Folgen "humanitärer Interventionen" ‒ das Beispiel Libyen

Leicht aktualisierte Fassung meines Beitrags im gleichnamigen Workshop beim "22. Friedenspolitischen Ratschlag" am 6.12.2015 in Kassel.
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Am 19. März 2011 begannen Frankreich, Großbritannien und die USA militärisch auf Seiten aufständischer Kräfte in Libyen zu intervenieren. Am 31. März übernahm die NATO mit der „Operation Unified Protector“ das Kommando, es beteiligte sich allerdings weiterhin nur ein Teil der Mitglieder aktiv an den Angriffen. Der von März bis Oktober 2011 andauernde Krieg hatte katastrophale Folgen, im Land selbst, aber auch weit über Libyen hinaus. Er destabilisierte die im Süden angrenzenden Länder der Sahelzone, vermehrte die Zahl der afrikanischen Flüchtlinge und war auch ein Katalysator für den Krieg in Syrien.
 
Dass ein Krieg verheerende Auswirkungen hat, ist an sich nicht überraschend, es gehört zum Wesen des Krieges. Die Militärintervention in Libyen wurde jedoch humanitär begründet. Sie diente offiziell, wie Woche für Woche in jeder Erklärung der NATO über die Wirkung ihrer Luftangriffe betont wurde, ausschließlich dem „Schutzes der libyschen Zivilbevölkerung“.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde eine ganze Reihe von Kriegen geführt, die mit humanitären Zielen und dem Schutz von Menschenrechten begründet wurden. Dazu zählen die von den USA angeführten Militäreinsätze in Somalia 1992/93 („Operation Restore Hope“) und in Haiti 1994/95 (Operation Uphold Democracy) sowie der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999. Auch wenn die Kriege gegen Afghanistan 2001 und Irak 2003 zunächst mit Selbstverteidigung gegen Terroranschläge bzw. als „Präventivschlag“ gegen einen drohenden Angriff mit Massenvernichtungsmitteln gerechtfertigt wurden, begründeten die USA und ihrer Verbündeten die folgende Besatzung jeweils wieder mit humanitären Zielen, wie Wiederaufbau und Demokratisierung.
Trotz der immensen Kosten der Kriege und obwohl die meisten dieser Interventionen am Ende durch den UN-Sicherheitsrat abgesegnet wurden und so zu UNO-Missionen wurden – sogar die Besatzung des Iraks – unterzogen weder die intervenierenden Staaten noch die UNO diese Interventionen gründlichen, objektiven Untersuchungen, um deren Erfolg zu bewerten, um u.a. festzustellen, inwieweit die vorgegebene Ziele erreicht wurden und in welchem Verhältnis etwaige Erfolge zu negativen „Nebenwirkungen“, wie zivile Opfer und Zerstörungen standen. Das hat wohl seinen guten Grund. In allen Fällen wurden die Ziele nicht nur nicht erreicht, die Kriege waren für die betroffenen Länder desaströs und die Gründe für die Intervention erwiesen sich als vorgeschoben.

Paradebeispiel Libyen

Das gilt auch für den, im Wesentlichen von Frankreich, Großbritannien und den USA geführten Krieg gegen die „Libysch-Arabische Dschamahirija“, der aus mehreren Gründen geradezu als Paradebeispiel für eine „humanitär“ begründete Intervention westlicher Staaten angesehen werden kann. Seine humanitäre Zielsetzung wird nicht nur im Westen allgemein anerkannt, er gilt sogar gemeinhin als erste Intervention gemäß dem neuen Konzept der „Responsibility to Protect“ (R2P), der „Verantwortung für den Schutz“, das den etwas in Verruf geratenen Ansatz „humanitäre Intervention“ ablösen soll. Auch führende westliche Think Tanks, wie z.B. die Friedrich Ebert Stiftung,[1] verkauften den Krieg als erfolgreiches Modell des neuen Konzepts „Verantwortung zum Schutz“. Er war für sie „R2P in Action“. Und zumindest das Ziel, wenn auch nicht die Mittel, wurde auch von vielen Linken und an sich kriegskritischen Leuten unterstützt.
Hartnäckig hält sich auch Kritik an der Entscheidung der damaligen deutschen Regierung, Deutschland aus diesem Krieg weitgehend herausgehalten zu haben. Insbesondere die Kreise, die unter dem Slogan „mehr deutsche Verantwortung“, für einen verstärkten Einsatz deutschen Militärs in der Welt trommeln, beklagen, dass die Enthaltung in Libyen Deutschland machtpolitisch schweren Schaden zugefügt habe.

Auf der anderen Seite ist der Libyen-Krieg auch ein gutes Beispiel dafür, wie leicht sich das „Humanitäre“ hinter einer „Intervention“  vorschieben lässt, um knallharte politische, geostrategische, wirtschaftliche Interessen zu verschleiern. Und typisch ist leider auch der eklatante Widerspruch zwischen humanitärem Anspruch und den verheerenden Folgen für die betroffene Bevölkerung. Folgen, die wie ‒ man ebenfalls zeigen kann ‒ weitgehend vorhersehbar waren. Da dies keineswegs allein auf die blutige militärische Einmischung von außen zurückzuführen ist, sondern auch auf das letztlich erreichte Ziel, d.h. den Umsturz, lassen sich auch Lehren für zukünftige, ähnliche Fällen ziehen: insbesondere viel genauer die allgemeinen gesellschaftliche Realitäten, Rahmenbedingungen und Kräfteverhältnisse in einem Land betrachten, bevor man sich für einen „Regime Change“ begeistern lässt.
Lehrreich ist, nicht zuletzt, auch, wie der Krieg propagandistisch vorbereitet und gerechtfertigt wurde, hier gibt es viele Parallelen zu Syrien.

