Irak: Proteste weiten sich aus

Update: Der Text erschien gekürzt in junge Welt, 04.03.2011 (Iraker begehren auf: Proteste im Zweistromland gegen Versorgungsmängel, Korruption und Besatzer. Widerstand kaum von westlichen Medien beachtet)

Beim International Action Center (New York) findet man eine englische Übersetzung davon. Weitere bei Tlaxcala (www.tlaxcala-int.org): FrançaisEspañol Türkçe فارسی

Siehe auch: Zornige Proteste auch im kurdischen Teil Iraks
Auch im Irak hat sich in den letzten Wochen eine massive Protestbewegung ausgebreitet. Im Unterschied zu den Protesten in anderen arabischen Ländern, wird darüber kaum berichtet. Allein am letzten Freitag gab es bei landesweiten Demonstrationen laut UPI mindestens 29 Tote. Neben junge Welt gehörten tageschau online und die Deutsche Welle zu den wenigen deutschen Medien die darüber berichteten, allerdings nicht sehr ausführlich.

Neu sind solche Protestaktionen im Irak nicht. Bereits im Sommer gab es zahlreiche große, wütende Demonstrationen gegen die mangelnde Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser sowie die ungeheuerliche Korruption.
Mit dieser, von der unmittelbaren Not und der Wut über spezifische Missstände gespeisten Protestbewegung, auch hier vor allem von jungen AktivistInnen getragen, sind die Politiker in der „Grünen Zone“ und die US-amerikanischen Drahtzieher in ihrer Botschaftsfestung mit einem zusätzlichen Widerstand konfrontiert, der sie bereits erheblich unter Druck setzt.

Das BRussel Tribunal hat einen Appell lanziert, diese Proteste zu unterstützen: "Support Iraqi protests!"
Das Regime reagiert entsprechend brutal, über 40 Demonstranten und Journalisten wurden dieses Jahr bereits getötet. Schon bei den ersten Demonstrationen Anfang Februar, wurden in der südirakischen Provinz Diwaniya mehrere Demonstranten durch Schüsse schwer verletzt, mindesten einer tödlich. In Kut setzte ein paar Tage später eine wütende Menge drei Regierungsgebäude in Brand, nachdem mehrere Demonstranten angeschossen worden waren. (IOCs calm amidst Iraqi protests, Iraq Oil Report, 23.2. 2011)

Dennoch breiteten sich die Proteste auf praktisch alle größeren und viele kleineren Städte in ganz Irak aus – einschließlich des kurdischen Nordens. (siehe z.B. (mit Bildern) Protests Spread To Twelve Of Iraq’s Eighteen Provinces, Musings on Iraq, 14.2.2011)

General Abdul-Aziz Al-Kubaisi, Chef der Personalabteilung im Verteidigungsministerium, trat aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Regierungskräfte zurück, riss sich in einer Sendung des Al Sharquiya Satelliten-Fernsehen, vor laufender Kamera seine Rangabzeichen ab. Er erklärte die aktuelle Regierung sei korrupt von der obersten Spitze bis nach unten und sagte den politischen Führern dasselbe Schicksal wie Ben-Ali und Mubarak voraus. Er wurde umgehend verhaftet, dennoch folgten einige Offiziere seinem Aufruf die Armee zu verlassen und sich der Protestbewegung anzuschließen.
Festgenommen wurde auch Muntadhar al-Zaidi, der Journalist der durch seinen Schuhwurf auf US-Präsident Bush berühmt wurde.

Wie in den anderen Ländern fachte die Repression die Proteste nur noch weiter an. Vielerorts stürmten nun wütende Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeiwachen und forderten die Absetzung der lokalen Autoritäten oder der Provinzregierung. Proteste richteten sich auch gegen willkürliche Festnahmen und die Misshandlung von Inhaftierten, verbunden mit der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und Zugang zu den Geheimgefängnissen von Malikis Sondereinheiten. Die Demonstrationen wurden von mehreren Streiks begleitet, so z.B. in der Lederindustrie in Bagdad und in einer Textilfabrik in Kut. Arbeiterproteste gab es u.a. auch in der Northern Oil Company in Kirkuk und den Elektrizitätswerken in Basra.

