Verbrechen verschleiert - Die Opfer der Terrorkriege nach „9/11“

Warum interessiert sich niemand dafür, wieviele Menschen in Afghanistan und im Irak sterben.
(erschien etwas gekürzt in junge Welt, 10.09.2011)

Am Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 wird zurecht der fast 3000 Menschen gedacht, die seinerzeit getötet wurden. Gedenkveranstaltungen für die ungleich höhere Zahl von Opfern der Kriege, die die USA und ihre Verbündeten im Anschluß führten, sucht man aber vergebens. Deren genaue Zahlen wollen westliche Regierungen und Medien auch nicht wissen. Im Gegenteil, sie sind ein Politikum und werden mit allen Mitteln verschleiert.
 
Obwohl in Deutschland der Einsatz in Afghanistan vor allem mit humanitären Motiven gerechtfertigt wird, haben weder Bundesregierung noch wissenschaftliche Institute je zu ermitteln versucht, wie viele Afghanen der gewaltsamen Modernisierung ihres Landes durch Krieg und Besatzung zum Opfer fielen.

Die Bundesregierung gibt sich in der Frage hilflos: „Es sei nicht möglich, Zahlen zu nennen, sie hätte aber natürlich ‚großes Interesse‘ an solchen Zahlen“, heißt es in einem Bericht der Zeitschrift Das Parlament vom 6. Juli 2009. Es gäbe keine Statistik, die belastbar wäre. Auch die Bundeswehr agiert demnach fast blind. Den Angaben zufolge erhält sie Berichte über zivile Opfer nur aus dritter Hand. Das geringe Interesse, auch in den Medien, an den örtlichen Opfern der Terrorkriege spiegelt zum einen den geringen Wert wider, dem man im Westen einem afghanischen, pakistanischen oder irakischen Leben beimißt. Vor allem aber ist das Ausblenden entscheidend für die Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an Akzeptanz.

Zwar äußerte US-General Tommy Franks, Oberkommandierender des Überfalls auf Afghanistan, einmal den markigen Spruch: „Wir machen keine Leichenzählung“, doch die Besatzungstruppen veröffentlichen durchaus immer wieder Zahlen von zivilen Opfern. Diese sind allerdings lächerlich gering. So meldet ISAF für 2009 und 2010 gerade einmal 2537 getötete Zivilisten. Die seien zudem überwiegend Anschlägen von „Aufständischen“ geschuldet. Doch auch die von den Medien meist herangezogenen Zahlen der UN-Gliederungen vor Ort und diverser Nichtregierungsorganisationen, die sich dem Thema widmeten, sind vielmehr eine Verschleierung der Verbrechen. UNAMA (UN Assistance Mission in Afghanistan) gibt z.B. für die Jahre 2009 und 2010 die Zahl von 5191 getöteten Zivilisten an. (s. Counting the Dead in Afghanistan, Science Magazine, 11.3.2011)

Das kriegskritische „Costs of War“-Projekt des Watson Institute an der Brown University in Rhode-Island, das sich vorgenommen hat, die ökonomischen und humanitären Kosten der Kriege am Hindukusch und im Irak zu ermitteln, kommt bei seiner „konservative Schätzung“ auf eine Gesamtzahl von 14.000 Ziviltoten in Afghanistan. Sie beruht auf den verfügbaren Schätzungen der UNO und Menschenrechtsgruppen. (siehe auch die Zusammenstellung verschiedener Quelle vom Science Magazine Civilian Casualties in Afghanistan: Data and Documents)

Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl von 30 Millionen wären dies knapp fünf Tote pro 100.000 Einwohner und Jahr. Wie der Epidemiologe Les Roberts anläßlich ähnlich niedriger Schätzungen für den Irak sarkastisch anmerkte, liegen solche Zahlen deutlich unter der von gewaltsamen Todesfällen in US-amerikanischen Großstädten, die 2006 in Detroit und Baltimore beispielsweise bei über 40 pro 100.000 Einwohner lagen. (Siehe z.B. den Beitrag von Les Roberts beim Hearing der Linksfraktion des Bundestags vor der Irakkonferenz am 7.3.2008 in Berlin)

Für die Zahl der Opfer im Irak wird meist der „Iraqi Body Count“ herangezogen. Dieser schätzt die Zahl ziviler Opfer in acht Jahren Krieg auf 110.000. Auch hier hätte es demnach trotz Krieg und Besatzung nicht mehr Gewalt gegen Zivilisten gegeben als in Detroit.