Proteste von Beginn an begleitet von bewaffneten Angriffen

Rekapitulieren wir noch einmal, wie alles begann: Auch in Libyen entstand Anfang 2011 wie in anderen arabischen Staaten eine Protestbewegung gegen die Regierung. Ab Mitte Februar, etwas später als in den Nachbarländern, kam es zu den ersten größeren Protestaktionen. Im Unterschied zu den Massenprotesten in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern, die von den Hauptstädten ausgingen und weitgehend gewaltfrei blieben, schlugen sie in Libyen sofort in einen bewaffneten Aufstand um. Schon am 15. Februar zwei Tage vor der ersten Großdemonstration, waren in den Großstädten Zintan und Al-Baida Polizeistationen in Brand gesetzt und eine große Zahl von Polizisten verletzt worden.[2] Auch in den folgenden Tagen wurden vielerorts Polizeireviere und andere öffentliche Gebäude niedergebrannt. Am 17. Februar, dem Tag der ersten großen Demonstration in Bengasi wurden zwei Polizisten gelyncht[3] und, wie der Guardian berichtete, fünfzig Schwarzafrikaner exekutiert, die bezichtigt wurden, Gaddafi-Söldner zu sein.[4] In Derna stürmten bewaffnete Islamisten schließlich ein Armee-Depot und den daneben liegenden Hafen[5]. Solche Angriffe weiteten sich in den folgenden Tagen im Osten massiv aus. Es waren vor allem diese Angriffe, gegen die die libyschen Sicherheitskräfte selbst mit Waffengewalt vorgingen und die so zu einer raschen Eskalation der Auseinandersetzungen führten, im Zuge derer schon in der ersten Woche fast 200 Zivilisten und über 100 Sicherheitskräfte getötet wurden.[6]

Natürlich gingen auch in Libyen junge Leute, Anwälte und Akademiker völlig gewaltfrei mit der Forderung nach mehr Freiheit, mehr Demokratie auf die Straße, veröffentlichten Manifeste, erarbeiteten in Arbeitsgruppen Vorschläge für eine demokratischere Verfassung etc. – es dominierten aber von Anfang radikale islamistischen Kräfte, voran der libysche Ableger der Muslimbruderschaft.
In dem Maß, wie die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten, wurde die liberale Opposition von den bewaffneten aufständischen Gruppen und der eng mit Frankreich Großbritannien und den USA verbandelten Exil-Opposition an den Rand gedrängt. Mit Beginn der NATO-Intervention war sie endgültig aus dem Spiel.
Während der Westen sich im Fall der verbündeten Regime in Tunesien, Ägypten und Jemen zunächst hinter die Machthaber stellte und anschließend bemüht war, dass es zu keinen gravierenden Umwälzungen kommt, orientierten sich die Nato-Staaten bzgl. Libyen sofort auf „Regime Change“. Nur einen Monat später begann ein neuer, von NATO-Mächten geführter Krieg. [7]

Mit Lügen vom Aufstand zum Krieg

Wie die Kriege von NATO-Staaten zuvor, begann auch er mit Falschdarstellungen und Lügen. Wesentlich für die Einstimmung der westlichen Öffentlichkeit auf den neuen Waffengang war die Darstellung des Aufstandes als eine „friedliche Revolution“, bei der die Gewalt der Sicherheitskräfte massiv übertrieben und die der Regierungsgegner völlig unterschlagen wurde.
Der Ruf nach einer Flugverbotszone über Libyen ‒ der entscheidende Türöffner für eine militärische Intervention ‒ wurde mit der Behauptung begründet, „Machthaber Muammar al-Gaddafi“ würde die „Luftwaffe gegen friedliche Demonstranten einsetzen“ und die „eigene Bevölkerung abschlachten“. Doch weder die UNO noch die westlichen Botschaften in Tripolis hatten dergleichen beobachtet oder glaubhafte Hinweise dafür erhalten. Sie äußerten vielmehr grundsätzliche Zweifel an den Berichten der Aufständischen über Luftschläge und Artillerieangriffe.[8] Die Bundesregierung gab am 26.4.2011 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke) an, es lägen ihr keinerlei Belege für Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten vor.[9] Auch Pentagon-Chef Robert Gates räumte später ein, dafür nie Beweise gesehen zu haben.[10]

Eine unrühmliche Rolle spielten bei der Stimmungsmache gegen die Gaddafi-Regierung auch der UN-Menschenrechtsrat und namhafte Menschenrechts-Organisationen, die ungeprüft Berichte der Opposition über alle möglichen Gräueltaten wiedergaben. Besonders lehrreich ist die Geschichte, wie leicht der Generalsekretär der oppositionellen „Libyschen Liga für Menschenrechte“, Sliman Bouchuiguir, die Unterstützung von 85 in Genf ansässigen internationalen Menschenrechtsorganisationen für eine Petition erlangte, die den Ausschluss Libyens aus dem Menschenrechtsrat und ein Mandat des Weltsicherheitsrats für ein militärisches Eingreifen nach Kapitel VII der UN-Charta forderte. Neben den angeblichen Luftwaffenangriffen auf Demonstranten, überzeugte er sie, nach eigenen Angaben, vor allem mit der Behauptung, Regierungstruppen hätten bereits über 6000 Zivilisten getötet, von der Dringlichkeit seines Anliegens. Die konzertierte Aktion zeigte die gewünschte Wirkung: Libyen flog aus dem Menschenrechtsrat und die Petition bildete auch eine wesentliche Grundlage für die folgenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. [11] Weder die NGOs noch der Menschenrechtsrat hatten die Behauptungen überprüft. Vom kritischeren französischen Fernseh-Journalisten Julien Teil nach seinen Quellen dafür befragt, stammelte er nur etwas von „Mitteilungen per Telefon“. Die Opfer-Zahlen hätte er von Mahmoud Dschibril bekommen – dem Chef des „Übergangsrats“ der vom Westen zur Gegenregierung gekürt worden war.[12]

Auch Amnesty International (AI) hat diverse Vorwürfe, wie die angeblich von Revolutionsführer Gaddafi persönlich angeordneten Massenvergewaltigungen nach Verabreichung von Viagra, oder den Einsatz von afrikanischen Söldnern, voller Empörung weiterverbreitet. Sie bildeten bald auch ein zentrales Element in der Anklage des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs Luis Moreno Ocampo. Als ein AI-Team dem jedoch vor Ort nachging, stellten sich alle Behauptungen als haltlos heraus.[13] Auch die meisten anderen Vorwürfe sind heute von Tisch. [14]

