Wishfull Thinking oder "Grüne Revolution"

Die Entwicklung im Iran nach den Präsidentenwahlen erinnert stark an die div. bunten Revolutionen in Osteuropa:
Seit Wochen wird im Westen der Wunschkandidat, dessen Anhänger sich mit grünen Kleidungsstücken kenntlich machen, hochgelobt und sein Sieg als wahrscheinlich erklärt. Schon kurz nach Wahlbeginn, lange bevor irgend eine Urne ausgezählt wurde, erklärt dieser wackere Herausforderer sich bereits zum Wahlsieger und weigert sich später beharrlich seine Niederlage anzuerkennen. Er schreit laut Wahlbetrug und seine Anhänger gehen wütend auf die Straßen. Einige organisierte Trupps steuern die Randale bei, die Sicherheitskräfte reagieren mit gewohnter Härte und die westlichen Medien sorgen für das nötige Echo - die Rede ist bereits von einer "grünen Revolution".
Ob mit oder ohne Nachhilfe, besser hätte es für die Regierungen der USA und der EU nicht kommen können.

Der Vorwurf des Wahlbetrugs stützt sich im Wesentlichen nur auf eines: den großen Unterschied zwischen dem im Westen erwarteten und dem tatsächlichen Wahlergebnis.
Alles deutet jedoch daraufhin, dass diese Erwartungen völlig verhehlt waren - entweder aufgrund von Wunschdenken oder aus Kalkül.
 
Sehr schön bringt dies Abbas Barzegar im Guardian auf den Punkt: "Seit der Revolution haben Wissenschaftler und Experten den Kollaps des iranischen Regimes vorhegesagt. In dieser Woche lagen sie nicht besser." (Wishful thinking from Tehran)
Er war vor der Wahl im Iran und fand dort nur wenige Leute, die an einem Wahlsieg des amtierenden Präsidenten zweifelten. Die westlichen Korrespondenten pflegten jedoch lieber ihr Wunschdenken. Es stimme zwar, so Barzegar, dass Mussawi-Anhänger jede Nacht stundenlang Teherans Verkehr blockierten. Übersehen wurde aber, dass sich diese Spektakel auf die wohlhabenden Vierteln beschränkten. Am Montag vor der Wahl bildeten auch tatsächlich an die 100.000 Mussawi-Anhänger eine Menschenkette. Ignoriert wurde in den westl. Medien jedoch, dass sich wenige Stunden zuvor über 600.000 Unterstützer Ahmadinedschads (manche meinen sogar 1 Million) versammelt hatten.

Ob es einem passe oder nicht, Ahmadinedschad verkörpere nun mal für das Gros der einfacheren Bevölkerung die Ideale "Antikorruption, Volksnähe und Frömmigkeit". Seit er im Amt ist, weigert er sich Anzüge zu tragen, blieb in seinem ererbten Haus wohnen und hörte nicht auf, die Korruption führender Geistlicher, wie Ayatollah Rafsandschani, anzuprangern. Und Mussawis moderner Wahlkampf, mit Facebook und SMS-Kampagnen mag die liberale städtische Mittelschicht und westliche Journalisten beeindruckt haben, am Gros der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiterschaft ging sie völlig vorbei.

George Friedman, Chef des kommerziellen US-Nachrichtendienstes Stratfor, sieht dies in seiner ausführlichen Analyse genauso: Western Misconceptions Meet Iranian Reality.

Selbstverständlich ist ein gewisser Wahlbetrug nicht auszuschließen. In den bisherigen drei Jahrzehnten war das Problem aber nie die Stimmenauszählung gewesen, sondern dass unerwünschte Kandidaten schlicht von der Wahl ausgeschlossen wurden.
Ein derart massiver Betrug, wie er jetzt unterstellt wird, wäre selbst dann unwahrscheinlich, wenn Ahmadinedschad den gesamten Staatsapperat hinter sich hätte. Tatsächlich hat er jedoch mächtige Feinde im Establishment, die - so auch die Einschätzung Friedmans - das rasch aufgedeckt hätten.

Auch Rudolph Chimelli zweifelt in seinem Kommentar in der SZ Ahmadinedschads Wahlsieg nicht an: "eine Mehrheit von elf Millionen Stimmen lässt sich selbst durch Manipulation nicht aus dem Hut zaubern." Auch er unterstellt dem Westen "mit seinen Hoffnungen auf eine Wende in Teheran einem alten Wahrnehmungsfehler verfallen" zu sein: "Wir reden gern mit Leuten, die adrett gekleidet sind, eine Fremdsprache reden und so denken wie wir. Ihre politische Logik erscheint schlüssig. Die Ansichten und Träume der Stoppelbärtigen und der verhüllten Frauen interessieren uns weniger. Dabei sind sie seit jeher die Mehrheit, Ahmadinedschads Mehrheit."

Selbst Umfragen westlicher Meinungsforschungsinstitute hatten im Vorfeld darauf hingewiesen, dass Ahmadinedschad mit doppelt so viel Stimmen, wie sein Herausforderer rechnen konnte. (s.a. The Iranian People Speak, WaPo, 15.6.09)

Dennoch reden die westlichen Medien unverdrossen von Wahlbetrug und tun so, als wäre dieser schon bewiesen.
Der renommierte Nahost-Experte Juan Cole versucht dies z.B. forsch durch eine angebliche Uniformität der Ergebnisse in den verschiedenen Provinzen und Städte zu belegen. Die mittlerweile veröffentlichten Zahlen der einzelnen Provinzen zeigen jedoch durchaus starke Abweichungen und sogar einen Vorsprung Mussawis in zwei Provinzen und einer ganzen Reihe von Städten.

Zu den unverdrossensten Verfechtern eines Wahlbetrugs zählt Martin Gehlen von der FR. Er nennt diverse Zahlen "anonymen Kreisen" des Innenministeriums als Beleg, obwohl diese Quellen nicht überprüft werden können. - Statt Journalismus bietet er Propaganda pur (Inoffizielle Informationen belegen Wahlbetrug).

Nachtrag: Auch Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik führt in einem lesenswerten Interview der Süddeutschen mit ihm die Überaschung im Westen über den Sieg Ahmadinedschads auf die falsche Perspektive zurück.

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