Die WikiLeaks Irak-Protokolle
Die vertraulichen Irak-Protokolle der US-Armee die Wikileaks am 22. Oktober ins Netz stellte, sorgten weltweit wieder für einen großen Wirbel.
Schon das ist ein Erfolg, war der Krieg im Irak doch weitgehend aus den Medien verschwunden. Die Protokolle bringen nun wieder die brutalen Seiten der Besatzung in Erinnerung. Nun brachten doch einige Fernsehsender und Printmedien ausführliche Dokumentationen über die brutale Besatzungspolitik.
Man muß sich allerdings davor hüten, die "War logs" als Tatsachenberichte zu lesen. Da sie die Sicht der berichtenden US-Einheiten wiedergeben, geben sie zum guten Teil die Propaganda der US-Army wieder.
Schon das ist ein Erfolg, war der Krieg im Irak doch weitgehend aus den Medien verschwunden. Die Protokolle bringen nun wieder die brutalen Seiten der Besatzung in Erinnerung. Nun brachten doch einige Fernsehsender und Printmedien ausführliche Dokumentationen über die brutale Besatzungspolitik.
Man muß sich allerdings davor hüten, die "War logs" als Tatsachenberichte zu lesen. Da sie die Sicht der berichtenden US-Einheiten wiedergeben, geben sie zum guten Teil die Propaganda der US-Army wieder.
Entscheidend Neues enthalten die Protokolle nicht. Viele Berichte und Anklagen von Irakern, um die sich zuvor im Westen kaum jemand scherte, werden nun jedoch durch die von US-Soldaten erstellten Berichte bestätigt. So bruchstückhaft die Informationen bleiben, so belegen sie vor allem eines: wie wenig ein irakisches Menschenleben zählt.
Damit wäre an sich der Weg frei für Anklagen und gerichtliche Untersuchungen vieler Gewaltakte und mutmaßlicher Kriegsverbrechen der Besatzer und ihrer Verbündeter.
Vorbild könnten die von den Public Interest Lawyers vertretene Klage von 142 Irakern gegen die britische Armee wegen Misshandlungen im Irak-Krieg sein oder die beiden öffentlichen Untersuchungen, die bereits gegen britische Einheiten laufen, die Baha Mousa Public Inquiry [1] und die Al-Sweady Public Inquiry (s. a. Lawyers seek inquiry into claims of UK abuse in Iraq, BBC, 5.11.2010).
Der britische Menschenrechtsanwalt Phil Shiner, der die Opfer vertritt, unterstützte auch die Veröffentlichung der Irakprotokolle. (s. a. Phil Shiner, Iraq war logs: Bringing Britain to book, Guardian, 23.10.2010)
Die Namen der Täter wurden zwar vor der Veröffentlichung von Wikileaks entfernt, Gerichte könnten auf Anfrage jedoch sicher auch die Original-Protokolle erhalten. Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Täter zur Verantwortung gezogen würde, könnte das Risiko einer späteren strafrechtlichen Verfolgung, Soldaten und andere potentielle zur Zurückhaltung bewegen und so zukünftige Verbrechen verhindern helfen.
Der stellvertretende britische Premierminister Nick Clegg bezeichnete die Hinweise auf Kriegsverbrechen für so schwerwiegend, dass sie dringend gerichtlich untersucht werden müssen. Das britische Militärministerium stimmte dagegen in den Chor derer ein, die die Veröffentlichung der Informationen verurteilte, da sie das Leben US-amerikanischer und britischer Soldaten gefährden würde (Iraq war logs: US turned over captives to Iraqi torture squads, Guardian, 24.10.2010).
Diese auch von der US-Regierung und den US-Kommandeuren sowie vielen Medien geäußerten Vorwürfe einer Gefährdung ihrer Krieger sind jedoch - ungeachtet ihrer Stichhaltigkeit - völlig irrelevant. Offensichtlich bilden die US-Truppen selbst den Kern des brutalsten Terrornetzwerkes, das es aktuell gibt. Und Vorrang hat selbstverständlich der Schutz potentieller Opfer und nicht der der Täter.