Wiederholt wird nur noch die zweite zentrale Behauptung: es hätte ohne die NATO-Intervention in der Rebellenhochburg Bengasi ein Massaker oder gar einen Völkermord gegeben. Nichts hatte damals jedoch für drohende Rache-Orgien gesprochen. In keiner der von Regierungskräften zurückeroberten Städte hatte es Massaker gegeben.[15] Auch das Pentagon hielt dies, wie sich später herausstellte, für unwahrscheinlich ‒ allein schon weil dies unweigerlich den Nato-Angriff ausgelöst hätte. [16]  
Verteidigungsminister Robert Gates und der Generalstab waren allerdings auch nicht die treibenden Kräfte hinter dem Krieg. Dies waren in Europa der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der britische Premier David Cameron und in Washington eine Troika interventionsfreudiger Frauen: Außenministerin Hillary Clinton, UN-Botschafterin Susan Rice und Präsidentenberaterin Samantha Power. Die jüngst veröffentlichten Mails von Clinton belegen, dass die aussichtsreichste neue Präsidentschaftskandidatin bewusst und wider besseres Wissen Lügen über die angeblichen Gräuel Gaddafis verbreitet hatte, um skeptische Kabinettskollegen und die Öffentlichkeit hinter ihren Kriegskurs zu bekommen.[17] Im perfekt inszenierten Zusammenspiel von Politikern und Medien, allen voran der katarische Sender Al Jazeera, verstanden es die Kriegstreiber diesseits und jenseits des Atlantiks den dramatischen Eindruck zu wecken, nur noch ein sofortiges Einschreiten könne schlimmstes Unheil verhindern.[18]
Ihr Bemühen hatte Erfolg: mit den konstruierten Vorwänden setzten Paris, London und Washington in kürzester Zeit eine UN-Resolution zum „Schutz der Zivilbevölkerung“ durch. Die mit der UN-Charta kaum vereinbare Resolution 1973 passierte am 18. März aufgrund der Stimmenthaltung von Russland und China den UN-Sicherheitsrat.[19] Deutschland, Brasilien und Indien hatten sich ebenfalls enthalten. Obwohl ihre zentralen Forderungen „sofortige Einstellung der Kampfhandlungen“ und „Aufnahme von Verhandlungen über eine politische Lösung“ waren, wurde sie von den kriegswilligen Staaten umgehend als Ermächtigung zum Krieg uminterpretiert. Nur wenige Stunden danach, in den Morgenstunden des 19. März 2011 waren die ersten französischen Bomber schon in der Luft.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die libysche Regierung den größten Teil des Landes bereits wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Der Konflikt war, so der US-amerikanische Politologe Alan Kuperman in seiner Studie „Lehren aus Libyen: Wie man nicht interveniert“, im Grunde so gut wie beendet, die Zahl der Todesopfer und Soldaten, Aufständischen und Zivilisten, die ins Kreuzfeuer geraten waren, lag noch unter 1.000.  Indem die NATO intervenierte, ermöglichte sie den aufständischen Milizen, den Kampf wieder aufzunehmen. Der Konflikt ‒ zum offenen Krieg gewandelt ‒ verlängerte sich um sieben Monate und forderte Zigtausende Opfer. [20]

Im Unterschied zur Stimmung in Westeuropa und Nordamerika, war im Rest der Welt die überwiegende Mehrheit gegen den Krieg. Verurteilt wurde er vor allem von der Ländern der Afrikanischen Union und den meisten lateinamerikanischen Staaten,[21] aber auch von so unterschiedlichen Ländern wie Indien, Vietnam, Iran, Bulgarien und Belarus. Selbst China und Russland, die der Kriegsallianz durch Verzicht auf ein Veto im Sicherheitsrat zu einem legalen Cover verholfen hatten, verurteilten im Nachhinein, die an sich absehbare Aggression.

Die wahren Motive hinter dem Krieg

Wenn es nicht um den Schutz der Bevölkerung oder andere humanitäre Gründe ging, was waren die wahren Interessen hinter der Intervention?
Die treibenden Kräfte hinter ihr waren in diesem Fall nicht die USA, sondern Frankreich und Großbritannien. Die beiden im Niedergang befindlichen Großmächte sahen sich vom viel zu selbständigen Libyen besonders gestört, insbesondere Frankreich sah sein System Françafrique durch dessen Politik stark gefährdet. Unter Führung von Muammar Al-Gaddafi hatte sich das Land ‒ gestützt auf seinen Ölreichtum ‒ überaus effektiv für eine größere Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten vom Westen engagiert. Er kam dadurch den früheren Kolonialmächten, die ihre ehemaligen Kolonien immer noch als Hinterhof betrachten häufig in die Quere. Die Palette reicht von kleineren lokalen Projekten, wie Konservenfabriken zur selbständigen Vermarktung lokaler Produkte, über große Infrastrukturprojekte bis hin zum Aufbau dreier unabhängiger afrikanischer Finanzinstitute, mit denen sich die Afrikaner vom erdrückenden Joch des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu befreien suchten und für deren Gründung libysche Gelder die Basis bildeten: die Afrikanische Investmentbank, der Afrikanische Währungsfonds und die Afrikanische Zentralbank.

Mit ihren westlichen Verbündeten teilten Paris und London den Wunsch, ihren Konzernen und Banken endlich freien Zugang zu den Ressourcen und der Wirtschaft des Landes zu verschaffen. Einen großen Teil dieser tatsächlichen Motive kann man mittlerweile auch in den bereits erwähnten Mails von Hillary Clinton nachlesen.[22]

Libyen verfügt mit 46,4 Milliarden Barrel nachgewiesener Reserven über die bedeutendsten Vorkommen in Afrika. Es hatte seine Ölindustrie zwar seit Beginn des Jahrhunderts westlichen Konzernen geöffnet, doch aus deren Sicht nicht weit genug. Die Öl- und Gasvorkommen blieben unter voller Kontrolle des libyschen Staates und die Abkommen mit den ausländischen Firmen enthielten, so die Klagen westlicher Manager, die strengsten Konditionen der Welt. Westliche Medien sprachen sogar von „Knebelverträgen“.[23] Geschäfte waren grundsätzlich nur in Partnerschaft staatlichen libyschen Unternehmen möglich, die dabei stets die Mehrheitsanteile (meist 60 Prozent und mehr) und somit die Kontrolle behielten. Schon für den Abschluss eines Vertrages waren hohe Zeichnungsgebühren zu entrichten. Die ausländischen Konzerne trugen anschließend den größten Teil der Entwicklungskosten eines Ölfelds, der libysche Staat blieb jedoch alleiniger Eigentümer. [24]
Ab 2008 begann die libysche Führung die Verträge mit ausländischen Konzernen noch stärker an den nationalen Interessen auszurichten. Sie verlangten höhere Abschlussgebühren sowie einen wesentlich höheren Anteil des Gewinns und ließen die lokalen Tochterfirmen der Öl-Multis verpflichten, eine bestimmte Zahl Libyer auszubilden und zu denselben Bedingungen wie die eigenen Angestellten anzustellen. Die neuen Bedingungen schmälerten die Gewinnaussichten um Milliarden. Libyen sperrte sich zudem gegen stärkere Ausweitung der Produktion.

