Streu-Propaganda – Wer setzte Streumunition in Libyen ein?

Am 15. April 2011 berichteten die New Yorker Organisation Human Rights Watch (HRW) und die New York Times libysche Regierungstruppen hätten im westlichen Teil der umkämpften Stadt Misrata Streubomben in Wohngebiete geschossen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die libysche Armee den fraglichen Bombentyp in seinem Arsenal hat.
 
Die westlichen Medien nahmen die Nachricht natürlich begierig auf. An den Schlagzeilen lässt sich leicht der Grad der Unterstützung des Krieges durch die verschiedenen Medien ablesen. Die Überschriften reichen von zurückhaltenden „Setzt Gaddafi Streubomben ein?“ (Hamburger Abendblatt) und „Gaddafi-Armee soll Streubomben eingesetzt haben“ (Welt) über „Gaddafi wirft Streubomben auf Wohngebiete“ (FR) zu reißerischem „Libyen: Mit Streubomben gegen Zivilisten“ (Kurier) „Streubomben-Angriff gegen libysches Volk: Gaddafi schreckt vor nichts zurück“ (Stern).

Die Behauptung „Zivilisten“ seien angegriffen worden, oder gar das gesamte „Volk“ ist völlig aus der Luft gegriffen. Laut HRW-Bericht erfolgten die mutmaßlichen Angriffe in unmittelbarer Nähe der Front zwischen Regierungstruppen und Aufständischen, wären also gegen Rebellen-Milizen gerichtet gewesen.
Es gibt jedoch starke Zweifel daran, dass die libyschen Regierungstruppen tatsächlich Streubomben einsetzten. HRW ist in solchen Umständen keine sehr zuverlässige Quelle. Die Organisation war u.a. schon im Jugoslawienkrieg durch deutliche Parteinahme zugunsten der NATO aufgefallen.

Die Beweislage ist jedenfalls äußerst dünn. Schon die Behauptung von HRW, ihre Leute seien Augenzeugen gewesen, ist unseriös. Sie waren nicht selbst unmittelbar vor Ort, sondern haben die Munitionsreste von dem Reporter Christopher John Chivers erhalten, einem ehemaligen US-Marine und Veteran des ersten Irak-Krieges 1991, der für die New York Times aus Misrata berichtet. Außer ihm gibt es nur noch zwei weitere Zeugen, die von Angriffen erzählten, bei denen es sich „offenbar“ um Streubomben handelte.
Das HWR-Team konnte nach eigenen Angaben die Fundorte der Bombenfragmente nicht untersuchen. Sie lagen direkt im umkämpften Gebiet. HRW kann somit nicht bestätigen, dass diese wirklich von dort kommen.

Weder die Augenzeugen und noch weniger HRW können bezeugen, dass die Bomben von libyschen Regierungstruppen abgefeuert wurden. Die libysche Regierung bestreitet dies energisch und versichert, keine Munition vom fraglichen Typ „MAT-120“ in ihrem Arsenal zu haben.
„Wir haben keine Streubomben in unseren Arsenalen, kein Soldat wurde jemals in der Benutzung dieser Waffen ausgebildet,“ so Generalmajor Saleh Abdallah Ibrahim „und dementsprechend können wir sie nicht einsetzen.“ Seine Armee sei das Opfer einer Medienkampagne. Die geächteten Bomben könnten nur über den Hafen von Misrata eingeschmuggelt und von den Rebellen selbst eingesetzt worden sein. (Gaddafis Armee lastet Streubomben den Rebellen an, WELT, 17.04.2011)

Die Gruppe „Human Rights Investigations“ (HRI) hat getan, was HRW versäumte und nachrecherchiert. Sie kam zum Schluss, dass in der Tat mit großer Wahrscheinlichkeit keine Streubomben vom Typ „MAT-120“ nach Libyen geliefert wurden. (Who really cluster bombed Misrata?, HRI, 24.4.2011, sowie The cluster bombing of Misrata: The case against the USA, 25.5.2011)

Die „MAT-120“ ist eine sich selbst zerstörende und neutralisierende Streubombe für 120-mm-Mörser, die 21 explodierende Granaten über ein großes Gebiet verstreut. Sie wurde bis 2008 von der spanischen Firma Instalaza hergestellt.

