Libyen – Überlegungen zum drohenden „Preis der Freiheit“

(Der folgende Text erschien leicht gekürzt und redaktionell überarbeitet in Ossietzky 8/2011 sowie in einer aktualisierten Version in junge Welt 5.5.2011, Schwerpunkt, Seite 3)
Es gibt auch eine englische Übersetzung, u.a. bei Tlaxcala und Global Research)
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Libyen hat den höchsten Lebensstandard in Afrika. Das „Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen“ (UNDP) bescheinigte dem Land beste Aussichten, die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen bis 2015 zu erreichen. Der NATO-Krieg dürfte diese Hoffnungen bereits zerstört haben. Dem Land droht nun ein Absturz wie im Irak.
 
Wenig hat man in den letzten Jahren über Libyen gehört, das Verhältnis zum Westen hatte sich entspannt, europäische Regierungschefs trafen sich nun oft mit ihrem libyschen Kollegen, Muammar al-Gaddafi, die Geschäfte blühten. Im Zuge der Kriegsvorbereitung wurde das Land plötzlich zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen die Charakterisierung und wünschen den Sturz des „Tyrannen“.

Doch lässt sich das libysche Gesellschaftssystem tatsächlich auf „Revolutionsführer“ Gaddafi reduzieren, sind die Verhältnisse in Libyen tatsächlich schlimmer als in hundert anderen Ländern und gibt es nicht wesentlich mehr Faktoren, die die Lebensverhältnisse eines Landes bestimmen, als die bürgerlichen Freiheiten?

Für Richard Falk, den UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in Palästina ist „der „Grad der Unterdrückung“ in Libyen nicht „durchdringender und schwerer“ als in anderen autoritär regierten Ländern. Auch nach den Länderberichten von Amnesty International unterscheidet sich die Menschenrechtssituation Libyens kaum von unzähligen anderen Staaten, bei arabischen Verbündeten in der Nato-Kriegsallianz, wie Saudi Arabien ist sie sogar wesentlich schlimmer.
Der UN-Menschenrechtsrat hat das Land im Bericht zur jüngsten „allgemeinen regelmäßigen Überprüfung“ Libyens, die Ende letzten Jahres vorgenommenen wurde, sogar für seine Fortschritte bei den Menschenrechten gelobt. Zahlreiche Länder – darunter Venezuela und Kuba, aber auch Australien und Kanada – hoben in ihren Erklärungen einzelne Aspekte noch besonders hervor. (siehe auch UN Praised Libya's Human Rights Record, Mathaba, 8.4.2011)

Für westliche Medien ist dieser Bericht, dessen abschließende Diskussion nun kurzfristig von März auf Juni verschoben wurde, ein Skandal (für sie eine Folge der vielen, selbst noch „wenig zivilisierten“ Mitglieder des Menschenrechtsrats aus dem Süden). Doch betrachtet dieser die Lebensverhältnisse nur unter einem anderen Blickwinkel und legt sehr großes Gewicht auf die Verwirklichung sozialer Rechte, d.h. auf das, was für die meisten Menschen die größte Bedeutung hat: die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, ausreichendes Einkommen, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung.

Auch in dieser Hinsicht ist die Situation in Libyen, angesichts von Korruption oder hoher Jugendarbeitslosigkeit, durchaus nicht befriedigend. Im Vergleich mit anderen Ländern stehen die Libyer aber dennoch recht gut da und haben sehr viel durch die NATO-Intervention zu verlieren. So wird zwar oft auf eine Jugendarbeitslosigkeit von 15 bis 30 Prozent hingewiesen, aber nicht erwähnt, dass in Libyen im Unterschied zu anderen Ländern dennoch alle ihr Auskommen haben.
Der relativ hohe Lebensstandard erklärt auch, warum Gaddafi durchaus noch Rückhalt im Land hat – besonders, so der Libyenexperte Andreas Dittmann, unter den älteren Generationen, die sich noch an die früheren Zeiten erinnern.

"In Libyen gibt es vielleicht Millionen Menschen, die Gaddafi nicht mögen, aber sehr wohl seine Errungenschaften schätzen" so der bekannte norwegische Friedensforscher Johan Galtung (The West's War Against Gaddafi - Yet another long-lasting, tragic crime against humanity, IPS, Global Research, April 6, 2011)

Sanktionen und niedriger Ölpreis bremsten Entwicklung

Als 1969 der, von den USA und den Briten eingesetzte König Idris gestürzt wurde, war Libyen trotz der 1961 angelaufenen Erdölexporte noch ein armes, vom Kolonialismus schwer gezeichnetes, unterentwickeltes Land. Die schrittweise Nationalisierung der Ölproduktion ermöglichte eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung und rasche Verbesserungen der Lebensbedingungen.