Nicht authentische Wahrheit, sondern Krieg aus Sicht der GIs
Die Protokolle haben aber auch eine problematische Seite. Ihr Umfang und ihre Detailliertheit lässt bei vielen den Eindruck entstehen, sie würden ein Stück „Wahrheit“ über die sechs Kriegsjahre widerspiegeln. Das tun sie keineswegs. Sie geben nur die Sicht der berichtenden US-Einheiten wieder, genauer gesagt das, was sie weitergeben wollten oder mussten. Es gehen dabei genau die Fehleinschätzungen, Propagandabegriffe, Falschdarstellungen etc. ein, die die ganzen Jahre hindurch die Berichterstattung vernebelten. (Der Spiegel benennt die Schwächen durchaus, berücksichtigt sie aber bei seiner Bewertung oft nicht)
Wenn Tote als feindliche Kämpfer („anti-irakische Kräfte“) eingestuft werden, so geschieht dies meist ohne stichhaltige Anhaltspunkte dafür, sehr oft sind es, wie Stichproben zeigen, reine Schutzbehauptungen. Obwohl die Zahl der tatsächlich genannten getöteten Zivilisten daher nur die Spitze des Eisbergs sein kann, behandeln viele Medien sie als die neue definitive Opferzahl.
Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass auch in den meisten Protokollen zivile Opfer schlicht verschwiegen wurden. Es gibt jedoch einige Ausnahmen, die entlarven, wie dreist die US-Army bzgl. ziviler Opfer ihrer Angriffe logen. Auf ein Beispiel weist Jonathan Steele vom britischen Guardian hin. Es geschah während der groß angelegten Operation Steel Curtain, als 2.500 US-Soldaten die Stadt Husayba an der syrischen Grenze angriffen. In der Erfolgsmeldung nach den 17tätigen Angriffen aus der Luft und vom Boden war nur von 139 getöteten „Aufständischen“ die Rede. Berichte über zivile Opfer der US-Bomben und Granaten stritt ein führender US-Luftwaffenoffizier mit der Behauptung ab, die „Aufständischen“ würden Zivilisten töten und dann ihnen zur Last legen.
Doch die US-Kommandeure wussten sehr wohl, dass sie bei den Luftangriffen auf Husayba mindestens 25 Zivilisten, darunter 10 Frauen und 11 Kinder getötet hatten. In einem der nun veröffentlichten Protokolle ist vermerkt, dass US-Soldaten dabei waren, als die Leichen aus drei zerbombten Häusern ausgegraben wurden (Jonathan Steele, Iraq war logs: Operation Steel Curtain and its 25 ignored civilian casualties, Guardian 24.10.2010).
Berichte von Ärzten und Sanitäter und anderen Augenzeugen, Krankenhausprotokolle und Gräber deuten laut Ellen Knickmeyer von der Washington Post, die 6 Wochen danach nachforschte, darauf hin, dass noch viel mehr Nicht-Kombattanten während des 17tägigen Feldzugs umgebracht wurden. Eine Ärztin berichtete von mindestens 97 Ermordeten in der ersten Woche. (U.S. Airstrikes Take Toll on Civilians - Eyewitnesses Cite Scores Killed in Marine Offensive in Western Iraq, WaPo, 24.12. 2005.)
Die Episode zeigt nebenbei auch die generelle Schwäche von Opferstatistiken, die auf bloßem Zählen beruhen: der gerne von den Medien als "genaueste Schätzung" irakischer Opfer zitierte Iraqi Body Count ICB für die gesamten 17 Tage - Seite 165 / 166 ihrer Datenbank - nur 10 Tote.