Die Schätzungen dieser Projekte basieren auf der Zahl registrierter Fälle in Medien oder Krankenhäusern. Die offensichtliche Unterschätzung der Opferzahlen ist mithin nicht ungewöhnlich. In keinem Konflikt konnte man, wie sich nachträglich herausstellte, durch sogenannte „passive Untersuchungsverfahren“ mehr als 20 Prozent der Opfer erfassen (siehe Fifty years of violent war deaths from Vietnam to Bosnia: analysis of data from the world health survey programme, British Medical Journal BMJ 336, 19.6.2008).
In den heißen Phasen des Bürgerkrieges in Guatemala waren es z.B. nur 5%. (siehe Kapitel 7 in Patrick Ball, Paul Kobrak und Herbert F. Spirer, "State Violence in Guatemala, 1960-1996: A Quantitative Reflection", CIIDH, 14.1.1999)

Fast gravierender jedoch ist der methodische Fehler durch das Bemühen, nur zivile Tote erfassen zu wollen.

Zum einen sollten prinzipiell alle Menschen als Opfer gezählt werden, die ohne Krieg und Besatzung noch leben könnten – unabhängig davon, ob sie sich bewaffnet gegen die Invasoren wehrten oder ob sie sich von den Besatzern als Hilfstruppen für den Kampf gegen ihre Landsleute dingen ließen. Vor allem steht man aber vor dem Problem, wie man zivile Tote von Kombattanten unterscheiden will. Agenturmeldungen übernehmen meist die Version der Besatzer. Zivil sind die Toten meist nur dann, wenn sie auf das Konto des Widerstands oder andere bewaffneter Gruppen gingen, ansonsten sind es „Aufständische“, „Terroristen“ oder „Taliban“. Das erklärt z.T. auch, warum die UNO den größten Teil getöteter Zivilisten den „Antiregierungskräften“ zuschreibt. Sehr häufig berichten Augenzeugen nach US- oder NATO-Angriffen von Dutzenden ziviler Opfer, während die Besatzer darauf beharren, nur gegnerische Kämpfer getötet zu haben.
In den Datenbanken des „Iraq Body Count“ und anderer Projekte findet man hierzu dann auch keine Einträge.
[Das von der Bundeswehr zu verantwortende Massaker vor zwei Jahren bei Kundus ist ein gutes Beispiel dafür. Erst nachträgliche Recherchen, aufgrund der hohen Aufmerksamkeit die es weckte, enthüllte, dass es sich bei den Opfern überwiegend um Zivilisten handelte.]

Viel häufiger erhalten wir nur die lapidaren Agenturmeldungen, bei Militäroperationen seien zehn, zwanzig, hundert oder mehr „Talibankämpfer“ getötet worden, ohne dass sich jemand frägt, woher man das bei Luftangriffen so genau wissen kann. Auf diese Weise bleiben auch die meisten der in den Medien gemeldeten Toten bei den diversen Statistiken unberücksichtigt. Nicht erfaßt werden natürlich auch all diejenigen, die erst später ihren Verletzungen erliegen, deren Krankheiten auf Grund der Kriegs- und Besatzungsbedingungen nicht adäquat behandelt werden können etc..

Die einzige Methode, zuverlässig zu ermitteln, wie viele Menschen einem Konflikt zum Opfer fielen, sind Umfragen und Recherchen vor Ort. Durch repräsentative Befragungen erhält man belastbare Schätzungen. Im Irak wurden mehrere solche Studien unter Einbeziehung eines relativ großen Personenkreises durchgeführt. Die zuverlässigste war die sogenannte Lancet-Studie im Jahr 2006. Diese Untersuchung schätzte die gesamte Zahl der Iraker, die bis Juni 2006 an den Folgen von Krieg und Besatzung starben, auf 650.000. Obwohl nahezu alle Experten auf dem Gebiet, einschließlich der Wissenschaftler der britischen Regierung, die Korrektheit der Studie bestätigten, wurde sie in einer regelrechten Medienkampagne diffamiert und schließlich als „umstritten“ ad acta gelegt. (mehr dazu siehe unter „Body Count“ im Irak – Opferzahlen im Irak ein Politikum)

Eine Studie des britischen Instituts Open Research Business (ORB) bestätigte jedoch ein Jahr später die Zahlen. ORB zufolge war die Gesamtzahl der getöteten Iraker bis August 2007 auf über eine Million gestiegen. Diese Studienergebnisse als Basis nehmend und sie analog des Trends der von Iraq Body Count erfaßten Opferzahlen fortschreibend, schätzt die US-amerikanische Gruppe Just Foreign Policy die aktuelle Zahl der Kriegstoten im Irak auf fast 1,5 Millionen.

