Israel: Schuldig im Sinne der Anklage

Alle Störmanöver waren letztlich vergeblich: Der UNO-Menschenrechtsrat hat Israel auf Basis des "Goldstone-Berichts" über Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Krieg verurteilt. "Schuldig im Sinne der Anklage" titelte die Süddeutscher Zeitung.

Die israelische Regierung ist bemüht, den Bericht der UN-Kommission als so einseitig und parteiisch hinzustellen, dass man ihn ungelesen beiseite legen sollte. Der allseits geachtete südafrikanische Richter Richard Goldstone der die Kommission leitete wurde zum Buhmann - nicht nur in Israel, sondern auch in Washington - "Killing the Messenger" wie Stephen Zunes es nennt.
Wäre jedoch nicht Goldstone Vorsitzender der Kommission gewesen, die die Menschrechtsverletzungen im "Gaza-Krieg" untersuchte, wären die Anklagen gegen Israel noch wesentlicher schärfer ausgefallen, so seine Tochter Nicole.
 
Goldstone ist bekennender Zionist und unterstützt Israel seit langem durch Mitarbeit in verschiedenen israelischen Organisationen. Den Untersuchungsaufrtag der UNO hat er nach eigenen Aussagen nur äußerst widerstrebend angenommen.
Ihr Vater habe die heikle Aufgabe nur übernommen, "weil er dachte, damit das Beste für den Frieden zu tun, für jederman auch für Israel" sagte Nicole Goldstone dem israelischen Armee-Sender. Er habe aber "nicht erwartet, zu sehen und zu hören, was er sah und hörte." (Goldstone's daughter: My father's participation softened UN Gaza report, Haaretz, 16.09.2009)
Zugesagt hatte er schließlich unter der Bedingung, dass die Untersuchungen auf Aktivitäten der Hamas ausgeweitet werden. (Der ursprüngliche Auftrag der Untersuchungskommission beinhaltete nur die Untersuchung potentieller israelischer Kriegsverbrechen.)

Goldstone hat sich einen hervorragenden Ruf als objektiver und unbestechlicher Ermittler und Richter erworben. Es ist daher glaubhaft, wenn er erklärt, dass er vor allem deshalb zugestimmt habe, weil er "zutiefst an die Herrschaft des Rechts und des Kriegsrechtes glaube" und an die Verpflichtung, Zivilpersonen in den Kampfgebieten so weit wie möglich zu schützen.

Ganz frei von ideologischer Voreingenommenheit ist jedoch auch er nicht, wie schon die Übernahme des Vorsitz des völkerrechtlich fragwürdigen Ad-Hoc-Tribunals zu Jugoslawien zeigte, das die NATO eingesetzt hat.

Dies zeigt sich nun auch bei der Untersuchung der israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen.

In dem er die militärische Aktionen der Hamas gleichermaßen untersuchte, machte er den Krieg zu einem symmetrischen Konflikt zwischen zwei gleichwertigen Kontrahenten. Als könnte man die Angriffe einer übermächtigen Besatzungsmacht, die sehr frei in der Wahl ihrer Mittel ist, mit den recht ohnmächtigen Aktivitäten von Widerstandsgruppen vergleichen, die in einem verelendeten, ausgehungerten Streifen Land eingeschlossen sind; die Hightech-Kriegsmaschine der israelischen Armee mit den Handfeuerwaffen und handgemachten, provisorische Raketen von Milizen.
Allein der krasse Unterschied der Zahl der Opfer auf beiden Seiten hätte durchaus die Beschränkung auf eine Untersuchung der israelischen Kriegsführung gerechtfertigt. Da selbstverständlich auch die Hamas sich ans Völkerrecht halten muß, kann man die ausgewogene Untersuchung beider Seiten durchaus noch vertreten. Für die Glaubwürdigkeit im Westen ist sie sicherlich hilfreich.

Sehr problematisch ist jedoch, dass der Goldstone-Bericht die israelische Rechtfertigung für die mehrwöchigen Angriffe unhinterfragt übernimmt.

