Rückzugsgeplänkel

Artikel in: Zeitung gegen den Krieg - ZgK Nr. 29, Sept. 2009
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Rückzugsgeplänkel
Auch acht Monate nach Obamas Amtsantritt geht die Besatzung im Irak fast unverändert weiter
von Joachim Guilliard

Offiziell ist das Ende der Besatzung nun eingeleitet. Ende Juni zogen sich die US-Truppen, wie im Truppenstationierungsabkommen vom letzten Herbst vereinbart, aus den Städten in die umliegenden Militärbasen zurück. Die Bevölkerung feierte den Abzug überschwänglich und Regierungschef Nuri al-Maliki sprach von einem „großen Sieg“ über die Besatzer. Vier Wochen danach verließ der letzte britische Soldat irakischen Boden. Doch entgegen den großen Hoffnungen, die viele in den Amtsantritt Barack Obamas setzten, ist der vollständige Abzug der Besatzungstruppen noch lange nicht in Sicht.
 
Im Wahlkampf hatte Obama versprochen, die US-Truppen innerhalb von sechzehn Monaten abzuziehen. Die Hälfte dieser Zeit ist um, die Zahl der eingesetzten US-Soldaten hat sich jedoch seither nur unwesentlich verringert. Sie liegt mit 134.000 nur geringfügig unter der von 2003, die Zahl der Söldner ist sogar gewachsen. Und vor Anfang nächsten Jahres ist mit keiner weiteren Truppenreduzierung zu rechnen.[1]

Auch der Abzug aus den Städten ist vielerorts nur Etikettenschwindel. Zehntausende US-Soldaten sind in den Städten verblieben und führen nun als „Trainings- und Unterstützungstruppen“ den Krieg fort. Dort wo es nötig schien, wurden US-Stützpunkte auch durch Änderung der Stadtgrenzen nach draußen verlegt.
Nach dem Stationierungsabkommen müsste die US-Armee auch ihre Operationen mit der irakischen Regierung abstimmen. Doch alle Versuche von irakischer Seite, die Bestimmungen des Abkommens strikter durchzusetzen, blieben weitgehend erfolglos. „Mag sein, dass etwas bei der Übersetzung [des Abkommens] verloren ging“, erwiderte z.B. der Kommandeur der für Bagdad zuständigen US-Division irakischen Kritikern. Sie hätten keinesfalls vor, vollständig aus der Stadt zu verschwinden oder Einschränkungen ihrer Operationsfreiheit hinzunehmen. Dies könnte von ihren Gegnern ausgenutzt werden und so ihre Sicherheit gefährden. US-Truppen würden daher auch weiterhin Gefechtsoperationen im Stadtgebiet durchführen, um Bedrohungen auszuschalten – mit oder ohne Hilfe der Iraker. Die US-Armee beruft sich bei der Missachtung der Restriktionen vor allem auf eine Klausel im Stationierungsabkommen, wonach Ihr Recht auf Selbstverteidigung nicht eingeschränkt werden darf. [3]

Nach dem Wortlaut des Stationierungsabkommens müsste der Abzug der US-Truppen Ende 2011 vollzogen sein. Die kommandierenden US-Generäle hatten jedoch von Anfang an signalisiert, dass sie diesen Termin keinesfalls für verbindlich halten. Mittlerweile hat auch der irakische Präsident Nouri al-Maliki laut über eine Verlängerung der US-Truppen-Präsenz über 2011 hinaus nachgedacht. Er weiß, dass sich seine Regierung ohne US-Truppen nicht lange halten könnte.
Schon dieser späte Abzugstermin war, wie das gesamte Abkommen, im Irak sehr umstritten gewesen. Erst die Vereinbarung, das letzte Wort einer Volksabstimmung im Juli 2009 zu überlassen, ermöglichte eine knappe Mehrheit im Parlament. Käme es dabei zu einem mehrheitlichen Nein, müssten die US-Truppen binnen Jahresfrist das Land verlassen. Dies wollte Washington und die Maliki-Regierung keinesfalls riskieren, das Referendum wurde kurzerhand und vertragswidrig verschoben, vorerst auf Anfang 2010.