Für Freitag 25.2. war schließlich zum ersten Mal landesweit zu einem Tag des Zorns, bzw. zur „Revolution des irakischen Zorns“ aufgerufen worden. Die Maliki-Regierung unternahm alles, um größere Demonstrationen zu verhindern. Maliki warnte persönlich alle Iraker massiv vor einer Teilnahme, dies Demonstrationen würden die „Terroristen unterstützen“. Mit der Drohung, baathistische Attentäter könnten in die Menge feuern, bereitete er auch schon die Ausreden für Übergriffe der massenhaft aufgebotenen Polizei, Armee und regierungsnahe Milizen vor.

Die nächtliche Ausgangsperre war kurzerhand in den Tag hinein verlängert worden. In Bagdad herrschte den ganzen Freitag über striktes Fahrverbot, auch Fahrräder oder Übertragungswagen von Medien waren verboten. Zahlreiche Zugangsstraßen waren gesperrt, andere gesäumt von Humvees und Soldaten. Auf den Dächern hatten Scharfschützen Stellung bezogen. Muqada al Sadr, dessen Sadr-Bewegung schon häufig Hundertausende aus den armen schiitischen Vierteln der Hauptstadt auf die Straße brachte, hatte seine Anhänger diesmal aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Seine Bewegung ist mit sechs Ministern im neuen Kabinett vertreten.

Dennoch kamen nach offiziellen Angaben 5.000 zum Bagdader Tahrir Platz, den Bilder zufolge waren es wesentlich mehr, die nach Kilometer langen Anmärschen versuchten in die stark gesicherte „Grüne Zone“ einzudringen. (siehe Bilder unter al-nnas.com/baghdad.htm )
Ein AP Video von diesem Freitag zeigt, wie Demonstranten unterwegs die verhaßten Mauern aus Fertigbetonteilen einreißen, die Bagdad als Teil der US-amerikanischen Aufstandsbekämpfung in eine Vielzahl ummauerter Enklaven unterteilte.

In anderen Städten waren die Demonstrationen mit weniger martialischer Gegenwehr konfrontiert und wesentlich erfolgreicher. Die Teilnahmerzahlen in den Medien erscheinen allerdings meist viel zu niedrig.
In Basra z.B. durchbrachen gut 10.000 Demonstranten die Betonbarrieren und stürmten vor den Sitz der Provinzregierung. Der Gouverneur erfüllte gab ihren Forderungen nach und trat zurück.

An anderen Orten ging es, meist nach vorangegangen Brutalitäten der Regierungskräfte, noch heftiger zu. Wütende Demonstranten stürmten in Kirkuk eine Polizeistation, setzten in Mosul und Falludscha Büros der Provinzregierung in Brand und rüttelten auch in Tikrit an den Pforten. Die Washingtoner Post berichtete am Freitagabend von 23 getöteten Demonstranten – mit sehr viel Verständnis für die Regierungskräfte (23 killed in Iraq's 'Day of Rage' protests, 25.2.2011). Laut UPI vom Sonntag waren es mindestens 29 Tote, Hunderte Verletzte und 300 Festnahmen. (At least 29 dead in Iraq protests, 27.2.2011)

Der Sonderbeauftragte der UNO für den Irak Ad Melkert kritisierte daraufhin zum ersten Mal in einer Erklärung heute die "unverhältnismäßige" Anwendung von Gewalt durch die Regierungskräfte gegen Demonstranten.

