Irak – Widerstand in einer unipolaren Welt

Artikel in: trikont-Beilage der jW vom 10.11.2010 (>> Inhalt dieser Beilage)

Im irakischen Widerstand
Zu Entwicklung und Stand des Kampfes gegen eine übermächtige Besatzungsarmee


Intellektuelle aus dem Trikont, wie der philippinische Soziologe und Träger des alternativen Nobelpreises Walden Bello, betonten in der Vergangenheit immer wieder, daß die weltweite Antikriegsbewegung dem irakischen Widerstand viel verdankt. Durch ihn seien aggressive Pläne der USA gegenüber anderen Ländern gestoppt oder verzögert worden. Das Interesse der westlichen Linken dagegen blieb gering. Der islamische Hintergrund vieler irakischer Gruppen und das von den Besatzern und ihren Verbündeten geschaffene Bild des Widerstands schloß für die meisten eine Solidarität von vornherein aus.
 
»Wie alle irakischen Frauen steht sie (die 18jährige Marwa) einmal im Monat Schlange, um mit ihrer Lebensmittelkarte subventionierte Nahrungsmittel zu ergattern. Pro Person gibt es neun Kilo Mehl, drei Kilo Reis, zwei Kilo Zucker, 1,25 Kilo Speiseöl, ein Kilo Salz und ein paar 100 Gramm Bohnen, Linsen, Erbsen, Trockenmilch und Tee sowie etwas Waschpulver und zwei Stück Seife. Kosten pro Kopf 15 Dollar. Aber meist fehlt die Hälfte. Millionen Iraker hungern, vor allem Kinder.
Solche Probleme kennen GIs hier nicht. Während die Iraker hungern, haben die meisten US-Soldaten Gewichtsprobleme. Von den kulinarischen Genüssen ihrer Militärbasen schwärmen selbst verwöhnte westliche Diplomaten.
Staunend stehen sie vor endlosen Theken feinster Vorspeisen, erlesener Fleisch- und Fischgerichte und Bergen von Kuchen, Obst und Eis.«
(Der ehemalige CDU-Politiker, Autor und Manager Jürgen Todenhöfer im Kölner Stadtanzeiger, 10. Oktober 2009)
Dabei sind die Unterschiede des irakischen Widerstands zu früheren, oft auch idealisierten Befreiungsbewegungen weniger gravierend als es auf den ersten Blick scheint. (Auch wenn sie nach 1945 meist von sozialistischen Kräften geführt wurden, war die bäuerliche Basis mehr einem volkstümlichen Nationalismus und ihren alten lokalen Traditionen verhaftet. Auch sie waren zu Beginn meist zersplittert und benötigten viele Jahre zu einer Einigung.)
Läßt man Al-Qaida-nahe Gruppierungen beiseite, die eine völlig andere Agenda verfolgen und nicht zum nationalen Widerstand gezählt werden, so sind die Ziele im Kern vergleichbar mit denen früherer Kämpfe. Zwar spielen linke Organisationen und die Reste der Baath-Partei nur eine untergeordnete Rolle, doch knüpfen die Besatzungsgegner an alte antikoloniale Traditionen sowie die arabisch-nationalistischen und sozialistischen Ideen an, die dem Baathismus zugrunde liegen.

Es geht folglich nicht allein um staatliche Unabhängigkeit, sondern auch um die Ressourcen des Landes. Diese sollen unter nationaler Kontrolle gehalten und der gesamten Bevölkerung zugute kommen. Die Widerstandsbewegung kämpft für die nationale Einheit des Landes und gegen die Spaltung entlang der Volks- und Konfessionszugehörigkeit. Viele Gruppen tragen islamische Namen und sind geprägt von einem volkstümlichen Islam, für die politische Zielsetzung spielt Religion jedoch keine bedeutende Rolle. (Laut Journalisten die im engen Kontakt zu ihnen standen, geht Religion und nationales Bewusstsein Hand in Hand mit sozial fortschrittlichem, antiimperialistischem Gedankengut, das teilweise an die 68er Generation erinnert. Siehe z.B. Patrick Graham, Beyond Fallujah – A year with the Iraqi resistance, Harper's Magazine, Juni 2004 )
Ihr Konzept ist daher auch nicht der »Dschihad«, sondern Al Muqawama Al Sharifa, das arabisch-nationalistische Konzept von Widerstand.