Steele weist auch noch auf einen anderen Großangriff hin, die Operation Baton Rouge mit dem Ziel der Rückeroberung von Samarra, Anfang Oktober 2004. Der unter Einsatz der gewaltigen AC-130 „gunships“ durchgeführte Angriff auf Samarra war der bis dahin größte seit Abschluss der Invasion. Die Protokolle über diese Operation, die zu den anschaulichsten Schlachtberichten unter den War Logs zählen, belegen, so Steele, recht deutlich die brutale Realität eines „asymmetrischen Krieges“ – den Einsatz von massiver Feuer- und Zerstörungskraft gegen kleine Widerstandsgruppen in dichtbewohnten Stadtvierteln. (Jonathan Steele, Iraq war logs: Battle for Samarra killed dozens of innocent people, Guardian, 24.10.2010)
Die wichtigsten Objekte in der Stadt erhielten die Namen von US-Präsidenten, die Gegner - wie immer - die absurde Bezeichnung „anti-irakische Kräfte“, engl. abgekürzt AIF. "Kill boxes 1A and 1B closed," heißt es im zweiten Eintrag um 00.30 Uhr. Das bedeutet, dass für zwei Planquadrate die Ermächtigung gegeben wurde, auf alles zu schießen, was sich bewegt – ohne weitere Erlaubnis einholen zu müssen.
Die AC-130 Bomber feuerten, bald wurden 40 getötete Feinde am „Objekt Taft“ und 7 AIF bei „Objekt Harding“ verzeichnet. Bei Tagesanbruch rückten US-Truppen zusammen mit irakischen Hilfstruppen in die Stadt ein. Weitere 94 getötete Feinde wurden notiert.
Die Protokolle vermelden keine zivile Tote. Auch die damaligen Mitteilungen der US-Armee enthalten keinerlei Hinweise auf unbeteiligte Opfer. Hier wurde nur die Erfolgsmeldung ausgegeben, „127 Aufständische“ seien getötet, „60 verwundet“ und 128 gefangen genommen worden
Wie Zidan Khalaf von Associated Press, einer der wenigen Reporter, die über den Angriff berichteten, erfuhr, waren jedoch die Leichen von vermutlich 70 unbeteiligten Zivilisten ins Leichenhaus gebracht worden, darunter 23 Kinder und 18 Frauen.
Viel Propaganda
Viele lesen aus den Protokollen auch heraus, dass die meiste Gewalt von Irakern selbst ausging und auch die meisten Ziviltote auf Kosten irakischer Kräfte gingen. Die irakischen Beteiligten würden dies vermutlich häufig anders schildern. Vor allem aber sind die meisten brisanten Ereignisse, die die US-Army belasten, in den veröffentlichten Protokollen offensichtlich nicht enthalten. Hier gibt es z.B. nichts zu Abu Ghraib oder über das Massaker von Haditha am 19.11.2005. Alle Protokolle und Dokumente zu solchen Themen wurden in eine höhere Geheimhaltungsstufe eingestuft und somit für den Wikileaks-Informanten unzugänglich gemacht.
Gerne aufgegriffen in den Medien wurden die Berichte über angebliche iranische Unterstützung für schiitische Milizen durch Waffenlieferungen, Training etc. Die New York Times, die zu den Zeitungen gehört, die die Protokolle vorab erhielten, legt hierauf in ihren Berichten einen ihren Schwerpunkte. Sie beweisen jedoch nur, dass die Protokollanten daran glaubten oder glauben machen wollten, nicht, dass daran auch etwas daran ist. Selbst das - in solchen Dingen sonst nicht so zimperliche - Magazin Der Spiegel relativierte die Bedeutung der Notizen:
Auch die Einstufungen von Kämpfern als Angehörige dieser oder jener Formation, wie z.B. Mahdi-Armee, Al Qaeda, sunnitische Miliz etc. sollte man nicht als Faktum nehmen. Richteten sich Gewalttaten gegen Sunniten, so wurden die Täter meist stereotyp bei der Mahdi-Armee einsortiert (Die Mahdi-Armee - Milizionäre und ihre Helfer), waren die Opfer schiitische Zivilisten, so wurde wahlweise „Aufständische“ oder Al Qaeda dazugeschrieben. Iraker, internationale Menschenrechtsorganisationen und die UN-Mission im Irak sahen dagegen mindestens so oft regierungsnahe Milizen, wie die Badr Brigaden am Werke.
Echos von El Salvador
Bei den meisten Fällen scheinen die Besatzer nicht direkt verantwortlich für Übergriffe und illegale Gewaltanwendung zu sein. Der Vorwurf gegen sie beschränkt sich darauf, nicht eingegriffen zu haben. Doch auch hier erhält man aus den fragmentarischen Berichten nur dann ein Bild, wenn man die gesammelten Informationen über den schmutzigen Krieg der USA im Irak, über das gezielte Schüren konfessioneller Konflikte hinzuzieht.
