Gewalteskalation nach den Wahlen

Eine Serie von Gewaltakte erschüttert seit Bekanntgabe des Wahlergebnisses Bagdad und die sunnitischen Provinzen im Norden und Westen Bagdads. Dabei wurden über 100 Menschen getötet.
Eine Serie koordinierter Bombenanschlägen auf Apartmenthochhäuser in Bagdad hat am 6.4. mindestens 39 Menschen das Leben gekostet und über 130 verletzt. Zwei Tage zuvor, am Sonntag waren mehr als 40 Menschen getötet worden, als binnen weniger Minuten Autobomben vor der ägyptischen, der iranischen sowie in der Nähe der deutschen, spanischen und syrischen Botschaften hochgingen. Am Samstag hatten schwer bewaffnete Uniformierte in Hor Rajab, einem Dorf am südlichen Rand von Bagdad bis zu 25 Menschen getötet.

Die Medien machen in allen Fällen „Feinde der Demokratie“, sunnitische Extremisten, El Kaida etc. dafür verantwortlich. Die meisten Anschläge zielten aber auf Gegner des herrschenden Regimes, die anderen sind voller Fragezeichen.
 
Diese Angriffe begannen schon unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses mit den Bombenattentaten in al-Qaim, die alle auf Mitglieder der oppositionellen al-Iraqija-Liste zielten (siehe Maliki: Mit Gewalt gegen siegreiche Kandidaten). Das gleiche gilt für den Angriff in Hor Rajab. Hier trugen die Angreifer, über 24 Menschen exekutieren Uniformen irakischer Regierungskräfte. Die meisten Opfer waren Männer der örtlichen sunnitischen Awakening-Miliz. Die Uniformierten hatten Listen und gingen Augenzeugen zufolge äußerst planvoll vor.
(Gunmen in military garb kill at least 24 in Sunni area south of Baghdad, WaPo, 4.4.2010)

Die Besatzer und die Regierung machen verkleidete El Kaida Kämpfer verantwortlich. Regierungskräfte verhafteten auch flugs 25 „Verdächtige“. Bei diesen handelt es sich vermutlich aber um bereits bekannte sunnitische Oppositionelle. Stammesführer versicherten jedenfalls, dass die Inhaftierten garantiert nichts mit der Tat zu tun hätten.

Sie und Sprecher sunnitischer Parteien äußerten gegenüber der Washington Post zudem starke Zweifel bzgl. der El Kaida-Täterschaft. Ihrer Ansicht nach stecken eher die Milizen schiitischer, pro-iranischer Parteien dahinter. Wie sonst sollen sich die Täter so ungestört am hellen Tag in offiziellen Uniformen und Regierungsfahrzeugen ihr Verbrechen verüben können, fragt z.B. die sunnitische Islamische Partei in einer Erklärung zu den Morden und verurteilt das brutale Verbrechen durch „Feinde des Iraks“.
In der Tat gab es schon häufig Angriffe von Armee und Polizei auf die Awakening Milizen, die für Maliki-Regierung zum größten Teil aus ehemaligen Widerstandskämpfer und Baathisten besteht.
Eine solche Tat würde auch gut in das allgemeine Klima der Repression passen. Heyet Net berichtet z.B. dass am 1. April im Zuge umfassender, brutaler Massenverhaftungen bei Mossul, Al Qaim, Bagdad und Kerbala über 100 Männer willkürlich gefangen genommen wurden., eine Woche später weitere 161.

In kein Raster passen die Anschläge auf die Wohnblöcke. Sie ereigneten sich in ärmeren, mehrheitlich schiitischen Vierteln. Einige der Bomben waren offenbar in leer stehenden Wohnungen gelegt worden, die kurz zuvor angemietet wurden. (New Iraq tactic: Militants hid bombs in vacant apartments, McClatchy Newspapers, 6.4.2010)
Dieses Vorgehen ist neu, auch die Ziele sind etwas ungewöhnlich. In einigen der Wohnblöcke hatten anscheinend früher Sunniten gewohnt, die nach 2006 vertrieben wurden. Es könnte sich also um Rache handeln. Auch wenn es nicht ihre Handschrift ist, kämen El Kaida-nahe Gruppen ebenfalls in Frage.