Nicht nur der Abzug der fremden Truppen lässt auf sich warten, sondern auch die Normalisierung der Lebensbedingungen. Auch wenn die Welle extremster Gewalt zwischen 2006 und 2007 vorüber ist, ist das Gewaltniveau nach wie vor sehr hoch und nimmt mittlerweile sogar wieder zu. Da sich auch die Versorgungsituation nicht entscheidend verbessert hat, wagten bisher auch nur wenige der über vier Millionen Flüchtlinge die Rückkehr: 2008 waren es nur 220.000, im 1 Halbjahr 2009 weniger als 100.000.[4]

Doch auch die USA kommen mit ihren Plänen im Irak nicht voran. Auch wenn sie sich um die Restriktionen wenig kümmern, die ihnen das SOFA auferlegt, schränkt es den Handlungsspielraum der US-Truppen und letztlich auch ihre Autorität im Land ein. US-Kommandeure beklagen sich über die zunehmend abweisende Haltung ihrer irakischen Verbündeten. Viele führende Offiziere vor Ort sehen überhaupt keinen Sinn mehr in einer weiteren Präsenz. Der Chef des Beraterstabs des US-Hauptquartiers in Bagdad, Oberst Timothy Reese, kam in einem vertraulichen Memorandum, dessen Veröffentlichung durch die New York Times in Washington hohe Wellen schlug, zum Schluss, es sei „Zeit für die USA, den Sieg zu erklären und nach Hause zu gehen“.
Bei der Beurteilung der Situation vor Ort nimmt Reese kein Blatt vor den Mund. Die irakische Regierung und Verwaltung sei nach wie vor unfähig, sektiererisch und korrupt. Mit der Arroganz eines Kolonialherrn, dem jegliche eigene Verantwortung für die Misere fremd ist, geißelt er – sachlich durchaus korrekt – das umfassende „Fehlen jeglichen Fortschritts in Bezug auf wesentliche Dienstleistungen und Regierungsführung“. Es sei offensichtlich, dass sie, d.h. die Besatzer, die Iraker nicht weiter „voranbringen“ können. Das Urteil über die irakische Armee fällt ähnlich vernichtend aus. „Für den Irak von 2009“ sei sie jedoch „gut genug.“
Er sieht aber keine Chance, dass die USA durch einen längeren Verbleib im Land viel an den Verhältnissen könnten – im Gegenteil: Ihre Kampfoperationen „seien aktuell das Opfer einer zirkulären Logik.“ Sie würden zum Schutz der irakischen Regierung und Bevölkerung Angriffe durchführen, um „alle Arten von Extremisten zu schnappen oder zu töten“. Die „Extremisten“ würden jedoch genau deswegen angreifen, „weil sie im Irak militärische Operationen durchführen“.

So zutreffend Reese Einschätzungen sind, Chancen auf Gehör haben sie nicht. Denn von einem Sieg kann kein Rede sein: die USA haben ihr wesentliches Ziel, die dauerhafte Kontrolle über den Irak sichern, noch längst nicht erreicht. Nichts zeigt diese Ambitionen so deutlich, wie die riesige US-amerikanische Botschaftsfestung im Zentrum Bagdads. Und auch Obama macht keine Anstalten, den riesigen Stab von Tausend Mitarbeitern – weit mehr als das britische Empire für das zehnmal so große Indien im Einsatz hatte – zu reduzieren. Dieser Stab aus Diplomaten, Geheimdienstleuten, Verwaltungs-, Wirtschafts- und sonstigen Experten soll auch in Zukunft das eigentliche administrative Herz Iraks bilden, das mit Hilfe der zahlreichen Berater auf allen Ebenen der irakischen Regierung und Verwaltung, alle wesentlichen Entscheidungen im Irak maßgeblich beeinflussen kann.

Obama möchte durchaus die Truppenzahl reduzieren und so den „militärischen Fußabdruck“ im Lande zu verringern. Doch noch sitzen die verbündeten Kräfte nicht fest im Sattel und noch sind auch viele andere wesentlichen Ziele nicht erreicht. Dies wird besonders an einem der wichtigsten offenen Punkte deutlich – dem Öl.

[1] Dahr Jamail, US Occupation of Iraq Continues Unabated, t r u t h o u t, 6.7.2009

[2] Jane Arraf, To meet June deadline, US and Iraqis redraw city borders, Christian Science Monitor, 19.5.2009

[3] Iraq Restricts U.S. Forces, Washington Post, 18.7.2009

[4] Joel Wing, How Many Iraqi Refugees Have Returned?, Musings on iraq, 14.7.2009


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