Neoliberaler Kolonialismus im Irak

Artikel in: Friedensforum 3/2009, Juni/Juli 2009 - Themenschwerpunkt "Kolonien im 21. Jahrhundert"

Formal regelten bis Ende letzten Jahres UN-Resolutionen die Präsenz der Besatzungstruppen im Irak und den Rahmen des politischen Prozesses der zur Wiedererlangung seiner staatlichen Souveränität führen sollte. Die USA behielten aber – mit dem Segen des UN-Sicherheitsrats – die alleinige Kontrolle über das Land.
 
Die UNO spielte in all den Jahren nur eine sehr bescheidene Zuschauerrolle. Verordnungen, diverse Institutionen und vor allem mehrere Hunderttausend
US-amerikanische Soldaten, Söldner und zivile Besatzungskräfte, sorgen auch noch heute dafür, dass die USA die Politik des Landes in hohem Maße bestimmen.

In der ersten Periode der Besatzung übten die USA mit Hilfe der Besatzungsbehörde CPA unter Paul Bremer die direkte Kontrolle über den Irak aus. In dieser Phase wurden die entscheidenden Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Sie begann mit der vollständigen Demontage des alten Staates. Nicht nur Polizei und Armee wurden ersatzlos aufgelöst, mit verheerenden Folgen für die Sicherheit, auch der größte Teil der Verwaltung des Staates und der staatlichen Unternehmen: 85.00 Beamte, Verwaltungsfachleute, Ingenieure, Betreiber öffentlicher Dienstleistungen etc. wurden aus ihren Ämtern entfernt und mit ihnen der administrative und technologische Erfahrungsschatz des Landes.

Die USA setzten beim Neuaufbau von Polizei, Armee und Verwaltung weitgehend auf ihre Verbündeten, die beiden kurdischen Parteien PUK und KDP und aus dem Exil zurückkehrende Kräfte, insbesondere auf die radikal-schiitischen Organisationen SCIRI und DAWA. Alle Ämter und Posten wurden nun nach Maßgabe eines im Irak bisher nicht gekannten ethnisch-konfessionellen Proporz sowie nach Partei- und Clanzugehörigkeit
vergeben. Das dadurch eingeführte sektiererische und extrem korrupte System beherrscht bis heute das politische System.

Im Juni 2004 wurde auf dieser Basis eine erste Übergangsregierung eingesetzt. Im Mai 2005 folgte nach fragwürdigen ersten Wahlen unter Besatzungsbedingungen eine zweite Interimsregierung und nach erneuten Wahlen im Dezember 2005, auf Basis einer neuen Verfassung, die erste international anerkannte Regierung mit dem Premierminister Nuri al-Maliki an der Spitze. Auch diese wird von den kurdischen und schiitischen Parteien dominiert, der sektiererische Charakter blieb.

Diese Regierung ist formal unabhängig, nach wie vor sind jedoch die USA dominierende Kraft im Land: koordiniert vom riesigen Stab der weltgrößten „Botschaft“ sorgen Hunderte von „Beratern“ in den Ministerien und regionalen Institutionen dafür, dass nichts aus dem Ruder läuft. Die tatsächliche Macht liegt in den Händen der Besatzungstruppen, ohne deren Unterstützung die kurdisch-schiitische Regierung nicht lange überleben würde.

Ähnlich wie Afghanistan wurde der Irak einem gründlichen neoliberalen „Nation Building“ unterworfen. Ausgangsituation und Vorgehensweise waren allerdings in den beiden okkupierten Ländern grundverschieden. Im Unterschied zu Afghanistan war der Irak ein entwickelter Industriestaat, mit einer effektiven, stark zentralisierten Verwaltung gewesen. Auch wenn die Erdölexporte kriegsbedingt weit unter seinen Möglichkeiten liegen, verfügt der Irak dadurch über erhebliche eigene finanzielle Mittel. So betrugen die Einnahmen 2008 immerhin 60 Mrd. Dollar. Entsprechend seiner enormen wirtschaftlichen und geostrategischen Bedeutung, war die Besatzungsherrschaft im Irak von Anfang an wesentlich umfassender. Obwohl kleiner als Afghanistan, beträgt die Zahl der bewaffneten
und zivilen Besatzungskräfte hier ein Vielfaches.

„Shock and Awe“-Therapie

Die militärische Strategie des „Shock and Awe“ (Schockieren und Furcht Einflößen) mit der die US-geführten Truppen in das Zweistromland einfielen wurde sofort mit einer neoliberalen „Schock Therapie“ fortgesetzt.
US-Statthalter Paul Bremer erließ in kurzer Zeit Dutzende von Gesetzen, die das britische Wirtschaftsblatt The Economist als Erfüllung der „Wunschliste internationaler Investoren“ bezeichnete. Auf einen Schlag wurden alle bisherigen Investitionsgesetze außer Kraft gesetzt und die gesamte Wirtschaft des Landes, mit Ausnahme des Rohstoffsektors, für ausländische Unternehmen vollständig geöffnet. Subventionen in Nahrung, Gesundheit und Bildung wurden auf Druck von IWF und Weltbank runtergefahren, Zölle weitgehend aufgehoben und die durch 12 Jahre Embargo stark geschädigten Firmen und Bauern schutzlos der internationaler Konkurrenz ausgeliefert. Für die meisten bedeutete dies der Ruin, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 70% und der Irak muss jetzt 95% seiner Nahrungsmittel importieren. Bremers Erlasse sind größtenteils auch heute noch Gesetz.[1]