Nicht nur hier versprachen die libyschen „Rebellen“ rasche Abhilfe: die Öffnung der übrigen Wirtschaft und des Bankwesens, sowie der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur verhießen auch außerhalb von Öl und Gas Milliarden-Geschäfte. Begehrlichkeiten weckten z.B. allein schon die 150 Milliarden Dollar Auslandsguthaben, die der IWF angesichts der Schulden anderer Staaten 2010 als geradezu anrüchig moniert hatte. Auch das einzigartige Wasserprojekt, durch das die Küstenstädte mit den unter der Sahara liegenden Grundwasservorräten versorgt werden, das „Great Man-Made River“-Projekt, würde in den Händen von privaten Konzernen wie Veolia enorme Gewinne bringen. 4000 Kilometer Pipelines mit dem Durchmesser von Straßentunneln bringen heute bereits 6,5 Millionen Kubikmeter pro Tag zu den Verbrauchern. Bei den aktuellen Wasserpreisen von 2 Euro und mehr könnten problemlos Einnahmen von über 4 Milliarden Euro pro Jahr erzielen – und das Jahrhunderte lang.

NATO-Bomben für gute Geschäfte

Die Gegenwehr im lediglich sechseinhalb Millionen Einwohner zählenden Landes gegen die übermächtige Allianz war jedoch überraschend zäh. 14 Nato-Staaten und die „Musterdemokratien“ Katar, Jordanien und Vereinigte Arabische Emirate beteiligten sich am Bombardement und teilweise auch mit Spezialeinheiten am Boden. Ihre Luftwaffen mussten den von ihnen ausgerüsteten Milizen den Weg nach Tripolis sechs Monate lang Meter für Meter freibomben. Sie warfen dabei in 9.600 Kampfeinsätzen rund 30.000 Bomben ab und legten weite Teile des Landes in Schutt und Asche.[25] Die Hauptstadt fiel erst als amerikanische Spezialeinheiten auch am Boden das Heft in die Hand nahmen.[26]
In den Hauptstädten der Allianz feierte man den Sturz der Regierung des souveränen Landes und den Lynchmord an seinem Staatsoberhaupt überschwänglich als Erfolg. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bezeichnete den Krieg als »eine der erfolgreichsten Missionen« des Bündnisses. Mit der Liquidierung ihres langjährigen Feindes und der Beseitigung des libyschen Gesellschaftssystems der „Dschamahirija“ sah man den Weg zu den libyschen Ressourcen freigeräumt – und das ohne eigene Verluste und zu überschaubaren Kosten. London gab die direkten Ausgaben mit ca. 350 Mio. Euro an, Washington mit rund 1,2 Mrd. Dollar. – Auch wenn darin sicherlich nicht alle Kosten enthalten waren, so war das auf jeden Fall im Vergleich zu Afghanistan oder gar Irak ein richtiges Schnäppchen.
Ohne Einhaltung einer Schamfrist meldeten Politiker und Medien der beteiligten Länder sogleich ihre Ansprüche an den zukünftigen Öl- und sonstigen Geschäften Libyens an. Der Anteil daran müsse sich selbstverständlich nach dem jeweils erbrachten Einsatz im Krieg richten, tönte es aus England und Frankreich. Der Chef des Übergangsrats versprach diesen Wünschen entgegenkommen. Paris und London spornten die nationalen Firmen an, nun rasch nach Libyen zu eilen, um sich einen ordentlichen Anteil an den Wiederaufbaugeschäften zu sichern. Libyens 150 Milliarden Dollar Auslandsguthaben seien dafür ein „ziemlich großer Pott“ hieß es im britischen Guardian. Das britische Handelsministerium schätzte das gesamte Auftragsvolumen im folgenden Jahrzehnt auf 250 Milliarden Euro.[27] Libyen könnte einer der größten Wachstumsgebiete britischer Firmen werden, frohlocken britische Zeitungen.[28]

Land in Scherben

Daraus wurde jedoch bisher nichts. Das Land zerfiel nach dem Sieg der Nato sofort in die Herrschaftsbereiche rivalisierender Milizen. Libyen ist seither ohne eine zentrale Staatsgewalt, ohne funktionierende Regierung, Verwaltung und Polizei. Alle Anstrengungen, das Land wieder zu stabilisieren, sind bisher gescheitert.
Über die Zahl der Opfer gibt es keine fundierten Schätzungen. Die NATO selbst bestreitet konsequent jegliche zivilen Opfer ihrer Luftangriffe. Konkrete Hinweise auf Tote durch NATO-Bomben, wischt sie mit der Standard-Floskel, diese hätten „nicht unabhängig bestätigt“ werden können vom Tisch. Indem sie keine eigenen Untersuchungen durchführte, stellte sie sich auch anschließend blind und taub.[29] Auch die UNO vermied bisher eine „Erfolgskontrolle“ der ersten Anwendung ihres neuen „Schutzkonzeptes“ und ordnete keine unabhängige Studie darüber an, wie viele Libyer den von einer UN-Resolution gedeckten Krieg nicht überlebt haben.

Der Gesundheitsminister der Übergangsregierung gab im September 2011 die Zahl der im Krieg getöteten Libyer mit 30.000 an, die Hälfte davon „pro Gaddafi-Kämpfer“, ein Rebellenführer schätzte gegenüber der Tripoli Post die Zahl der Opfer auf 50.000.[30] Dies sind, sofern Opferzahlen überhaupt erwähnt werden, auch die meist genannten Zahlen.
Bei 9.700 Luftangriffen und 30.000 abgeworfenen Bomben liegt die Zahl vermutlich noch deutlich höher. Im Irak wurden 2005 und 2006 insgesamt eine ähnliche Zahl von Luftangriffen geflogen.[31] Gemäß einer repräsentativen Studie über die Zahl der Opfer im Irak wurden dabei schätzungsweise 50.000 Menschen getötet –Zivilisten und Kämpfer.[32] Die Art der Angriffe ist durch vergleichbar. Auch im Irak dienten sie dazu, den Bodentruppen den Weg freizubomben. Daher dürfte die Zahl der dabei Getöteten in Libyen in ähnlicher Größenordnung liegen – wohlgemerkt nur die der Luftangriffe. Im Irak machten sie knapp ein Fünftel der gesamten Opfer aus.