[Um diese von Kriegskritikern weiterhin angeführten Opferzahlen endlich aus der Welt zu schaffen, führte das irakische Gesundheitsministerium mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation WHO Anfang 2008 eine eigene repräsentative Studie durch. Diese schätzte nach komplizierten Berechnungen die Zahl ziviler Gewaltopfer im Irak zwischen März 2003 und Juni 2006 auf 151.000. Die Gesamtzahl der ermittelten Toten glich dabei durchaus der der Lancet-Studie, die WHO-Studie ordnete jedoch nur rund ein Viertel in der Kategorie ziviles Opfer von Gewalt ein. (s. Verschleiern von Verbrechen – Eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation rechnet die Zahl der Opfer klein, junge Welt, 12.02.2008)]

An sich sind selbstverständlich schon die von „Iraq Body Count“ gemeldeten 110.000 Ziviltoten eine erschreckende Zahl – entsprechen sie doch der Auslöschung einer Großstadt. Doch scheint dies – sofern es sich „nur“ um Araber handelt – tolerabel und zum guten Teil auch mit dem Bild einer überbordenden religiös motivierten Gewalt erklärbar. 650.000 oder gar über eine Million Tote hingegen liegen in der Dimension eines Völkermords und würden als klares Menschheitsverbrechen erscheinen. Würde dies von einer breiten Öffentlichkeit als solches erkannt, wäre die Besatzungspolitik der USA und ihrer europäischen Verbündeten kaum durchhaltbar gewesen.

In Afghanistan wurden keine Umfragen durchgeführt. Dennoch kann man auch hier die tatsächliche Größenordnung abschätzen. Im Irak liegt die wahrscheinliche Zahl der Kriegstoten um das zehn- bis zwölffache höher, als die vom „Iraq Body Count“ erfaßten. Die Situation hier ist mit der in Afghanistan sicherlich nicht ohne weiteres vergleichbar, wo zwischen 2006 und 2007 die Explosion bürgerkriegsartige Gewalt hinzukam. Andererseits ist im wesentlich entwickelteren, urbaneren Irak, der zudem lange Zeit im Fokus der internationalen Öffentlichkeit stand, der Prozentsatz der von Medien, Kranken- und Leichenschauhäuser registrierten Todesfälle wesentlich höher als am Hindukusch, wo der Krieg zum großen Teil in abgelegenen Regionen tobt. Vermutlich ist in Afghanistan die Diskrepanz zwischen den registrierten und den tatsächlichen Opfern noch wesentlich höher als im Irak. Geht man von der von „Costs of War“ ermittelten Zahl von 14.000 aus, steht zu befürchten, daß im Afghanistan-Krieg weit über 150.000 Menschen getötet wurden. liegt. Eine solche Größenordnung legt auch die Recherche Jonathan Steeles vom britischen „The Guardian“ nahe. Diese schätzte nach Umfragen bei den Hilfsorganisationen vor Ort bereits für die Zeit bis Mai 2002 die Zahl getöteter afghanischer Zivilisten auf 20.000 bis 50.000. (Forgotten victims, The Guardian, 20.5.2002)

Siehe auch mein Beitrag vor 2 Jahren: Einseitiges Gedenken an NineEleven – Über die Zahl der Opfer der Terrorkriege nach dem 11.9.2001
denkbonus (Gast) - 12. Sep, 09:17

Was für ein Wahnsinn

Rechnet man die 1,5 Mio afghanischn Todesopfer in sechs Jahren auf den einzelnen Tag herunter, so kommt man auf knapp 700 Todesopfer TÄGLICH. Insgesamt sind bisher mehr Menschen in Afghanistan ermordet worden, als beispielsweise eine Stadt wie München an Einwohnern aufzubringen vermag. Es ist diese aberwitzige Dimension des Grauens, die es den Menschen erschwert, das Ausmaß dieses Verbrechens konkret zu erfassen.

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