SOS aus Mossul

Während der von der russischen Luftwaffe unterstützen Offensive der syrischen Armee zur Befreiung Ost-Aleppos von den islamistischen Milizen wie der Al Nusra Front und Ahrar al Sham, die den Stadtteil seit Sommer 2012 besetzt hielten, war die Situation der verbliebenen Bevölkerung bestimmendes Thema in den Nachrichten. Deren Zahl wurde dabei sehr großzügig auf 250.000 Menschen geschätzt und bzgl. Zerstörungen und ziviler Opfer wurde unbesehen die meist stark übertriebene Darstellung der regierungsfeindlichen Kräfte übernommen.
Über die ebenfalls seit Monaten anhaltenden Offensive gegen das von der Dschihadisten-Miliz "Islamischer Staat" (Daesch/IS) kontrollierte Mossul erfährt man nur etwas über den Fortschritt der Eroberung der Angreifer. Über das Schicksal der Menschen in der Metropole erfährt man nahezu nichts, obwohl sich dort, trotz der Flucht von weit über 100.000 Menschen, noch ein bis eineinhalb Millionen Bewohner befinden.

Dabei ist Lage der Eingeschlossenen katastrophal und die Zahl der zivilen Opfer der Bombardierungen der US-geführten "Koalition" und der Angriffe der irakischen Bodentruppen immens.
 
Die aus Mossul stammende Umweltwissenschaftlerin Souad Al-Azzawi meldete vor wenigen Tagen erschüttert den Tod ihres Professors und Mentors Dr. Al-Layla, der mitsamt seiner Familie unter den Trümmern seines von US-Bomben zerstörten Hauses begraben wurde. Sie schrieb:
Wie Sie vielleicht gehört haben, bombardiert die US-amerikanische Koalition in Mosul die Zivilbevölkerung. In den vergangenen Tagen griff die Koalition drei Häuser namhafter Professoren und Forscher an der Mosul Universität an. Einer von ihnen war mein College-Professor und Mentor Prof. Dr. Mohamad Tybee Al-Layla.

Dr. Al-Layla promovierte in Geotechnical Engineering an der University of Texas, USA. Seit den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts arbeitete er als Fakultätsmitglied in der Fakultät für Bauingenieurwesen an der Ingenieurschule der Universität Mosul. Er wurde zweimal zum Vorsitzenden des Bauingenieuramtes und zum Dekan des Kollegiums ernannt. Er betreute mehr als 30 Doktorarbeiten und Masterarbeiten in Geotechnik und Bauingenieurwesen. Er veröffentlichte 48 wissenschaftliche und technische Beiträge im Irak und im Ausland und wurde Redakteur von 3 wissenschaftlichen Fachzeitschriften und Magazinen.

Er erhielt am 2. Juni 2014 den prestigeträchtigen Preis des "Irakischen Wissenschaftstages" .

Er hatte 40 Jahre lang aufrichtig und hart gearbeitet, Tausende hocheffiziente und intelligente Ingenieure ausgebildet und ihnen zu ihrem Abschluss verholfen. Viele von ihnen wurden Minister, stellvertretende Minister, Wissenschaftler und hochrangige Geschäftsführer in Geo- und Bewässerungtechnik sowie anderen zivilen und politischen Posten im Irak und im Ausland.

Als seinen Schülern bricht es uns das Herz, dass Dr. Al-Layla [Ziel eines Angriffs wurde], obwohl er eine so große irakische wissenschaftliche Persönlichkeit war, die die Gemeinschaft der Universität von Mosul wie auch die Stadt Mosul nie enttäuscht oder im Stich gelassen hat, auch nicht in den härtesten Zeiten.
Das Verbrechen, dass der Angriff auf sein Haus durch die US-Koalition und sein schmerzlicher Tod gemeinsamer mit seiner unschuldigen Familie darstellt, die unter den Ruinen ihres Hauses begraben wurden, wird für uns eine unvergessliche Katastrophe bleiben, für die alle Parteien Verantwortung tragen und die uns alle daran erinnert, dass wir immer noch weiter in den Abgrund sinken, zu dem die kriminelle US-Besetzung des Irak führte.

Möge seine Seele ruhen wie auch die Seelen der vielen Tausenden von Unschuldigen, die jeden Monat in Mosul verantwortlungslos und ohne Reue durch den ISIS und die Koalition getötet werden. "
Zwei Tage später wurden zwei Ärzte, Mitglieder der medizinischen Fakultät, und Familienangehörige zu weiteren Opfern der Luftangriffe der US-geführen Koalition. In den Medien wurde die Universität erneut "postfaktisch" zum Hauptquartier des Daesch/IS erklärt. Sie war schon zuvor häufiges Ziel von US-Bomben, die viele Opfer unter Angestellten und Studenten forderten. Allein bei einem Bombardement im März letzten Jahres wurden mindestens 90 Menschen getötet (siehe »Das ist ein Kriegsverbrechen« - US-Flugzeuge bombardierten die Universität von Mossul, jW, 31.03.2016)

Auf der Webseite der britischen Initiative Airwars.org, die unter https://airwars.org/civilian-casualty-claims/ die ihr bekannt gewordenen Opfer des Luftkrieges der US-Koalition in Syrien und Irak auflistet, findet man viele weitere Fälle. Eine Ahnung von der tödlichen Realiät vermittelt unten eine zehntägige Auswahl.