Die gefundene Munition wurde laut Herstellerstempel im Juli 2007 produziert. HRW selbst führt in ihrer Liste der weltweiten Streubombenarsenale Libyen nicht unter den Ländern, die Bomben von diesem oder einem ähnlichen, sich selbst zerstörenden Typ besitzen. („Types of Cluster Munitions in Global Stockpiles“, Mai 2008). Der spanische Hersteller bestreitet „MAT-120“-Bomben, an Libyen geliefert zu haben.
Die offiziellen spanischen Waffenexportberichte, die alle auf der Homepage von SIPRI archiviert sind, bestätigen Instalaza Angaben. Zwar wurden 2007/2008 für knapp 4 Millionen Euro Waffen und Rüstungsgüter an Libyen geliefert, aber keine der „Kategorie 3“, unter die, die von Geschützen abgefeuerte Munition – wie die MAT-120 Bomben – fallen würde. Zumindest auf direktem Wege können somit keine Streubomben des fraglichen Typs nach Libyen gelangt sein.

Der HRI-Recherche wird entgegengehalten, dass die Streumunition ohne weiteres über andere Länder nach Libyen gekommen sein könnte. Doch das ist äußerst unwahrscheinlich.
Schaut man sich die Waffenexportberichte noch genauer an, so stellt man nämlich fest, dass die Hauptabnehmer von Munition der Kategorie 3 die USA waren, auf die 164 Mill. des Exportumfangs von 190 Millionen Euro in dieser Kategorie entfielen.
Die spanische Regierung hat ab Juni 2008 den Export von Streubomben verboten, der Export in Kategorie 3 sank daraufhin bereits 2008 von 113 auf 76 Mill. Euro. 2009 brach er auf 5 Millionen ein und die USA kauften nur noch für schlappe 25.000 Euro Munition dieser Kategorie ein.

Offenbar hat es sich bei den früheren Kategorie-3-Exporten zum überwiegenden Teil um Streubomben gehandelt. Diese wiederum gingen 2007/2008 zu fast 90% in die USA. Andere Länder, die solche Munition in nennenswerten Mengen kauften, waren Deutschland (für 4,7 Mill. Euro), Norwegen (5,4. Mill), Saudi Arabien (6 Mill.), Polen (1,7 Mill.) Ägypten (1,2 Mill. ) und Österreich (1,1 Mill.). Es ist nahezu ausgeschlossen, dass eines dieser Länder sie an Libyen weitergab.

„Human Rights Investigations“ weist zudem daraufhin, dass zu den Waffensystemen, für die MAT-120 bestimmt sind, vor allem auch die Geschütze NEMO und AMOS der finnischen Waffenschmiede Patria Weapons System Oy (PWS) zählen, mit der Instalaza eng zusammenarbeitet. (U.a. betreiben sie gemeinsam die Weiterentwicklung der MAT-120, die Instalaza seit der Unterschrift Spaniens unter die Streubombenverbotskonvention nicht mehr selbst herstellt. Finnland hat die Konvention nicht unterzeichnet.)
Die finnischen Geschütze werden u.a. auch auf diversen Kampfbooten installiert. Einige davon gehören wiederum zum Arsenal, der im Mittelmeer operierenden US-Marineverbände. Es ist daher gut möglich, dass die fraglichen Streubomben von solchen Booten abfeuert wurden.