Mit dem drastischen Einbruch des Ölpreises zwischen 1985 und 2001 geriet diese Entwicklung ins Stocken. Die 1993 verhängten UN-Sanktionen verschärften die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch enorm. Das Bruttoinlandsprodukt BIP sank von 6.600 pro Kopf im Jahr 1990 auf 3.600 in 2002 (Weltbank, World Development Indicators) und wuchs erst nach der Aufhebung der UN-Sanktionen im September 2003 wieder deutlich. (Die USA hoben ihre unilateralen Sanktionen erst bis Juni 2006 schrittweise auf.)
2008 erreichte das in Kaufkraftparität ausgedrückte BIP laut UNDP Database pro Kopf 16.200 US-Dollar . (Zum Vergleich das BIP von Ägypten betrug im selben Jahr 5.900, das Algeriens und Tunesiens ca. 8.000 Dollar. Saudi Arabien hatte ein BIP von ca. 24.000, Kuwait von 51.500 und Katar von 72.000 Dollar.)

Die Wirtschaftssanktionen blockierten eine Modernisierung der Infrastruktur und brachten insbesondere alle Pläne, neben dem Erdöl auch andere Industriezweige zu entwickeln, praktisch zum Erliegen. (Jean-Pierre Sereni, Eine kleine Geschichte des libyschen Öls, Le Monde diplomatique, 8.4.2011)

Der wirtschaftliche Niedergang bremste natürlich auch die Entwicklung in sozialen Bereichen. Libyen sackte beim “Human Development Index” (HDI), der anhand einiger Basisindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Alphabetisierung das Entwicklungs- und Lebensniveau eines Landes zu messen sucht, Mitte der 90er vom 67. auf den 73. Platz ab.

Hoher Lebensstandard erreicht

Nachdem die Staatseinnahmen, unterstützt durch den Anstieg des Ölpreises, wieder reichlich flossen, verbesserten sich auch die Lebensbedingungen wieder deutlich. Das Land liegt mittlerweile auf HDI-Rang 53, vor allen anderen afrikanischen Ländern und auch vor dem reicheren und vom Westen unterstützten Saudi Arabien. Mit „Regierungs-Subventionen in Gesundheit, Landwirtschaft und Nahrungsimport“, bei „gleichzeitiger Steigerung der Haushaltseinkommen“ konnte nun die „extreme Armut“ praktisch beseitigt werden, stellt die UNDP in ihrem Monitor der Millennium-Entwicklungsziele der UNO fest. (Millennium Development Goals: Goal1 - Goal 8, UNDP-Büro Libyen)

Die Lebenserwartung stieg auf 74,5 Jahren und ist damit nun die höchste in Afrika. Sie ist nun auch fast eineinhalb Jahre höher als in Saudi Arabien, nachdem es 1980 noch genau umgekehrt war. (UNDP Database) Die Kindersterblichkeit sank auf 17 Tote pro 1000 Geburten und ist damit nicht halb so hoch wie in Algerien (41) und auch geringer als in Saudi Arabien (21). (WHO, Global Health Indicators 2010) Libyen liegt auch bei der Versorgung von Schwangeren und der Reduzierung der Müttersterblichkeit vorne. Die Malaria wurde vollständig ausgerottet.
Noch stellen, so die UNDP, mangelnde personelle Ressourcen im Gesundheitswesen ein Problem dar, „die graduelle Reintegration des Landes in die internationale Wirtschaft,“ nach Aufhebung der Sanktionen“ führte aber „zu einer besseren Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung. Die Regierung bietet allen Bürgern eine freie Gesundheitsversorgung und erreichte eine hohe Abdeckung in den meisten Basis-Gesundheitsbereichen.