Übel erging es auch vielen Journalisten. Viele wurden geschlagen, eine ganze Reihe auch festgenommen und gefoltert. (Wamith Al-Kassab (Iraq), Freedom of expression worst days in Iraq, 27.2.2011 und Iraq 'Day of Rage' protests followed by detentions, beatings, WaPo, 26.2.2011). Medien, die über die Proteste berichteten, waren auch schon zuvor mit staatlicher Repression konfrontiert.

Ungeachtet dessen zeigen die Proteste bereits Wirkung. Die monatlichen Nahrungsmittelhilfen kamen diesen Monat pünktlich, zusätzlich bekommt jeder Haushalt umgerechnet 12 Dollar als Entschädigung für die Kürzung der Rationen. Die ersten 1000 Kilowattstunden Strom in jedem Monat sollen künftig für alle Haushalte gratis sein.

Die Gouverneure dreier Provinzen (alle aus Mailiks Dawa-Partei) denen Unfähigkeit, Korruption etc. vorgeworfen wurde, traten zurück. Die Gouverneure dreier Provinzen (alle aus Mailiks Dawa-Partei) denen Unfähigkeit, Korruption etc. vorgeworfen wurde, traten zurück. Vermutlich wird es vorgezogene Neuwahlen der Provinzregierungen geben, deren Unfähigkeit und Korruption ganz oben in der Kritik stehen. (Analysis: Protests alter political landscape, Iraq Oil Report, 28.2.2011).
Maliki möchte gerne diese als Sündenböcke präsentieren, da seine neue Regierung ja erst ein paar Wochen im Amt ist. Großspurig kündigte er zudem an, die Performanz der neuen Minister nach 100 Tagen zu überprüfen.
Die Iraker hatten allerdings schon zu lange Gelegenheit seine Arbeit und die vieler im Kabinett verbliebenen Gestalten zu begutachten, als dass er irgendwelchen Kredit zu erwarten hätte. Ob es ihm viel nützen wird, nun sein Salär, das auf bis zu 700.000 Dollar jährlich geschätzt wird, zu halbieren, darf man bezweifeln.

Auch wenn die unmittelbaren Missstände im Vordergrund stehen, gehen die Forderungen Vieler darüber hinaus. Die Proteste richten sich selbstverständlich auch, wie u.a. Reidar Visser feststellte, gegen die Besatzung, die Mauern die die Städte teilen, das gesamte ethno-konfessionelle Regime, das mit der Besatzung eingeführt wurde etc.

Die Forderungen von „The Iraqi Revolution“ z.B., die zu den Organisatoren des Tags des Zorns gehört, lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auf ihre Facebook-Seite ist eine englische Übersetzung „The Iraqi Revolution: “OUR DEMANDS”, 27.2.2011 Ihre Homepage http://iraqi-revolution.com ist (Stand 1.3.2011) "suspended“.

Mehr dazu in dieser Auswahl von Meldungen irakischer Medien sowie in einer Zusammenstellung irakischer Statements von Dirk Adriaensens (BRussels Tribunal), What you won’t read in the mainstream press regarding Iraq’s “National Day of Rage”, 25.2.2011

Eine immer wieder aktualisierte Liste von Meldungen, Videos, Blogger-Berichten etc. über die Proteste im Irak findet man auch auf einer Irak-News-Seite von WL Central (WikiLeaks news, analysis and action)
Über die Proteste in Sulaimaniyya berichtet täglich mit vielen Bildern der dort lebende Blogger Karzan Kardozi in seinem Blog The Moving Silent

Nachtrag:

Die getöteten Demonstranten sind nicht die einzigen Opfer der Repression. Andere verbergen sich in der großen Zahl von politischen Morden oder bei Razzien getöteten, angeblichen „Aufständischen“. Laut der von Iraqi Body Count ausgewerteten Medien wurden im Januar insgesamt 388 und im Februar 254 Zivilpersonen getötet, die tatsächlichen Zahlen betragen erfahrungsgemäß das Mehrfache. Tote die als „Aufständische“ charakterisiert werden, nicht mitgezählt.

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