Auch wenn nur eine unabhängige Untersuchung klären könnte, ob Streubomben eingesetzt wurden und wenn ja, von wem, so ist das Ziel hinter der Skandalisierung „libyscher Streubomben“ klar und wurde auch von NYT-Reporter Chivers benannt: Sie gab der Forderung der britischen und französischen Regierung an die NATO-Partner nach einer Ausweitung der Angriffe gegen Libyen „mehr Dringlichkeit” und setzte die Obama-Administration Druck, sich wieder stärker am Luftkrieg zu beteiligen.

Propaganda und Heuchelei

Unabhängig davon ob libysche Truppen die mörderischen Bomben einsetzten oder nicht, sind die Medienberichte überwiegend Propaganda. Das beginnt schon beim HRW-Bericht selbst. Hier heißt es „Die meisten Länder haben durch die Konvention zur Ächtung von Streumunition den Einsatz von Streubomben in umfassender Weise verboten. Im August 2010 wurde das Abkommen bindendes internationales Recht.“ Das ist schlicht gelogen und wird durch einen späteren Absatz widerlegt. Die Streumunition ist leider bislang keineswegs „weltweit geächtet“ oder gar verboten. Nur 108 der 193 UNO-Staaten haben bis jetzt die Konvention zum Verbot von Streumunition unterzeichnet und erst 56 Länder das Verbot auch ratifiziert. Die USA, Russland und Israel haben sich erst gar nicht an den Verbotsverhandlungen beteiligt und in den jüngsten Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Georgien, Libanon und Gaza) eingesetzt. (Andreas Zumach, Streumunition in Libyen ist nicht völkerrechtswidrig, taz, 17.04.2011)

Für Laien Verwechslungsgefahr: Abgeworfenes Lebensmittelpaket und Streubombe in Afghanistan
Tödliche Verwechslungsgefahr: Abgeworfenes Lebensmittelpaket und Streubombe in Afghanistan (Reuters/Spiegel)
Die USA und andere NATO-Staaten haben in den letzten Kriegen über Jugoslawien, Afghanistan und Irak Tausende solcher Bomben abgeworfen, die ihre Submunition – mehrere Hunderttausend kleine Minen – über riesige Gebiete verteilten. (mehr dazu: Knut Mellenthin, Aufschrei der Heuchler, junge Welt, 18.04.2011)

Ähnlich empörte Berichte wie zu Libyen sucht man in den Medien jedoch vergeblich. Die meisten fanden dies nicht einmal eine Erwähnung wert, die anderen kritisierten den Einsatz dieser mörderischen Waffe, trotz ihrer offensichtlich verheerender Folgen, nur milde.

Human Rights Watch wirft USA sorglosen Einsatz von Streubomben vor“ überschrieb z.B. der liberale österreichischen „Standard“ am 18. Dezember 2002 eine kurzen Bericht. Obwohl im Afghanistankrieg „beim Abwurf von 1.228 Streubomben mit fast 250.000 Sprengsätzen viele Zivilisten und besonders Kinder ums Leben gekommen“ seien, wurde den USA nur vorgeworfen, „durch den Einsatz von Streubomben in Afghanistan überflüssig [!] Zivilisten gefährdet zu haben.“ Human Rights Watch forderte damals wacker „eine verbesserte Zieltechnologie, um Zivilisten zu verschonen.“

Völlig unaufgeregt schreibt die Welt am 31.10.2001 über die menschenverachtenden Verbrechen:
Aus einer über Afghanistan fliegenden C-130-Hercules-Maschine haben die US-Streitkräfte Radiosendungen ausgestrahlt, um der Bevölkerung den Unterschied zwischen abgeworfenen Essensrationen und Streubomben zu erklären. Beide sind grellgelb – mit dem Unterschied, dass es sich bei den Streubomben um jene im Schnitt zehn Prozent an Blindgängern handelt, die den Abwurf aus Mutterbomben unversehrt überstehen. Bei Herat sollen neun Menschen beim Aufheben unexplodierter Kleinbomben gestorben sein.
(siehe auch: Deutsche Minenräumerin: "Die Lage in Afghanistan ist katastrophal", Spiegel, 3.1.2002)

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