Nur so erklärt sich auch das „Wegsehen“. Dies war kein Fehlverhalten einzelner Einheiten. Es gab vielmehr eine klare Anweisung: die Fragmented Order 242 ordnete explizit an, sich auf keinen Fall einzumischen, wenn die irakischen Verbündeten foltern und morden. (Iraq war logs: The truth for Hanaan Hamood Matrood, Guardian, 24.10.2010)
Angesichts der nun lauter werdenden Vorwürfen gegen irakische Kräfte, verweisen die irakischen Führer darauf, dass die US-Amerikaner schließlich auch maßgeblich an der Ausrüstung und Ausbildung von Spezialeinheiten beteiligt waren, die letztlich als Todesschwadrone fungierten. (siehe Patrick Cockburn, Echoes of El Salvador in tales of US-approved death squads, The Independent, 23.10.2010)
Bekanntlich orientierten sich die Besatzer im Irak an ihren erfolgreichen Aufstandbekämpfungsmethoden in El Salvador, wo die von den USA trainierten Todesschwadrone einen Sieg der Befreiungsbewegung verhindern konnten. Diese Methoden sind direkt nachzulesen: einmal im „Counterinsurgency Field Manual FM 3-24“ das unter Federführung des damaligen Oberkommandierenden im Irak General David Petraeus ausgearbeitet wurde und im „US Army Field Manual FM 31-20-3“. Letzteres, ein 219seitiges Operations-Handbuch für Spezialkräfte das 1994 erstellt und 2004 aktualisiert wurde, im „US Army Field Manual FM 31-20-3“. Das 219 Seiten lange Counter Insurgency Manual von 2004 war im Juni 2008 von Wikileaks veröffentlicht worden.
Es war auch nie ein Geheimnis, so Cockburn, dass Folter in den Kerkern der neuen irakischen „Sicherheitskräfte“ die Norm war. Männer, die eindeutig Opfer von Folter waren, wurden häufig im Fernsehen vorgeführt, wo sie Mord, Vergewaltigung u.Ä. gestanden. Nicht selten erwiesen sich die angeblich Ermordeten später als noch quicklebendig. Natürlich wußten die USA, was da vorging und wahrscheinlich förderten sie es noch in ihrer Strategie des „Teile und Herrsche.“ (s. auch meinen Artikel Der schmutzige Krieg gegen die Zukunft des Irak)
Die Protokolle belegen nun z.B., dass US-Truppen sehr häufig Gefangene an die berüchtigte Wolf-Brigade übergeben haben, um sie dort foltern zu lassen. Meist heißt es zwar nur, dass sie zu „weiteren Verhören“ überstellt wurden, die US-Offiziere wussten jedoch genau, wie die Verhöre vonstatten gingen. Ein Protokoll gibt sogar die explizite Drohung der USA an einen Gefangenen wieder: er würde dem ganzen Schmerz und der ganzen Qual unterworfen, die das Wolfsbataillon bekanntlich seinen Gefangen zufüge.
Das als Wolfs-Brigade bekannte 2. Bataillon der Spezialkommandos des Innenministeriums wurde von den USA aufgebaut und ausgerüstet. Als Militärberater fungierte Oberst James Steele der sich schon beim Aufbau der Todesschwadrone in El Salvador einen Namen machte.
All dies endete selbstverständlich nicht mit den Protokollen 2009. Mittlerweile sind die effektivsten Spezialeinheiten, die Iraq Special Operations Forces, die sich Premier Nuri al-Maliki mit US-Hilfe zugelegt hat. Dass sich die Arbeitsweise seit den Tagen der Kriegsprotokolle nicht geändert hat, zeigt die Entdeckung eines Geheimgefängnisses im April 2010, das von Malikis Brigade in Bagdad geführt wurde. Ein Viertel der 437 Gefangenen wies Spuren schwerer Folter auf (Secret prison revealed in Baghdad, Los Angeles Times, 19.04.2010).