Die Analphabeten-Rate sank in Libyen auf 11,6% und liegt deutlich unter der von Ägypten (33,6%), Algerien (27,4%), Tunesien (22%) und Saudi Arabien (14,5%). (s. Human Development Report 2010)
Der vom UNDP ebenfalls berechnete Bildungsindex, in den neben der Alphabetisierung auch die Zahl von Schülern in höheren Schulen und Studenten eingeht, liegt sogar über dem der kleinen superreichen Scheichtümer Kuwait und Katar, die man an sich kaum mit den arabischen Flächenstaaten vergleichen kann. (siehe UNDP, Arab Human Development Reports 2009 sowie UNDP, Human Development Report 2009)

Die UNDP bescheinigt Libyen „auch einen signifikanten Fortschritt in der Gleichstellung der Geschlechter“, besonders im Bereich Bildung und Gesundheit, wobei bzgl. Repräsentation in Politik und Wirtschaft allerdings noch viel zu tun sei. Mit einem relativen niedrigen „Index für geschlechtsspezifische Ungleichheit“ der UNDP liegt das Land im Human Development Report 2010 bzgl. Gleichberechtigung auf Rang 52 und damit ebenfalls weit vor Ägypten (Rang 108), Algerien (Rang 70), Tunesien (Rang 56), Saudi Arabien (Rang 128) und Katar (Rang 94). Selbst in Argentinien (Rang 60) sieht es in dieser Hinsicht schlechter aus.
Angesichts dieser Erfolge kann die positive Einschätzung der Entwicklung in Libyen im Menschenrechtsrat kaum überraschen.

Das Beispiel Irak

Auch der Irak hatte in 1980er Jahren einen relativ hohen Lebensstandard, höher noch als der Libyens. Dieser brach bereits unter dem mörderischen UN-Embargo massiv ein. Ihre „Befreiung“ von Saddam Hussein stürzte die irakische Gesellschaft dann vollends in den Abgrund. Der Zerfall schreitet noch immer fort.
Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt nun in äußerster Armut. 55 Prozent haben kein sauberes Trinkwasser, 80 Prozent sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Strom gibt es nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden. Die Kindersterblichkeit würde bei Fortsetzung der Entwicklung in den 1980er Jahren heute deutlich unter 20 pro 1000 Geburten liegen. Tatsächlich stieg sie gemäß einer Studie der Hilfsorganisation „Save the Children“ bis 2005 auf 125. Der Irak war 1987 von der UNESCO für sein Bildungswesen ausgezeichnet worden, der Analphabetismus war fast beseitigt gewesen. Nun stieg die Analphabetenrate bereits auf über 25%, in manchen Gegenden beträgt sie bei Frauen schon 40-50%. Generell haben die irakischen Frauen ihre einst recht gute Stellung in der Gesellschaft verloren. Gemäß UNDP-Index fielen sie auf das Niveau von Saudi Arabien. (siehe Irak - Die vergessene Besatzung)

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein von den Nato-Staaten durchgesetzter „Regime Change“ in Libyen viel besser für das Land ausgehen würde, (von einem langem Bürgerkrieg und einer Teilung des Landes ganz zu schweigen). Schließlich sind die angreifenden Mächte und ihre Agenda nahezu identisch und ähneln auch die die Führung der Aufständischen in vielem den Irakern, die die USA im Irak an die Regierung brachten – radikale islamische Organisationen und pro-westliche, neoliberale Verfechter einer vollständigen Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft des Landes.


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Hinweis zu Wikipedia:

Wikipedia taugt nur bedingt zum Beleg statistischer Daten. Sobald sie in der aktuellen politischen Auseinandersetzung eine Rolle spielen, besteht die Gefahr der Manipulation.

Nachdem David Rothscum am 23.2.2011 seinen Artikel "The World Cheers as the CIA Plunges Libya Into Chaos" veröffentlichte, in dem er u.a. schrieb, dass in Libyen prozentual weniger Menschen unter der Armutsgrenze leben, als in den Niederlanden, wurden die Angaben im Wikipedia-Beitrag „List of countries by percentage of population living in poverty“ auf den er sich bezog geändert. Wo nach der Artikel-History am 15.2. noch ein Wert von 7,4 % stand, findet man seit dem 6.3. nun einen Verweis auf eine Fußnote, in der ohne Quellenangabe behauptet wird, dass „rund ein Drittel der Libyer an oder unter der nationalen Armutsgrenze“ leben würde.
Annette Hauschild (Gast) - 20. Apr, 01:34

Libyen - Überlegungen zum drohenden "Preis der Freiheit"

Lieber Joachim,

ich finde diese Ausführungen sehr überzeugend und werde einen Hinweis darauf in meinem Blog geben. Außerdem werde ich es rundschicken an Freunde und Bekannte.

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