Airwars.org erfasst dabei nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Opfer. Das renommiertere Projekt „Iraq Body Count“ (IBC), das seit 2003 die zivilen Opfer des Krieges im Irak zu dokumentieren sucht, hat wesentlich mehr registriert: demnach wurden seit Juni 2014 ca. 4450 Zivilisten durch die Bomben der von der Bundeswehr unterstützten Luftwaffen der USA und anderer NATO-Staaten getötet. Bekanntlich bekommt auch IBC viele Toten nicht mit und ist die Einteilung in Zivilisten und Kämpfer aus der Ferne fragwürdig. Wir müssen daher von einem Mehrfachen dieser Zahl ausgehen (mehr dazu in meinem Ossietzky-Artikel: Fortgesetzte
Vertuschung – zivile Opfer im Luftkrieg der US-Allianz in Syrien und Irak
)

Etwa 100.000 irakische Soldaten, Spezialkräfte, kurdische Peschmerga und Kämpfer der berüchtigten schiitischen Milizen haben die Stadt umschlossen und rücken seit 3 Monaten Richtung Zentrum vor unterstützt von massiven Luftangriffen der USA und ihren Verbündeten. Man geht allgemein davon us, dass es noch viele weitere Monate dauern wird, bis die Stadt zurückerobert sein wird. Ihr und ihren Bewohner droht das gleiche Schicksal, wie Falludscha und Ramadi, die im Zuge ihrer "Befreiung" stark zerstört wurden. Im Unterschied zu Aleppo betrachtet die Mehrheit der Mossuler das Eindringen der überwiegend schiitischen und kurdischen Truppen und Milizen jedoch nicht als Befreiung.

Statt eine weitere Stadt zu zerstören, um sie zu "befreien", wäre es nötig, sich durch eine Verständigung mit der sunnitischen Bevölkerung in Mossul und Umgebung deren Unterstützung im Kampf gegen den IS zu sichern (siehe dazu meinen jW-Beitrag Mossul und Aleppo – ein Lehrstück in Doppelmoral und Propaganda).

Zu humanitären Situation in Mossul siehe weiter unten das Summary "SOS from Mosul" von Souad Al-Azzawi, deren Infos sehr zuverlässig sind, sowie das Interview mit ihr in der jungen Welt v. 26.01.2017 »Es mangelt an allem«.
 
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Civilian casualties from Airwars.org January 2nd - January 12th
Mike Phipps, Iraq Occupation Focus, 16.1.2017
(from: https://airwars.org/civilian-casualty-claims/)

Airwars reports (January 2nd): Mosul: Four women were killed and 8 injured by Coalition strikes, according to local reports. (January 3rd): As many as 22 civilians were reported killed, and 29 injured, in airstrikes by an unspecified party in eastern Mosul according to local media. Yaqein reported that one civilian was killed and 11 injured in the Noor neighborhood of eastern Mosul. It cited “government and international” strikes.

(January 4th): Press and local sources said that 16 displaced civilians were killed or injured, mostly children and women, after Coalition warplanes targeted their houses in 17 July neighbourhood, at the right side of Mosul. A local sources said that a named civilian, Imad Ahmed, was killed in raids on Farms district, north of Mosul.

(January 5th): Five members of the same family were killed when a Coalition airstrike hit a house, according to local sources. Multiple reports referenced dead and wounded Iraqi troops killed in a friendly fire incident by Coalition strikes. Local sources told Mosul Ateka that 26 civilians from 4 families were killed when their home was bombed by Coalition strikes. Fourteen people including women and children were killed, and 15 wounded by Coalition strikes in the Garage and Fatih areas, according to local reports. Local sources said two named civilians (a father and son) were killed after a missile targeted their house in the left side of Mosul.

(January 6th): Local sources and relatives of victims said that more than 20 civilians from three families were killed, including children and women, after Coalition airstrikes targeted their houses in front of Saddam mosque at the entrance of Farms district, north of Mosul. Up to eighteen people were killed and 24 injured – mostly women and children – in government and Coalition airstrikes, in Qaem, Anbar province. Local sources said that a family of three children and their grandmother were killed after their house was hit by a missile during raids in the Agricultural residential neighborhood in central Mosul area, which is still under ISIL control. Local sources said civilians were killed and injured after Coalition Apache helicopters targeted a market in Sumer neighborhood, southeast of Mosul, with machine guns.

(January 7th): Five civilians were reported killed, including 3 children and 2 women in raids in West Mosul. Local and medical sources said that 15-27 civilians were killed and many others injured and children displaced, in an alleged Coalition airstrike. Local and medical sources said that 12 civilians were killed and many others injured, mostly displaced women and children, in the locality of Ibn al-Haytham – new area of Mosul (the valley of the eye) due to Coalition airstrikes southeast of Mosul.