----------------------
Die Irak-Protokolle Spiegel:
Iraq war logs: http://www.guardian.co.uk/world/iraq-war-logs
-------------
Damit wäre an sich der Weg frei für Anklagen und gerichtliche Untersuchungen vieler Gewaltakte und mutmaßlicher Kriegsverbrechen der Besatzer und ihrer Verbündeter.
Vorbild könnten die von den Public Interest Lawyers vertretene Klage von 142 Irakern gegen die britische Armee wegen Misshandlungen im Irak-Krieg sein oder die beiden öffentlichen Untersuchungen, die bereits gegen britische Einheiten laufen, die Baha Mousa Public Inquiry [1] und die Al-Sweady Public Inquiry (s. a. Lawyers seek inquiry into claims of UK abuse in Iraq, BBC, 5.11.2010).
Der britische Menschenrechtsanwalt Phil Shiner, der die Opfer vertritt, unterstützte auch die Veröffentlichung der Irakprotokolle. (s. a. Phil Shiner, Iraq war logs: Bringing Britain to book, Guardian, 23.10.2010)
Die Namen der Täter wurden zwar vor der Veröffentlichung von Wikileaks entfernt, Gerichte könnten auf Anfrage jedoch sicher auch die Original-Protokolle erhalten. Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Täter zur Verantwortung gezogen würde, könnte das Risiko einer späteren strafrechtlichen Verfolgung, Soldaten und andere potentielle zur Zurückhaltung bewegen und so zukünftige Verbrechen verhindern helfen.
Der stellvertretende britische Premierminister Nick Clegg bezeichnete die Hinweise auf Kriegsverbrechen für so schwerwiegend, dass sie dringend gerichtlich untersucht werden müssen. Das britische Militärministerium stimmte dagegen in den Chor derer ein, die die Veröffentlichung der Informationen verurteilte, da sie das Leben US-amerikanischer und britischer Soldaten gefährden würde (Iraq war logs: US turned over captives to Iraqi torture squads, Guardian, 24.10.2010).
Diese auch von der US-Regierung und den US-Kommandeuren sowie vielen Medien geäußerten Vorwürfe einer Gefährdung ihrer Krieger sind jedoch - ungeachtet ihrer Stichhaltigkeit - völlig irrelevant. Offensichtlich bilden die US-Truppen selbst den Kern des brutalsten Terrornetzwerkes, das es aktuell gibt. Und Vorrang hat selbstverständlich der Schutz potentieller Opfer und nicht der der Täter.
Nicht authentische Wahrheit, sondern Krieg aus Sicht der GIs
Die Protokolle haben aber auch eine problematische Seite. Ihr Umfang und ihre Detailliertheit lässt bei vielen den Eindruck entstehen, sie würden ein Stück „Wahrheit“ über die sechs Kriegsjahre widerspiegeln. Das tun sie keineswegs. Sie geben nur die Sicht der berichtenden US-Einheiten wieder, genauer gesagt das, was sie weitergeben wollten oder mussten. Es gehen dabei genau die Fehleinschätzungen, Propagandabegriffe, Falschdarstellungen etc. ein, die die ganzen Jahre hindurch die Berichterstattung vernebelten. (Der Spiegel benennt die Schwächen durchaus, berücksichtigt sie aber bei seiner Bewertung oft nicht)
Wenn Tote als feindliche Kämpfer („anti-irakische Kräfte“) eingestuft werden, so geschieht dies meist ohne stichhaltige Anhaltspunkte dafür, sehr oft sind es, wie Stichproben zeigen, reine Schutzbehauptungen. Obwohl die Zahl der tatsächlich genannten getöteten Zivilisten daher nur die Spitze des Eisbergs sein kann, behandeln viele Medien sie als die neue definitive Opferzahl.
Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass auch in den meisten Protokollen zivile Opfer schlicht verschwiegen wurden. Es gibt jedoch einige Ausnahmen, die entlarven, wie dreist die US-Army bzgl. ziviler Opfer ihrer Angriffe logen. Auf ein Beispiel weist Jonathan Steele vom britischen Guardian hin. Es geschah während der groß angelegten Operation Steel Curtain, als 2.500 US-Soldaten die Stadt Husayba an der syrischen Grenze angriffen. In der Erfolgsmeldung nach den 17tätigen Angriffen aus der Luft und vom Boden war nur von 139 getöteten „Aufständischen“ die Rede. Berichte über zivile Opfer der US-Bomben und Granaten stritt ein führender US-Luftwaffenoffizier mit der Behauptung ab, die „Aufständischen“ würden Zivilisten töten und dann ihnen zur Last legen.