Auch Richard Falk kritisiert diese tatsächliche Voreingenommenheit der Kommission:
Es gibt Gründe, die Ehrlichkeit und die Reichhaltigkeit des Berichtes zu loben, seine Sorgfalt und seine peinlich genaue Bereitschaft, zum Schluss zu kommen, dass sowohl Israel als auch die Hamas für Verhaltensweisen verantwortlich sind, die Kriegsverbrechen, wenn nicht Verbrechen gegen die Menschheit darzustellen scheinen. ...
Zunächst nimmt der Bericht die fragwürdige These, Israels Vorgehen gegen Gaza sei in Selbstverteidigung und daher berechtigt erfolgt, als gegeben an und schliesst damit eine Untersuchung der Frage aus, ob mit dem Angriff ein Verbrechen gegen den Frieden in Form einer Aggression stattgefunden habe.

Diesbezüglich ignoriert der Bericht den befristeten Waffenstillstand, der dazu geführt hatte, dass der Raketenbeschuss Israels in den Monaten vor dem Angriff praktisch auf null fiel, genauso wie die wiederholten Bemühungen der Hamas, den Waffenstillstand unbefristet zu verlängern, vorausgesetzt, Israel beende die rechtswidrige Blockade von Gaza. Ausserdem war es Israel, das den Bruch des Waffenstillstandes zu provozieren schien, als es am 4. November 2008 einen tödlichen Anschlag auf militante Hamas­angehörige in Gaza verübte.
Israel liess diese scheinbar vorhandene diplomatische Alternative zum Krieg ausser acht, um Sicherheit an seinen Grenzen zu gewinnen. Zuflucht zu Krieg, auch wenn die Tatsachen Selbstverteidigung rechtfertigen, ist nach Völkerrecht ein letztes Mittel.
Indem der Goldstone-Bericht ­Israels Beginn eines einseitigen Krieges ausser acht lässt, anerkennt er die zweifelhafte zentrale Prämisse der «Operation gegossenes Blei» und vermeidet es, die Feststellung der Aggression machen zu müssen. Warum der Goldstone-Bericht von Bedeutung ist, TFF (Transnational Fundation), 19.9.2009
Die Vorwürfe an die Hamas, durch den ungezielten Raktenbeschuß israelischer Ortschaften Kriegsverbrechen begangen zu haben, stützt schließlich, so auch Falk, die israelische Rechtfertigungslinie für die Angriffe und fördert Diskussionen darüber, wie ein Staat wie Israel denn sonst militärisch gegen eine Miliz vorgehen könne, die aus einem städtischen Umfeld herum operiert oder über die Untauglichkeit des Kriegsvölkerrechts im Kampf gegen Terroristen.

Warum also die Aufregung?

Angesichts der breiten internationalen Verurteilung der "Operation gegossenes Blei" und der vielen Berichte, die es bereits gibt, kann man sich fragen, wieso der vergleichsweise milde, die israelische Sichtweise stützende Goldstone-Bericht trotzdem für soviel Aufregung in Israel und den USA sorgt?

Der Bericht liefert an sich nichts Neues. Sein Verdienst liegt im wesentlichen darin, zu bestätigen, was Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, israelische Menschenrechtsvereinigungen, Journalisten und führende Mitarbeiter von UN-Organisationen bereits öffentlich gemacht haben. Das brisanteste Material dabei dürften die, im Report "Breaking the Silence" zusammengefaßten Zeugenaussagen von 30 Soldaten der Israelischen Armee (IDF) sein, die an der "Operation gegossenes Blei" teilgenommen hatten.

Die Brisanz für die israelische politische und militärische Führung liegt ironischer Weise genau in der pro-israelischen Haltung des Leiters der Kommission. So sehr man sich in Israel und Washington auch bemüht, Goldstone kann einfach nicht glaubwürdig anti­israelischer Voreingenommenheit bezichtigt werden kann. Der Trick, bei jeder Kritik an israelischen Verbrechen "Foul!" zu rufen, um vom Gehalt der Anklagen abzulenken, funktioniert hier nicht. Die von der Kommission untermauerte Sicht, dass der militärische Überfall auf Gaza "ein vorsätzlicher, unverhältnismäßiger Angriff gewesen" war, "dazu bestimmt die Zivilbevölkerung zu strafen, demütigen und zu terrorisieren" dürfte sich weltweit durchgesetzt haben.