Die gesamten unmittelbaren materiellen Schäden des Krieges zwischen März und Oktober 2011 werden auf mindestens 35 Milliarden geschätzt. Sie sind, wie die Zahl der Opfer, nach Ende des NATO-Feldzuges weiter gestiegen. Denn für die Libyer ging der Krieg im Oktober 2011 nicht zu Ende.

Verlust des Lebensstandards

Eine solche Entwicklung war vorhersehbar. So befremdlich das von Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi geschaffene Gesellschaftssystem der »Dschamahirija« (Volksherrschaft) mit seinen stark dezentralen, basisdemokratischen Elementen uns auch erscheinen mochte, für das weitläufige Wüstenland, in dem Stämme noch ein großes Gewicht hatten und wenig geneigt waren, ferne Autoritäten anzuerkennen, war es wohl keineswegs unangemessen. Dieses System sorgte, ungeachtet seiner Mängel, dafür, dass die wachsenden Einnahmen des Staates nach der Nationalisierung der Ölindustrie auch der Bevölkerung zu Gute kamen. Durch freie Gesundheitsversorgung, Bildung, günstige Wohnungen, ausreichende Renten und vieles mehr, genoss dessen Bevölkerung vor dem Krieg den höchsten Lebensstandard in Afrika. Dies, sowie die Betonung gesamtnationaler Interessen, antiimperialistische Rhetorik und die Standhaftigkeit gegenüber westlichen Bevormundungsversuchen, sicherten dem Regime nicht nur großen Rückhalt, sondern schuf auch eine gewisse nationale Identität. „Diese wurde im Lauf des Bürgerkriegs in tausend Stücke zerschlagen“, so, der ehemalige Diplomat der französischen Botschaft in Tripolis, Patrick Haimzadeh in Le Monde diplomatique.[33].
Auch wenn die Mitbestimmung über Volkskongresse auf lokaler, regionaler und Landesebene, angesichts starker nichtgewählter Institutionen, wie den Revolutionskomitees und quasi-institutionalisierten Stammesstrukturen sowie der starken informellen Stellung Gaddafis und seiner Vertrauten, sicherlich recht eingeschränkt war, stand sie nicht nur auf Papier. Es gibt durchaus Fälle, in denen sich die Volkskongresse durchsetzen, beispielsweise in der Frage einer weitgehenden Liberalisierung der Wirtschaft. Hier waren es nicht nur sozialistisch orientierte Traditionalisten innerhalb der Führung, die bremsten, sondern mehr noch die Stimmung in der Bevölkerung. Der wachsende Unmut führte 2006 schon zur Absetzung einiger führender Reformer. Im Februar 2009 erteilten die Basisvolkskongresse, wie FAZ-Korrespondent Christoph Ehrhardt aus Tripolis berichtete, den Plänen einer stärkeren Privatisierung der Wirtschaft und den Abbau von Subventionen eine klare Abfuhr. Sie waren damit vom Tisch und ihre Befürworter frustriert. Zwei Jahre später waren sie die führenden Köpfe des als Gegenregierung fungierenden „Nationalen Übergangsrats“. (Abgelehnt wurde, nebenbei bemerkt, gleichzeitig auch Gaddafis Vorschlag, als Maßnahme gegen Korruption und Ineffizienz, staatliche Dienstleistungen abzubauen und dafür den Leuten einen größeren Anteil der Öl-Einnahmen direkt zukommen zu lassen. )

Zusammenbruch staatlicher Ordnung

Mit der Vertreibung, Einkerkerung und Ermordung der Repräsentanten und Anhänger der »Dschamahirija« in der Regierung, der Verwaltung und den staatlichen Unternehmen verlor man einen wesentlichen Teil der Kräfte des Landes, die gesamtlibysch orientiert waren. Hatte es bis dahin funktionierende staatliche Strukturen und eine reguläre nationale Armee gegeben, so waren diese nun zerschlagen oder lösten sich auf. Aufgrund der unvereinbaren Ziele der siegreichen Milizen sowie der Rivalität zwischen Städten, Stämmen und Regionen konnten auch keine neuen gesamtstaatlichen Strukturen mit einem legitimen Gewaltmonopol mehr entstehen. Von nun an hing der politische Einfluss der Akteure allein von der militärischen Stärke der eigenen Kampftruppen und ihren Bündnispartner ab. [34]

War die Bedeutung der Stammes-, Volks oder Religionszugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen, so führte der Krieg zum Rückfall auf diese „primären Identitäten“. Nach dem Sturz Gaddafis brachen neben den anhaltenden Konflikten zwischen Anhängern des charismatischen Führers und dessen Gegner auch alte Rivalitäten unter letzteren wieder auf. Den meisten Gruppierungen, die ab Februar 2011 mit Waffengewalt die Regierung bekämpften, ging es um lokale oder Stammesinteressen oder um eine dominierende Rolle des Islam. Sie bildeten auf städtischer oder Stammesebene, Milizen und Militärräte, die weitgehend eigenständig operierten. Diese waren nach dem Sieg nicht bereit, die Waffen abzugeben und sich einer neuen Regierung unterzuordnen.
Viele nutzten das Machtvakuum, um benachbarte Gemeinden, lokale Schmuggelrouten, Grenzübergänge, See- und Flughäfen oder industrielle Anlagen unter ihre Kontrolle zu bringen, die ihnen seither als lukrative Einnahmequellen dienen. In anderen Fällen wurden Militärräte von kriminellen Banden infiltriert oder neu geschaffen, um unter deren Deckmantel Plünderungen, Drogenhandel und ähnliches betreiben zu können. [35]