Doch die US-Kommandeure wussten sehr wohl, dass sie bei den Luftangriffen auf Husayba mindestens 25 Zivilisten, darunter 10 Frauen und 11 Kinder getötet hatten. In einem der nun veröffentlichten Protokolle ist vermerkt, dass US-Soldaten dabei waren, als die Leichen aus drei zerbombten Häusern ausgegraben wurden (Jonathan Steele, Iraq war logs: Operation Steel Curtain and its 25 ignored civilian casualties, Guardian 24.10.2010).
Berichte von Ärzten und Sanitäter und anderen Augenzeugen, Krankenhausprotokolle und Gräber deuten laut Ellen Knickmeyer von der Washington Post, die 6 Wochen danach nachforschte, darauf hin, dass noch viel mehr Nicht-Kombattanten während des 17tägigen Feldzugs umgebracht wurden. Eine Ärztin berichtete von mindestens 97 Ermordeten in der ersten Woche. (U.S. Airstrikes Take Toll on Civilians - Eyewitnesses Cite Scores Killed in Marine Offensive in Western Iraq, WaPo, 24.12. 2005.)
Die Episode zeigt nebenbei auch die generelle Schwäche von Opferstatistiken, die auf bloßem Zählen beruhen: der gerne von den Medien als "genaueste Schätzung" irakischer Opfer zitierte Iraqi Body Count ICB für die gesamten 17 Tage - Seite 165 / 166 ihrer Datenbank - nur 10 Tote.
![]() ![]() |
Die wichtigsten Objekte in der Stadt erhielten die Namen von US-Präsidenten, die Gegner - wie immer - die absurde Bezeichnung „anti-irakische Kräfte“, engl. abgekürzt AIF. "Kill boxes 1A and 1B closed," heißt es im zweiten Eintrag um 00.30 Uhr. Das bedeutet, dass für zwei Planquadrate die Ermächtigung gegeben wurde, auf alles zu schießen, was sich bewegt – ohne weitere Erlaubnis einholen zu müssen.
Die AC-130 Bomber feuerten, bald wurden 40 getötete Feinde am „Objekt Taft“ und 7 AIF bei „Objekt Harding“ verzeichnet. Bei Tagesanbruch rückten US-Truppen zusammen mit irakischen Hilfstruppen in die Stadt ein. Weitere 94 getötete Feinde wurden notiert.
Die Protokolle vermelden keine zivile Tote. Auch die damaligen Mitteilungen der US-Armee enthalten keinerlei Hinweise auf unbeteiligte Opfer. Hier wurde nur die Erfolgsmeldung ausgegeben, „127 Aufständische“ seien getötet, „60 verwundet“ und 128 gefangen genommen worden
Wie Zidan Khalaf von Associated Press, einer der wenigen Reporter, die über den Angriff berichteten, erfuhr, waren jedoch die Leichen von vermutlich 70 unbeteiligten Zivilisten ins Leichenhaus gebracht worden, darunter 23 Kinder und 18 Frauen.
Viel Propaganda
Viele lesen aus den Protokollen auch heraus, dass die meiste Gewalt von Irakern selbst ausging und auch die meisten Ziviltote auf Kosten irakischer Kräfte gingen. Die irakischen Beteiligten würden dies vermutlich häufig anders schildern. Vor allem aber sind die meisten brisanten Ereignisse, die die US-Army belasten, in den veröffentlichten Protokollen offensichtlich nicht enthalten. Hier gibt es z.B. nichts zu Abu Ghraib oder über das Massaker von Haditha am 19.11.2005. Alle Protokolle und Dokumente zu solchen Themen wurden in eine höhere Geheimhaltungsstufe eingestuft und somit für den Wikileaks-Informanten unzugänglich gemacht.