(January 8th): One civilian was reported killed in alleged Coalition airstrikes that targeted an ISIL member in a civilian vehicle, in Hadbah neihbourhood in the northeast of Mosul. Local reports say that the streets in eastern Mosul were covered by the bodies of dozens of civilians – their deaths caused by Coalition airstrikes and heavy artillery. Local reports indicated that shelling struck civilian homes in Sukkar, Talla and Mufthana neighborhoods in eastern Mosul, “resulting in the burying of dozens of civilians under the rubble,” according to an account in a report by Iraqi Spring Media Center. Local sources said that the Imam of Ansar mosque, Sheikh Jawad, was killed by a mortar in Sukar neighbourhood, northeast of Mosul. Local sources said that civilians, including women and children, were killed or injured due to Coalition airstrikes on Rashad and Riad regions in Hawija, southwest of Kirkuk.

(January 9th): Local sources said that civilians were killed or injured after alleged Coalition airstrikes targeted a medical center in the Officers neighborhood near the Fourth bridge. Local sources and relatives of victims said that Coalition airstrikes targeted a family house in Muthanna neighborhood northeast of Mosul. (January 10th): Local sources reported that the Coalition targeted Hadbah neighborhood, northeast of Mosul, with three raids. (January 11th): Local sources said Coalition airstrikes and artillery shelling targeted Hadbah neighborhood northeast of Mosul this evening, killing dozens of civilians. Local sources reported that Coalition airstrikes bombed a house with three missiles in Second Ka’afat neighborhood, northeast of Mosul. Local sources reported that Coalition airstrikes bombed a house in Maliah neighborhood, at the left side of Mosul during an operation to retake it. Up to 17 civilians were killed and five others injured, mostly women and children from the same family who were inside the house at the time of the strike.

(January 12th): Local sources reported that the international Coalition and/or US aircraft had carried out airstrikes in New Mosul neighborhood, at the right side of Mosul, leaving up to 30 civilians dead and 14 others wounded. Local sources said airstrikes targeted civilians houses in Qaim west of Anbar which killed 4 civilians and injured 7 others.

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SOS from Mosul
Souad Al-Azzawi, 6.12.2016

We continuously receive messages from friends and relatives in Mosul updating us. The humanitarian situation is catastrophic. Nearly one million civilians are trapped in between areas being targeted by either the American led coalition, the Iraqi army and Hashed Al Shabby militias, and ISIS. The media is only showing the suffering of the displaced people and exaggerating the advances of the army. The suffering of residents stuck inside of Mosul is being ignored almost completely. The situation can be summarized as below:

There is little to no clean water because the water supply network and stations have been bombed. River water is being used where available. Areas that are not close to the river are trying to access groundwater from nearby farms. Some households have neither option as family members cannot leave their houses due to heavy shelling.
In liberated areas there is no electricity. These areas comprise less than 15% of Mosul City. Other areas are getting around two hours in the morning and two in the evening from private generators due to lack of fuel.

Household food stocks are running low. Some families have no food due to a lack of money or a lack of access. Deaths from starvation are expected soon. Families who stored food left it behind during forced evacuations by ISIS or the army in areas of engagement. Those families could take nothing with them and have nowhere to go with their children and their elderly. Their cars are also being confiscated for use in car bombings.

In the Qadisiyah area of Eastern Mosul (where heavy fighting has been taking place the last few days), people have started burying their deceased in the gardens of their homes as they have no route to leave the house with the corpse or arrange for burial. They are living with the constant fear of a missile destroying their home any minute.

Airstrikes by the American coalition have targeted complete residential buildings just to take out a single sniper with access to their rooftop. Similarly, the army is destroying houses with the use of ground missiles, regardless of whether they are occupied by families who could not leave under the heavy shooting and shelling.

There are no hospitals currently under the control of the army. Injured or sick people need to be taken to Erbil which is a two hour ride away in clear weather. Most hospitals in Erbil do not have the capacity to handle the thousands of cases coming in from Mosul. With no money or resources, people from Mosul are not admitted for treatment. There is a serious need for mobile emergency hospitals in liberated areas.

Hospitals inside Mosul also lack medicine for the most basic of diseases, as well as blood for transfusions or operations and other vital supplies.
As many of you know, American military experts estimated that this operation might take months to complete. With these dire conditions, a humanitarian crisis looms for the residents of Mosul.

The Iraqi government and the sectarian militias involved in the fighting do not have the training or equipment to divert the catastrophes resulting from the fighting. They do not have the capacity to worry about an alarming rise in the civilian death rate.   In fact, the increasing casualty rate in certain areas serves the sectarian demographic changes being pursued by the current government.

The same could be said for the American Coalition which is fighting to push their own agenda and working out which areas to liberate and hand over to their allies the Kurdish Peshmerga, in order to secure Mosul oil reservoirs under their control.

In summary, the situation started out quite bad with multiple parties fighting with shocking disregard for civilians.

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