Angesichts ihrer Ohnmacht integrierte die neue Regierung einen Teil der Milizen in den staatlichen Sicherheitsapparat. Da ihre bisherige Führung das Kommando über sie behielt, wurde nur der Bock zum Gärtner gemacht. Die Libyer blieben daher weiterhin der Willkür der Milizen ausgeliefert, die meist völlig außerhalb des Gesetzes agieren. Nach wie vor berichten UNO und Menschenrechts-Organisationen, wie Human Rights Watch (HRW) über zahlreiche ungesühnte Morde an Richter, Journalisten, Politiker und Aktivisten, die sich gegen das Treiben der Milizen und islamistischer Kräfte engagierten, sowie über willkürliche Gefangennahmen, Folter und Tod in illegalen und teils geheimen Gefängnissen und Lagern ‒ sowohl von Milizen, wie auch von „offiziell anerkannten“ Militäreinheiten und „Sicherheitskräften“.[36]

Die große Teilung ‒ zwei Regierungen und der „Islamische Staat“

Im Anti-Gaddafi-Lager dominierten von Anfang an radikale islamistische Organisationen, voran der libysche Ableger der Muslimbruderschaft und die als „Al Qaeda nah“ geltenden „Islamischen Kampfgruppen“. Sie stellten auch die Mehrheit im ersten Parlament und in der, von ihn eingesetzten Regierung. Im Mai letzten Jahres startete der ehemalige libysche General Khalifah Haftar dagegen eine militärische Offensive mit dem erklärten Ziel, die „Islamisten auszulöschen“. Haftar, einst Mitkämpfer Ghaddafis und danach jahrzehntelang Agent der CIA, ist im Land ziemlich umstritten. Es ist ihm aber mittlerweile gelungen, Teile der Luftwaffe, deren Offiziere nach 2011 auf ihren Posten bleiben konnten, sowie eine Reihe säkularer Milizen, vor allem aus der Bewegung für die Unabhängigkeit der ostlibyschen Provinz Kyrenaika hinter sich zu bringen.
Da sich als Reaktion auf diese Offensive, das zuvor in sich zerstrittene islamistische Lager in der Allianz „Libyens Morgenröte“ gegen die Angreifer zusammenschloss, bildeten sich nun zwei gegnerische Hauptlager heraus, dem sich sukzessive weitere Milizen, Stämme und Städte anschlossen. Stärkste Kraft im islamistischen Lager sind die Brigaden aus der Hafenstadt Misurata. Ihre stärksten Gegenspieler, die mehr nationalistisch orientierten Brigaden aus der westlibyschen Stadt Sintan schlossen sich daher nun der Allianz um Haftar an, mit dem sie bisher verfeindet waren. Auch Kräfte aus dem Kreis der Gaddafi-Anhänger stellten sich nun aus taktischen Gründen an die Seite des Haftar-Lagers, das sie offenbar als kleineres Übel betrachten. 

Im Juni 2014 fanden Wahlen zu einem neuen Parlament statt, die allerdings in weiten Teilen aus Sicherheitsgründen ausfielen. Da sie von den Islamisten aus Protest gegen das Wahlverfahren boykottiert wurden, erkannten diese das, mit einer Wahlbeteiligung von höchstens 18 Prozent gewählte Parlament nicht an. Im August 2014 übernahm die Morgenröte-Allianz in einer Art Staatsstreich die Herrschaft über Tripolis, setzte das frühere Parlament wieder in seine Rechte ein und bildete ihre eigene „Regierung des nationalen Wohls“. Das neue, im Wesentlichen aus Vertretern der Haftar-Allianz gebildete Parlament, wich in die ganz im Osten liegende Haftar-Hochburg Tobruk aus. Obwohl es angesichts der geringen Wahlbeteiligung kaum als repräsentativ betrachtet werden kann wurde das neue Parlament wie auch die neue Regierung vom Westen anerkannt. Beide Regierungen bemühen sich seither möglichst große Teile der nationalen Ölproduktion unter Kontrolle zu bringen. Diese ist allerdings im Zuge der Kämpfe weiter eingebrochen und beträgt aktuell nur noch 300.000 bis 500.000 Barrel pro Tag, gegenüber 1,7 Millionen Barrel vor dem Krieg.[37]

Im Zuge der Auseinandersetzungen, weiteten sich die Kämpfe im ganzen Land massiv aus ‒ Medien sprechen von einem „zweiten Bürgerkrieg“. Auch dieser ist bereits internationalisiert: Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen mit Luftangriffen auf Milizen der islamistischen „Morgenröte“ die Tobruker Regierung, die Türkei, Katar und Sudan die Gegenregierung in Tripolis.
Allein die Krankenhäuser von Bengasi haben zwischen August 2014 und März 2015 mehr als 5 000 Tote registriert. Laut UNHCR stieg die Zahl der Binnenflüchtlingen wieder auf 400.000. Weitere 150.000 Menschen, darunter auch zahlreiche Ausländer, flohen aus dem Land.

Vom anhaltenden Chaos profitiert nicht zuletzt auch der Ableger des „Islamischen Staates“ (IS) im Land. Nachdem im Herbst 2014 zahlreiche Kämpfer vom syrischen Schlachtfeld zurückkehrten, brachte er ausgehend von seiner Hochburg Derna, von wo dschihadistische Milizen bereits gegen Gaddafis Truppen kämpften, einige weitere Städte unter seine Kontrolle. Insgesamt beherrscht der IS nun einen 200 km breiten Küstenstreifen ‒ nur durch wenige hundert Kilometer Meer von den Grenzen der EU getrennt.

Auswirkungen auf andere Ländern

Der Krieg gegen Libyen hat auch gravierende Auswirkungen auf die Nachbarländer, vor allem im Süden. Schon bald nach Beginn des Aufstands waren Hunderttausende Menschen aus dem Land getrieben worden. Durch den verbreiteten Rassismus waren besonders Schwarzafrikaner und schwarze Libyer, die gemeinhin als Sympathisanten Gaddafis behandelt wurden, Opfer von Übergriffen geworden. Zahlreiche Migranten aus den subsaharischen Ländern, die vor dem Umsturz in Libyen Arbeit und ein Einkommen für die ganze Familie hatten, wurden von den „revolutionären“ Brigaden als „illegale Einwanderer“ Zeit inhaftiert, misshandelt, gefoltert und schließlich aus dem Land gejagt. Zwischen 1,5 und 2,5 Millionen ausländische Arbeiter gab es vor dem Krieg, ein großer Teil aus den benachbarten Ländern der Sahelzone, rund 400.000 kamen allein aus Mali. [38] Durch ihre Vertreibung wurde das Heer der Arbeitslosen dieser Länder, die ohnehin zu den ärmsten Ländern der Welt gehören, vermehrt und Hundertausende Familien ihrer Haupteinnahmen beraubt.
Ein Teil von ihnen machte sich auf den Weg nach Europa. Die Flüchtlinge, die sich von jenseits der Sahara bis an die libysche Mittelmeerküste durchschlagen können, bleiben jedoch seit dem NATO-Sieg ohne staatlichen Schutz und Unterstützung. Sie werden, so Amnesty International, regelmäßig ausgeraubt, gefoltert, entführt und sexuell missbraucht oder werden Opfer von Menschenhandel. In dem Maße wie die EU die Möglichkeiten der Weiterfahrt einschränkte, wurde Libyen für sie zur Falle.[39]