Gerne aufgegriffen in den Medien wurden die Berichte über angebliche iranische Unterstützung für schiitische Milizen durch Waffenlieferungen, Training etc. Die New York Times, die zu den Zeitungen gehört, die die Protokolle vorab erhielten, legt hierauf in ihren Berichten einen ihren Schwerpunkte. Sie beweisen jedoch nur, dass die Protokollanten daran glaubten oder glauben machen wollten, nicht, dass daran auch etwas daran ist. Selbst das - in solchen Dingen sonst nicht so zimperliche - Magazin Der Spiegel relativierte die Bedeutung der Notizen:
„Hinweise auf eine Iran-Connection sind eher sporadische Funde. Dass die USA so intensiv auf Belege für Waffenlieferungen aus dem Nachbarland geachtet haben, wirkt eher wie eine angestrengte Suche nach Beweisen dafür, dass Iran zu den Hauptunterstützern der schiitischen Milizen im Irak gehört.“Das gleiche gilt für die mutmaßliche syrische Verwicklung in Selbstmordattentate im Irak, die an mehreren Stellen erwähnt wird oder für die angeblichen syrischen Finanz- und Trainingshilfen.
Auch die Einstufungen von Kämpfern als Angehörige dieser oder jener Formation, wie z.B. Mahdi-Armee, Al Qaeda, sunnitische Miliz etc. sollte man nicht als Faktum nehmen. Richteten sich Gewalttaten gegen Sunniten, so wurden die Täter meist stereotyp bei der Mahdi-Armee einsortiert (Die Mahdi-Armee - Milizionäre und ihre Helfer), waren die Opfer schiitische Zivilisten, so wurde wahlweise „Aufständische“ oder Al Qaeda dazugeschrieben. Iraker, internationale Menschenrechtsorganisationen und die UN-Mission im Irak sahen dagegen mindestens so oft regierungsnahe Milizen, wie die Badr Brigaden am Werke.
Echos von El Salvador
Bei den meisten Fällen scheinen die Besatzer nicht direkt verantwortlich für Übergriffe und illegale Gewaltanwendung zu sein. Der Vorwurf gegen sie beschränkt sich darauf, nicht eingegriffen zu haben. Doch auch hier erhält man aus den fragmentarischen Berichten nur dann ein Bild, wenn man die gesammelten Informationen über den schmutzigen Krieg der USA im Irak, über das gezielte Schüren konfessioneller Konflikte hinzuzieht.
Nur so erklärt sich auch das „Wegsehen“. Dies war kein Fehlverhalten einzelner Einheiten. Es gab vielmehr eine klare Anweisung: die Fragmented Order 242 ordnete explizit an, sich auf keinen Fall einzumischen, wenn die irakischen Verbündeten foltern und morden. (Iraq war logs: The truth for Hanaan Hamood Matrood, Guardian, 24.10.2010)
Angesichts der nun lauter werdenden Vorwürfen gegen irakische Kräfte, verweisen die irakischen Führer darauf, dass die US-Amerikaner schließlich auch maßgeblich an der Ausrüstung und Ausbildung von Spezialeinheiten beteiligt waren, die letztlich als Todesschwadrone fungierten. (siehe Patrick Cockburn, Echoes of El Salvador in tales of US-approved death squads, The Independent, 23.10.2010)
Bekanntlich orientierten sich die Besatzer im Irak an ihren erfolgreichen Aufstandbekämpfungsmethoden in El Salvador, wo die von den USA trainierten Todesschwadrone einen Sieg der Befreiungsbewegung verhindern konnten. Diese Methoden sind direkt nachzulesen: einmal im „Counterinsurgency Field Manual FM 3-24“ das unter Federführung des damaligen Oberkommandierenden im Irak General David Petraeus ausgearbeitet wurde und im „US Army Field Manual FM 31-20-3“. Letzteres, ein 219seitiges Operations-Handbuch für Spezialkräfte das 1994 erstellt und 2004 aktualisiert wurde, im „US Army Field Manual FM 31-20-3“. Das 219 Seiten lange Counter Insurgency Manual von 2004 war im Juni 2008 von Wikileaks veröffentlicht worden.