Viele vermuten aber eher Machtkämpfe der um die Regierungsbildung kämpfenden Partien dahinter. Ein Motiv könnte sein, erneut Wut auf Sunniten zu provozieren und so während der Koalitionsverhandlungen Stimmung gegen die sunnitischen und nationalistischen Parteien zu machen. Anschläge, die offensichtlich diesem Ziel dienten und hinter denen Milizen der Regierungsparteien vermutet wurden, hat es ab 2006 viele gegeben.
Ein anderes Motiv könnte aber auch sein, zu demonstrieren, dass die jetzige Regierung nicht fähig ist, für Sicherheit und Stabilität zu sorgen.

Auch bei den Anschlägen auf die Botschaften ist die Urheberschaft längst nicht so klar. Der Guardian deutet hier beispielsweise auf die Islamische Armee. Alle drei wesentlichen Widerstandsfronten haben bisher solche Bombenanschläge verurteilt, da sie überwiegend einfache Angestellte und zufällige Passanten töten.
Die Islamische Armee greift, wie man ihrer Webseite entnehmen kann, durchaus Ziele in der gesicherten Grünen Zone an, aber wesentlich gezielter mit Mörsern und Raketen. Dasselbe gilt für die anderen Gruppen. Das Internetportal der Assoziation irakischer Schriftgelehrten, die als eine Art politischer Arm für das andere große Guerillabündnis dient, listet ebenfalls regelmäßig solche Angriffe.

Die iranische Botschaft wäre durchaus ein Ziel für viele Nationalisten, die den Iran bereits als zweite Besatzungsmacht ansehen, die syrische und die ägyptische sicherlich nicht. Syrien ist eines der wenigen Ländern, wo dem Widerstand nahe stehende Persönlichkeiten sich aufhalten und sich treffen können.
Da dies für die El Kaida nahen Gruppen nicht gilt, und diese in der Tat keine Rücksicht auf Unbeteiligte nehmen, kommen sie als Täter durchaus in Frage. Die ominöse SITE Intelligence Group hat auch wieder mal ein Bekennerschreiben aus den Tiefen des Internets gefischt, dessen Authentizität ist aber wie üblich völlig unklar
Daher ist nicht ausgeschlossen, dass auch hier Kräfte der anderen Seite am Werk waren, die damit z.B. Gründe und internationale Unterstützung für eine längere Präsenz von US-Truppen schaffen wollen.

Der Nahost-Experte Henner Fürtig vom GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg bezweifelt ebenfalls, dass El Kaida hinter den ganzen Serien von Anschlägen steckt. Dafür seien die Anschläge zu diffus und keine klare Botschaft erkennbar, meint er. „Insofern muss man sich schon fragen, ob es wirklich El Kaida oder nicht doch die Anhänger einzelner Wahlblöcke waren, die durch gezielte Anschläge den Gegner schwächen wollen.“ (Ist das Land unregierbar? Deutsche Welle, 6.4.2010)

Andere Experten, so die Deutsche Welle, vermuten hinter den Anschlägen auf die Botschaften in Bagdad auch gezielte Angriffe auf Staaten, die bereits im Wahlkampf politischen Einfluss auf den Irak gesucht hatten, wie etwa Syrien, der Iran und Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien. Daher handele es sich nicht um eine innerirakische Angelegenheit, so Fürtig, sondern um eine regionale Problematik, hinter der widerstreitende Terrorgruppen [gemeint sind vermutlich Milizen J.G.] steckten, „das ist naheliegender als El Kaida“, sagt er.

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