Am brisantesten aus isaelischer Sicht sind die Empfehlungen der Kommission, die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat zu bringen, falls Israel und Hamas nicht selbst die Verbrechen auf eine Weise juristisch untersuchen, die internationalen Standards genügen, und zu erwägen, sowie den Fall evtl. dem Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag zu übergeben. Letzteres werden die Vereinigten Staaten selbstverständlich verhinden, dennoch bedeutet allein die Diskussion darüber einen erheblichen Imageverlust für Israel.
Da hiermit auch ein ziemlich wunder Punkt der USA getroffen wird, sind es vor allem diese Empfehlungen die Washingtons Politiker in Rage bringen (siehe Stephen Zunes, "Killing the Messenger" .

Richard Falk nennt neben den genannten noch zwei weitere gute Gründe für Israels "panische Reaktion" auf den Bericht:

Zum einen die Bedeutung die der Bericht in der Weltöffentlichkeit, unabhängig davon, was innerhalb der Uno oder im Menschenrechtsrat in Genf geschieht, das Abröckeln der jüdischen Unterstützung für Israel und die Stärkung der Boykott- und Desinvestition-Bewegung.
"Rund um die Welt wächst die Einsicht, dass die einzige Chance für die Palästinenser, irgendeine Art von gerechtem Frieden zu erreichen, vom Ausgang das Kampfes um die Symbole der Rechtmässigkeit – davon, was ich Krieg um Legitimität genannt habe – abhängt.
Die Palästinenser haben diesen zweiten, nicht militärischen Krieg zunehmend gewonnen. Ein solcher, auf dem weltweiten politischen Schlachtfeld geführter Krieg hat schliesslich und überraschenderweise das Apartheid-Regime in Südafrika untergraben und ist für das israelische Sicherheitsempfinden weit bedrohlicher geworden als der bewaffnete palästinensische Widerstand.

Ein vierter, dem Bericht entspringender Grund israelischer Besorgnis ergibt sich daraus, dass er nationalen Gerichtshöfen auf der ganzen Welt grünes Licht gibt, internationales Strafrecht gegen mutmassliche israelische Täter durchzusetzen, sollten sie ins Ausland reisen und in einem Drittland zur strafrechtlichen Verfolgung oder Auslieferung festgenommen werden. Solche Personen könnten auf Grund ihrer Beteiligung am Gaza-Krieg der Kriegsverbrechen angeklagt werden: Der Bericht fördert auf diese Weise das etwas umstrittene Vertrauen in das, was unter Juristen als «universelle Jurisdiktion» bekannt ist, das heisst, die Befugnis der Gerichte irgendeines Landes, Personen für Verletzungen des internationalen Strafrechts zum Zwecke der Auslieferung festzunehmen oder sie dafür strafrechtlich zu verfolgen, gleichgültig, wo die mutmasslichen Verletzungen stattgefunden haben. Die Reaktion in den israelischen Medien lässt erkennen, dass die israelischen Bürger bereits in Sorge sind, auf Auslandreisen verhaftet zu werden. Wie ein Rechtsberichterstatter in der israelischen Presse formulierte: «Von jetzt an sollten nicht nur Soldaten vorsichtig sein, wenn sie ins Ausland reisen, sondern auch Minister und Rechtsberater.»
Es ist gut, sich in Erinnerung zu rufen, dass Art. 1 der Genfer Konventionen die Staaten überall in der Welt aufruft, das Humanitäre Völkerrecht «unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen».
Zumindest eines, so Gideon Levy, könnte der Bericht daher schon bewirkt haben:
Von jetzt ab wird Israel nicht mehr nur daran denken, wie man ein Minimum an Verlusten auf der eigenen Seite erreichen kann. Von jetzt an wird man auch die internationalen und persönlichen Auswirkungen eines jeden brutalen Angriffs berücksichtigen.
(Gideon Levy, Alles ist persönlich – Israel und der Goldstone-Bericht, Ha'aretz, 01.10.2009)

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