Der Kampf gegen die Besatzungsmächte begann unter sehr schwierigen Bedingungen praktisch bei null. Die zuvor herrschende Baath-Partei war weitgehend zerschlagen und ihre Führung in den Augen vieler Iraker diskreditiert. Als Rückhalt blieben, wie so oft in der Geschichte des Landes, nur die Stammesstrukturen und die Moscheen. Deckung bot aufgrund des ungünstigen Geländes oft allein die sympathisierende Bevölkerung. Die Guerillagruppen, konfrontiert mit der größten Militärmacht, die es je gab, verfügten über kein sicheres Hinterland und auch keine mächtigen Bündnispartner. Kein Staat wagte es angesichts der globalen Dominanz der USA, irakischen Widerstandsorganisationen offizielle Büros zu gestatten.

Ziviler Widerstand

Dennoch wuchs die Gegenwehr rasch und setzte den Besatzern durch Scharfschützen, Hinterhalte, Mörser- und Raketenangriffe mächtig zu. Vor allem Sprengfallen und ferngezündete, selbstgefertigte Minen gegen Patrouillen und Konvois fügten diesen erhebliche Verluste zu. Bis Ende 2007 hatte die US-Armee bereits 32000 Tote und Schwerverwundete zu verkraften (s. Iraq Coalition Casualty Count). Parallel dazu entwickelte sich trotz der massiven Repression auch ein starker ziviler Widerstand. Vor allem die neu entstandenen, parteiunabhängigen Gewerkschaften, allen voran jene im Ölsektor, stellten sich erfolgreich ersten Privatisierungsversuchen entgegen und entwickelten sich zur mitgliederstärksten säkularen Opposition. Da die Besatzer bei einer gewaltsamen Durchsetzung ihrer Pläne fürchten müßten, daß sich ein Teil dieser Opposition dem militärischen Widerstand anschließen würde, sahen sie sich gezwungen, unpopuläre Maßnahmen, wie die Privatisierung von Staatsbetrieben, vorerst auf Eis legen.

Auch die Einigung schritt langsam voran. Bis 2007 hatte sich das Gros der bewaffneten Gruppen in drei großen Guerillafronten gesammelt und enge Verbindungen zu zivilen Organisationen geknüpft. Ihr Schwerpunkt liegt aber nach wie vor im mehrheitlichen sunnitischen Teil des Iraks. Von einem einheitlichen Widerstand kann daher noch lange nicht die Rede sein.

Die heftige Gegenwehr blockierte nicht nur die Politik im Irak sondern stoppte die ehrgeizigen Pläne der USA für die gesamte Region. Der Blutzoll, den die irakische Bevölkerung dafür zu zahlen hatte, war jedoch immens. Immer mehr in die Defensive gedrängt, weiteten die USA nicht nur den regulären Krieg durch Belagerungen und Bombenangriffe auf ganze Städte aus, sondern intensivierten auch ihren schmutzigen, verdeckten Krieg und die Spaltung der Bevölkerung nach ethnischen und konfessionellen Kriterien. Die Politik des Teile und Herrsche eskalierte 2006 nach einem Anschlag auf eines der höchsten Heiligtümer der Schiiten. Die Gewalt nahm zeitweilig Züge eines konfessionellen Bürgerkrieges an. Während Al-Qaida-nahe sunnitische Extremisten, im Irak Takfiri genannt, Schiiten angriffen, vertrieben schiitische Milizen durch noch massiveren Terror sunnitische Familien aus bis dahin gemischten Gebieten.