Der Vorsitzende der irakischen „Gewerkschaft der Industrien“, schätzt dass seit 2003 ca. 36.000 kleine und mittlere Unternehmen, das sind 90% der Firmen des Landes, dicht machen mussten: wegen billiger Importe, fehlender Importzölle, ausbleibender Kredite, die Flucht von Fachkräften u.v.m. Auch ein großer Teil der 200 staatlichen Großkonzerne musste den Betrieb einstellen, wodurch allein 500.000 Leute auf die Straße gesetzt wurden. Diese Unternehmen sollten ursprünglich privatisiert werden, der Widerstand dagegen war aber zu groß und das Interesse potentieller Käufer noch gering. Die Besatzer ließen sie daraufhin schlicht austrocknen.[2]

Plünderung statt Wiederaufbau

Einen abgestimmten Plan für den Wiederaufbau der Infrastruktur gab es nicht. Ein Teil wurde vom Iraq Reconstruction and Management Office (IRMO) organisiert, eine Abteilung des Außenministeriums, ein anderer vom Project and Contracting Office (PCO) des Pentagons, das später mit einer Division des US Army Corps of Engineers verschmolzen wurde. Daneben betreibt auch USAID, die für Entwicklung zuständige Behörde des State Department, landesweite Projekte.

Ab 2006 mischten schließlich noch die irakischen Ministerien mit. Die Federführung aller größeren Projekte wurde in die Hände US-amerikanischer Konzerne gelegt.

Die Bilanz des „Wiederaufbaus“ ist trostlos. Ein vertraulicher Untersuchungsbericht der US-Regierung, der der New York Times kürzlich zugespielt wurde, [3] bestätigt, was jeder Iraker am eigenen Leib spürt: die gut 120 Milliarden Dollar, die offiziell bis Mitte 2008 in den Wiederaufbau des Landes gepumpt worden waren – 70 Milliarden davon irakisches Geld – sind aufgrund mangelnder Kontrolle, Inkompetenz, rassistischer Ignoranz und ausufernder Korruption nahezu wirkungslos verpufft. Die exakte Summe die im vermutlichen größten Fall von
Betrug und Unterschlagung vollständig verloren ging, wird nicht mehr genau zu ermitteln sein, einem Untersuchungsbericht des US Special Inspector General for Iraq Reconstruction (SIGIR) zufolge dürfte sie aber 50 Milliarden Dollar übersteigen.[4]

Der größte Teil versackte in den Taschen der großen amerikanischen Konzerne, der kleinere im Sumpf der ungeheuerlichen Korruption im Land. Oft scheiterten Projekte auch aus schierer westlicher Überheblichkeit und Ignoranz.

Provincial Reconstruction Teams

Viel Aufhebens wurde in den letzten Jahren von den zivil-militärischen Wiederaufbau-Teams, den sogenannten „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs) gemacht. Im Irak urden sie im Zuge der ab 2007 angewandten neuen Aufstandbekämpfungsstrategie „Ein neuer Weg vorwärts“ massiv aufgestockt. Auch wenn sich die PRT hier, im Unterschied zu denen in Afghanistan, überwiegend aus Zivilisten zusammensetzen, sind auch sie in der Regel bei einer militärischen Einsatzbrigade in Feldlagern, die in Kampfgebieten liegen, untergebracht. Ihr Fokus ist nicht der langfristige Wiederaufbau, sondern Projekte, die rasch spürbare, den Besatzern zuordenbare positive Auswirkungen haben und Männer im
waffenfähigen Alter in neue Jobs einbindet.

Parallel erkauften sich die USA auch im Rahmen der Ausrüstung sunnitischer Stammesmilizen die Bereitschaft von Stammesführer zur Zusammenarbeit mit einer Vielzahl Zahl kleinerer Aufbauprojekte.

Neben ihrer Funktion in einer erweiterten zivil-militärischen Counterinsurgency Strategie haben sie auch die Aufgabe Einfluss auf die lokale und regionale Verwaltung zu nehmen. Sie profitieren hierbei durch die Inkompetenz der neuen Verwaltungen, die nach Entlassung, Flucht oder Vertreibung der einstigen Amtsinhaber meist vollständig von den
US-amerikanischen Fachleuten abhängig sind. „Der Krieg hat eine fast vollständig neue politische Klasse geschaffen, mit wenig Erfahrung in Verwaltung“ stellten Rusty Barber und Sam Parker vom United States Institute Of Peace USIP fest, die im Herbst letzten Jahres die Effektivität der PRTs untersuchten. Viele Beamten „verdanken ihr Amt allein politischer Patronage, haben aber keine Ahnung was sie tun sollen.“[5]
Dies bestärkt wiederum das Vorurteil westlicher Experten, wonach die Iraker noch unfähig sind, sich selbst zu regieren.