Es war auch nie ein Geheimnis, so Cockburn, dass Folter in den Kerkern der neuen irakischen „Sicherheitskräfte“ die Norm war. Männer, die eindeutig Opfer von Folter waren, wurden häufig im Fernsehen vorgeführt, wo sie Mord, Vergewaltigung u.Ä. gestanden. Nicht selten erwiesen sich die angeblich Ermordeten später als noch quicklebendig. Natürlich wußten die USA, was da vorging und wahrscheinlich förderten sie es noch in ihrer Strategie des „Teile und Herrsche.“ (s. auch meinen Artikel Der schmutzige Krieg gegen die Zukunft des Irak)
Die Protokolle belegen nun z.B., dass US-Truppen sehr häufig Gefangene an die berüchtigte Wolf-Brigade übergeben haben, um sie dort foltern zu lassen. Meist heißt es zwar nur, dass sie zu „weiteren Verhören“ überstellt wurden, die US-Offiziere wussten jedoch genau, wie die Verhöre vonstatten gingen. Ein Protokoll gibt sogar die explizite Drohung der USA an einen Gefangenen wieder: er würde dem ganzen Schmerz und der ganzen Qual unterworfen, die das Wolfsbataillon bekanntlich seinen Gefangen zufüge.
Das als Wolfs-Brigade bekannte 2. Bataillon der Spezialkommandos des Innenministeriums wurde von den USA aufgebaut und ausgerüstet. Als Militärberater fungierte Oberst James Steele der sich schon beim Aufbau der Todesschwadrone in El Salvador einen Namen machte.
All dies endete selbstverständlich nicht mit den Protokollen 2009. Mittlerweile sind die effektivsten Spezialeinheiten, die Iraq Special Operations Forces, die sich Premier Nuri al-Maliki mit US-Hilfe zugelegt hat. Dass sich die Arbeitsweise seit den Tagen der Kriegsprotokolle nicht geändert hat, zeigt die Entdeckung eines Geheimgefängnisses im April 2010, das von Malikis Brigade in Bagdad geführt wurde. Ein Viertel der 437 Gefangenen wies Spuren schwerer Folter auf (Secret prison revealed in Baghdad, Los Angeles Times, 19.04.2010).
----------------------
Die Irak-Protokolle Spiegel:
- Die Protokolle auf einen Blick, Tag für Tag: SPIEGEL ONLINE zeigt die Dokumente und Todeszahlen zum Irak-Krieg auf einer interaktiven Karte...
- In eigener Sache: Wie der SPIEGEL mit den US- Militärdokumenten umgeht
- Expertise: So sind die Protokolle zu verstehen, so zuverlässig sind sie
Iraq war logs: http://www.guardian.co.uk/world/iraq-war-logs
-------------
- Die Baha Mousa Public Inquiry untersucht Folter und Mord an dem 26-jährigen Hotelangestellte Baha Musa. Dieser war im September 2003 in britischem Gewahrsam im Camp Bucca in Basra gestorben. Sein Körper wies mehr als 93 Verletzungen auf, darunter Rippenbrüche und eine gebrochene Nase.
- Die Al-Sweady Public Inquiry ist eine öffentliche Untersuchung gemäß dem Inquiries Act 2005 zum Tod von Khuder al-Sweady und fünf weiteren Irakern an. Dabei geht es u. a. um den Vorwurf, britische Soldaten hätten 2004 in einem ihrer Stützpunkte Khuder al-Sweady getötet und fünf weitere Iraker gefoltert oder in anderer Weise misshandelt.
- Iraq war logs: Secret order that let US ignore abuse – Mistreatment of helpless prisoners by Iraqi security forces included beatings, burning, electrocution and rape, Guardian, 24.10.2010
- Iraq war logs: US turned over captives to Iraqi torture squad, Guardian, 24.10.2010, sowie Iraq war logs: 'The US was part of the Wolf Brigade operation against us' -- Omar Salem Shehab tells of torture at hands of notorious Iraqi police unit and says US forces were involved in his capture, Guardian, 28.10.2010
- Shane Bauer, Die schmutzige Brigade von Bagdad, Le Monde diplomatique, 10.7.2009
JGuilliard - Montag, 25. Oktober 2010
Trackback URL:
https://jghd.twoday.net/stories/wikileaks-irak-protokolle/modTrackback