Konzerne - diese mit Zinsen zurückzahlen. Da ihr Profit sicherlich deutlich höher als der Standardzinssatz war, hätten sich immer noch bereichert.

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