Privatisierungsbemühungen

Neben dem wachsenden Widerstand stand der zunächst angestrebten raschen Privatisierung der staatseigenen Konzerne auch die fehlende völkerrechtliche Legitimation von Abkommen unter Besatzungsherrschaft entgegen. Jeder Investor musste fürchten, dass seine Verträge von einer zukünftigen souveränen Regierung für nichtig erklärt werden. Eine neue Verfassung, die auf dem Entwurf der US-Consulting Firma Bearing Point basiert, die auch den Masterplan für die neoliberale Umgestaltung des Iraks entwarf, hat den Weg dazu zunächst geebnet.

Im Sommer 2007 verabschiedete das irakische Kabinett ein gleichfalls unter Federführung von US-Juristen verfasstes Ölgesetz, das ausländischen Konzernen den Weg zur Kontrolle über den größten Teil des irakischen Öls ebnen würde. Geplant ist die Einführung sogenannter „Produktionsteilungsabkommen“ (PSA). Dies sind sehr langfristige Abkommen über Zeiträume von 25 bis 40 Jahren, die formal die Ölfelder im Besitz des Staates lassen, praktisch jedoch den Konzernen die volle Kontrolle über die Ausbeutung der Ressourcen und einen exorbitanten Anteil am Gewinn gewähren. Allein schon durch die bisher geplanten Abkommen über 12 von 63 dafür vorgesehene Ölfelder würden nach konservativer Schätzung von Experten und einem Ölpreis von 40 US-Dollar dem Irak knapp 200 Mrd. US-Dollar an Öleinnahmen verloren gehen, bei einem Preis von 100 Dollar wäre es schon eine halbe Billion. [6]

Breiter Widerstand in der irakischen Gesellschaft und auch in Parteien, die ursprünglich den US-geführten „politischen Prozess“ unterstützten, hat die Annahme des Ölgesetz im Parlament bisher allerdings verhindert.

Auch sechs an sich unterschriftsreife Verträge mit den großen westlichen Ölkonzernen Exxon Mobil, Royal Dutch Shell, BP, Total und Chevron , die US-Medien bereits als Rückkehr von „Big Oil“ in den Irak gefeiert hatten platzten letzten Herbst. Das irakische Ölministerium war nicht bereit, Klauseln zu akzeptieren, die ihnen die Tür für die zukünftige Erschließung neuer Ölfelder geöffnet hätte. Das Ölministerium ließ nun stattdessen ein altes Abkommen aus der Saddam-Ära wieder aufleben, und erteilte der China National Petroleum Corporation einen nach dem alten Öl-Gesetzes gestalteten Auftrag, für drei Milliarden Dollar das Ahdab Ölfeld im Süd-Osten, nahe der iranischen Grenze, zu erschließen.

Trotz eines brutalen Krieges gegen die Gegner der Besatzung und einer Politik des Teile und Herrsche sind die USA ihren wichtigsten Zielen im Land kaum näher gekommen. Auch auf politischer Ebene wird der Gegenwind immer stärker. Getragen von einer massiven Grundstimmung in der Bevölkerung, die – über Konfessionsgrenzen hinweg – offensichtlich die Nase gründlich voll hat von der Besatzung, sektiererischer Politik und religiösem Extremismus, entstanden außerhalb und innerhalb der von den Besatzern geschaffenen Institutionen breite nationale Bündnisse, die alle wesentlichen Vorhaben, wie das Ölgesetz und ähnliche Privatisierungsgesetze, erfolgreich blockieren.
Selbst der irakische Premier trägt dieser Stimmung Rechnung, wie sich unter anderem in den Verhandlungen über das im Herbst unterzeichnete Stationierungsabkommen zeigte, bei dem die Bush-Regierung schließlich feste, wenn auch langfristige Abzugstermine akzeptieren mussten.

Es deutet zwar alles darauf hin, dass auch die neue Führung in Washington die Verpflichtungen flexibler auszulegen gedenkt und US-Truppen auch weit über 2011 hinaus im Irak lassen will. Es besteht für Washington dennoch kaum Aussicht, mit ihren Plänen im Irak voranzukommen, ohne die mühsam errichtete Fassade eines souveränen, demokratischen Staates zu zerstören. Noch überwiegt in der Bevölkerung die Hoffnung, die Besatzung nun mit politischen Mitteln überwinden zu können. Sollte deutlich werden, dass die USA nicht an einen vollständigen Abzug denken, wird sich der Widerstand auf breiter Ebene radikalisieren.



[1] s. J. Guilliard, Kontrollierte Plünderung – Die Ökonomie des Irak-Krieges, junge Welt, 5.6.2008

[2] Iraq’s Closed Factories, The Ground Truth in Iraq, 5.1.2009

[5] Rusty Barber, Sam Parker, “Evaluating Iraq’s Provincial Reconstruction Teams While Drawdown Looms USIP, Dezember 2008

[6] Greg Muttitt, “Crude Designs: The Rip-Off of Iraq’s Oil Wealth”, PLATFORM ,November 2005

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