Die massive Ausbreitung von Kämpfern und Waffen infolge des Zusammenbruchs des libyschen Staates (u.a. bis zu 15.000 tragbare Panzerabwehr- und Boden-Luft-Raketen[40] ) destabilisierte die Länder zusätzlich. Auch hiervon wurde Mali besonders betroffen. Nach dem Zusammenbruch des libyschen Staates flohen tausende Tuaregs in den Norden Malis. Tuareg-Gruppen, deren Siedlungsgebiet sich grenzüberschreitend vom Süden Libyens über Algerien und Niger bis Mali erstreckt, fanden in Gaddafis Libyen günstige Bedingungen. Viele dienten in der libyschen Armee. Die Rückkehr dieser kampferprobten und gut bewaffneten Kämpfer fachte in Mali den dort seit langem schwelenden Konflikt der Tuaregs mit der Zentralregierung erneut an. Die neugegründete „Bewegung für die Befreiung von Azawad“ (MNLA) konnte in kurzer Zeit die Kontrolle über drei Provinzen erringen. In der Folge kam es in der malischen Hauptstadt Bamako zu einem Militärputsch junger Offiziere. Die MNLA rief im April 2012 ihren eigenen Staat aus, wurde jedoch bald darauf von dschihadistischen, Al-Qaida-nahen Gruppierungen verdrängt, die infolge des Libyenkriegs ebenfalls in der Region massiv erstarkt waren. Die nördliche Hälfte Malis wurde zum bis dahin weltweit größten, von islamistischen Extremisten kontrollierten Gebiet. Die Präsenz von Al-Qaida nahm Frankreich zum Anlass für eine militärische Intervention,  die von Deutschland und anderen Nato-Staaten unterstützt wurde. Frankreich gelang es zwar, die Dschihadisten zurückzudrängen und eine genehme Regierung wählen zu lassen, doch der Krieg ging weiter und trieb seither Hunderttausende Malier in die Flucht. Amnesty International charakterisierte die Lage als „Malis schlimmste humanitäre Situation der letzten 50 Jahre“.
Frankreich weitet mittlerweile seine Militärintervention auf die Nachbarstaaten Mauretanien, Niger, Tschad und Burkina Faso aus, flankiert von einer „Stabilisierungsmission“ der UNO (MINUSMA), die einen fragilen Friedensvertrag zwischen Regierung, Milizen und Tuareg- Stämmen absichern soll. Der vereinbarte Frieden steht aber nur auf dem Papier und weite Teile der Bevölkerung sind MINUSMA gegenüber genauso feindlich eingestellt wie gegenüber den Franzosen. Aufgrund der häufigen Angriffe auf die UN-Mission, gilt sie als eine der gefährlichsten.
Nach einer blutigen Geiselnahme im internationalen Radisson Blu Hotel in Malis Hauptstadt Bamako, bei der 27 Menschen getötet wurden, machte die Bundesregierung mit ihren schon seit längerem gehegten Plänen ernst und schickt auch deutsche Truppen zum Kampfeinsatz nach Mali. Es ist allen klar, dass die 650 Soldaten in ein echtes Kriegsgebiet ziehen. Und es wird auch schon angedeutet, dass das Einsatzgebiet vermutlich, analog dem französischen, ausgeweitet werden muss. Damit breiten sich die Kriege und Interventionen nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in Afrika immer weiter aus.

Verheerend waren auch die Auswirkungen auf Syrien, wo ein Monat nach dem Beginn des Aufstands in Libyen sehr ähnliche Unruhen unter ähnlichen Umständen ausbrachen. Zum einen waren es zu Beginn vor allem Waffen und Kämpfer aus Libyen die den bewaffneten Konflikt dort ab Herbst 2011 so rasch eskalieren ließen, dass politische Lösungen keine Chancen mehr hatten. Zum anderen weckte der NATO-Krieg gegen Libyen natürlich bei vielen Regierungsgegnern die Hoffnung, in Syrien die Bedingungen für eine ähnliche Intervention schaffen zu können. Viele griffen vermutlich nur aufgrund dieser Hoffnung zu den Waffen, andere bemühten sich durch Verbrechen, die man in der syrischen Regierung in die Schuhe zu schieben versuchte, wie die Giftgasangriffe in Ghouta und anderen Orten, ein Eingreifen der NATO zu provozieren.

Erneute Intervention

Seit Juni 2015 finden ‒ u.a. in Berlin ‒ Friedensverhandlungen zwischen vom Westen ausgewählten Vertretern der beiden libyschen Blöcke statt. Die Verhandlungsführung hat die sogenannte „5+5“-Gruppe übernommen. Diese merkwürdige Gruppe setzt sich aus den fünf UN-Vetomächten, Deutschland, Spanien, Italien sowie ‒ zusätzlich zu den fünf EU-Staaten ‒ der EU als Ganzem und der UNO zusammen. Vertreter afrikanischer und arabischer Staaten hielten die treibenden westlichen Staaten offensichtlich für entbehrlich.
Am 6. Dezember 2015 kam es überraschender Weise sogar zu einem Abkommen, das die Bildung einer Einheitsregierung vorsieht. Eine solche wurde auch vom UN-Sonderbotschafter für Libyen, dem deutschen Diplomat Martin Kobler zusammengestellt. Sie erhielt aber in keinem der beiden Parlamente eine Mehrheit. Obwohl seiner „Einheitsregierung“ jegliche Legitimität fehlt, drängen Kobler, der mehr wie ein Statthalter als wie ein Vermittler agiert, und die hinter ihm stehenden Regierungen darauf, dass sie unverzüglich in Tripolis ihre Arbeit aufnimmt. Die dort amtierende Regierung hat allerdings angekündigt, dies mit allen Mitteln zu verhindern. Eine Friedenslösung sieht anders aus. Doch um Vermittlung geht es Nato-Staaten offensichtlich nicht mehr. Sie sehen mittlerweile eine erneute Militärintervention für unausweichlich an, um das Land in ihrem Sinne zu stabilisieren. Um dafür wieder ein legales Mäntelchen zu bekommen, benötigen sie eine international formell anerkannte Regierung, die sie anschließend zur Intervention einlädt. Die Lage droht dadurch jedoch erneut zu eskalieren.