Mehr als eine Million Tote und fast fünf Millionen Flüchtlinge sind die fürchterliche Bilanz der US-Angriffe und der verheerenden sektiererischen Gewalt, die bis 2008 anhielt. Sie stoppte schließlich die Offensive des Widerstands und verhinderte ein Zusammengehen der säkularen und sunnitischen Kräfte im Norden mit den schiitischen im Süden.

Landplage Takfiri

Zum einen war die Bevölkerung in den Zentren der Bewegung, die die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte, stark dezimiert und weder fähig noch willens, eine Fortsetzung der Kämpfe mitzutragen. Zum anderen sahen viele arabische Nationalisten, konfrontiert mit Angriffen an drei Fronten, nicht mehr in der Beseitigung der US-Besatzung die vordringlichste Aufgabe, sondern im Kampf gegen die zur Landplage gewordenen Óakfiri und die als iranische Besatzung wahrgenommene Dominanz schiitischer Parteien. Sie begannen über sunnitische Stammesräte taktische Bündnisse mit den Besatzern einzugehen und Milizen aufzubauen, die von diesen finanziert wurden. Obwohl nicht gegen den Widerstand gerichtet, zogen die sogenannten Al-Sahwa-Milizen nicht nur Kämpfer ab, sondern schränkten auch den Spielraum für die Guerilla spürbar ein.

Die Besatzungsmacht konnte auf diese Weise eine Niederlage verhindern, doch gewonnen hat sie den Krieg keineswegs. Der bewaffnete Widerstand geht, wenn auch auf niedriger Stufe, weiter. Der politische Widerstand wurde unterdessen breiter und stärker. Die meisten Projekte Washingtons bleiben blockiert, von der Gründung einer staatlichen Anstalt für Privatisierung bis zu einem neuen Gesetz, das eine Privatisierung der Ölproduktion ermöglichen würde. Noch unter Präsident Bush sah sich die US-Administration gezwungen, einem Zeitplan für einen schrittweisen Rückzug zuzustimmen. Auch wenn ein vollständiger Rückzug wenig wahrscheinlich ist, schwächt dies ihre Position weiter. Die Mehrheit der Bevölkerung hat genug von Gewalt und hofft, die Besatzung mit politischen Mitteln beenden zu können. Sollte sich jedoch abzeichnen, daß die USA nicht gewillt sind, den Irak aus ihren Klauen zu lassen, wird auch der militärische Widerstand wieder zunehmen.
(US-Berichte verzeichnen bereits seit den letzten Wahlen eine Zunahme von Angriffen gegen irakische Regierungstruppen, die Grüne Zone in Bagdad und US-Basen. Die islamische Armee, die größte Guerillaorganisation, startete Mitte September eine neue Kampagne. Sie listet seither auf ihrer Homepage täglich Angriffe auf US-Truppen. Dasselbe gilt für die andere große Front, die "Front für Dschihad und Wandel", über deren Aktivitäten die Association of Muslim Scholars in Iraq AMSI auf ihrem Portal Heyetnet unter Iraqi Resistance berichten.)

Die Besatzung ist zwar das wichtigste, aber nicht das einzige Hindernis auf dem Weg aus der Misere. Angesichts der Bestrebungen der militärisch sehr starken kurdischen Parteien, ihr Herrschaftsgebiet auf das ölreiche Kirkuk und andere Regionen jenseits des Autonomiegebietes auszudehnen, und schiitischen Parteien, die im Bündnis mit dem Iran einen guten Teil von Polizei und Armee kontrollieren, braucht das Land eine starke, einige Bewegung für die Wiederherstellung der Souveränität und Einheit des Landes. Diese ist noch lange nicht in Sicht.

Joachim Guilliard ist Statistiker und Softwareingenieur, aktiv in der Friedens- und Solidaritätsbewegung, Irak-Spezialist. Autor zahlreicher Fachartikel, Mitherausgeber bzw. -autor mehrerer Bücher

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