Wie in Afghanistan und Irak ist die „humanitäre Intervention“ in Libyen somit nicht nur desaströs sondern faktisch auch endlos.
 
[1] Volker Lehmann, Robert Schütte, Die Zukunft der "Responsibility to Protect" nach dem Fall Gaddafis, FES,
Oktober 2011
[7]  Zum Putsch-Charakter des Aufstandes in Libyen und die frühe Intervention von außen siehe auch August Pradetto, „Intervention westlicher Demokratien in Libyen – zwischen Regimewechsel und ‚Responsibility to Protect‘“ in Studien zur Internationalen Politik Heft 1-2012 
[9]Hintergründe des bewaffneten Angriffs auf Libyen“ ‒ Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dağdelen u.a. (BT- Drs. 17/5409), 26. 04. 2011, BT- Drs. 17/5666,
Kamil Majchrzak, Kriegslügen und die Erosion des Völkerrechts, Telepolis, 29.04.2011
[10] Reinhard Mutz, Libyen: Lizenz zum Töten? Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni 2011
[11] J. Guilliard, Wie eine humanitäre Intervention vorbereitet wird, junge Welt, 18.02.2012
[12] Julien Teil, Libya: The Humanitarian War. There is no Evidence, The Humanitarian War / Global Research, 15.10.2011, Libyan in(ter)vention: False facts fatal for Gaddafi, RT; 2.12.2011, Mahdi Darius Nazemroaya, Libya and the Big Lie: Using Human Rights Organizations to Launch Wars, Global Research, 29.9.2011
[13] "Es fand eine regelrechte Jagd auf Migranten statt", Amnesty-Krisenbeauftragte Donatella Rovera über afrikanische Söldner, Viagra für libysche Soldaten und Muammar Gaddafis Kriegsverbrechen, Standard, 6. Juli 2011
[14] The Top Ten Myths in the War Against Libya, Maximilian Forte, CounterPunch, 31.8.2011
[15] Prof. Dr. Reinhard Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen – Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 10/2011
[16]  False pretense for war in Libya?, The Boston Globe, 14.4.11
[18] J. Guilliard, Drehbuch einer "humanitären Intervention",  junge Welt, 18.02.2012
[19] Zum völkerrechtswidrigen Charakter der Resolution, siehe u.a. Reinhard Merkel, Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim, FAZ, 22.3.2011 und August Pradetto, Der andere Preis der Freiheit ‒ Intervention in Libyen: zwischen Regimewechsel und humanitärem Anspruch, Internationale Politik, Juli/August 2011
[20] Alan Kuperman, Lessons from Libya: How Not to Intervene, Belfer Center for Science and International Affairs, Harvard Kennedy School, September 2013
[21] Harald Neuber, Mehrheit Lateinamerikas gegen Libyen-Krieg, amerika21.de, 21.3.2011
[22] Brad Hoff, Hillary Emails Reveal True Motive for Libya Intervention, Foreign Policy Journal, 6.1.2016 und Ellen Brown, Exposing the Libyan Agenda: a Closer Look at Hillary’s Emails, Counterpunch, 15.3.2016
[23] Alle wollen Libyens Öl, ZEIT online, 6.5.2009, siehe auch Energy profile of Libya, Encyclopedia of Earth , 25.8.2008
[26] J. Guilliard, Der Fall von Tripolis, NATO-Bomben, Elitetruppen und der Kampf an der Propagandafront: Wie die libysche Hauptstadt eingenommen wurde, 30.08.2011
[28] Rush for Libya goldmine as £200bn comes up for grabs, London Evening Standard, 21.11.2011
[29] Die NATO behauptete allen Ernstes, sie hätte keine eigenen Untersuchungen zu den zivilen Opfern in Libyen durchführen, da sie nach dem Ende des Einsatzes kein Mandat gehabt habee, um auf libyschen Boden zu operieren. (NATO: Zivile Opfer in Libyen untersuchen, Humans Rights Watch, 14.5.2012
[31] Nick Turse, America’s Secret Air War in Iraq, Tomdisptch.com, sowie die Zahlen für CAS („Close air support“) in den Statistiken der U.S. Air Force 2005-2010, WIRED, Sept. 2010, (http://www.wired.com/images_blogs/dangerroom/2010/09/OIF-Wrap.pdf )
[33] Patrick Haimzadeh, Libyen – der zweite Bürgerkrieg, Le Monde diplomatique, 09.04.2015
[34] Patrick Haimzadeh, a.a.O.
[35] Divided We Stand: Libya’s Enduring Conflicts, International Crisis Group, 14.9.2012, S.9
[36] s. u.a. World Report 2015: Libya, HRW, Januar 2015 sowie den jüngsten Bericht: Libyen: Willkürhaft auf Dauer, HRW, 2.12.2015
[37] In Libya, Political Unity Starts With Oil, Stratfor, 15.1.2016, Oil Output down to 300,000 bpd, Libya Business News, 06 October 2015
[38] UN claims 1 million will need aid in Libya, Associated Press, 7.3.2011, Migrant Workers in Libya, Foreign Policy In Focus, 23.3.2011
[39] Flüchtlingspolitik der EU: Libyen wird zur tödlichen Falle für Flüchtlinge, Amnesty International, 11.5.2015, Libyen: Ausgepeitscht, geschlagen und an Bäumen aufgehängt, Migranten und Asylsuchende berichten von Folter und anderen Misshandlungen in Auffanglagern, HRW, 23.6. 2014
[40] Alan Kuperman, Lessons from Libya: How Not to Intervene, Belfer Center for Science and International Affairs, Harvard Kennedy School, September 2013

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