Kurden im Zwielicht: Die türkische Aggression gegen Afrin und die Problematik der Solidarität mit den syrischen Kurden

 
(Der Beitrag erschien, etwas aktualisiert und überarbeitet, auch bei Rubikon.)

Der Einmarsch türkischer Truppen und dschihadistischen Milizen im Norden Syriens ist zweifelsohne ein verbrecherischer Angriff, der scharf zu verurteilen ist. Proteste gegen die üble, zum guten Teil mit deutschen Waffen durchgeführte Aggression sind daher selbstverständlich angebracht.

Doch warum nur hier? Offensichtlich misst ein Großteil der Linken und der Friedensbewegung bei ihrer Solidarität mit angegriffenen Bevölkerungsgruppen mit zweierlei Maß. Sind kurdisch kontrollierte Gebiete von Angriffen betroffen, gibt es stets einen Aufschrei, werden jedoch nicht-kurdische Dörfer und Städte in Syrien von Kämpfern des selben Schlags attackiert, die nun an der Seite der türkischen Truppen einrücken, dann schert sich kaum jemand darum. Verdienen Assyrer, Drusen, Araber etc. keine Solidarität, wenn ihre Dörfer von islamistischen Milizen verwüstet werden? Wo bleibt der breite Protest gegen das westl. Embargo, das von Deutschland mitgetragen wird und für die gesamte Bevölkerung verheerend ist?
 
Problematisch ist auch die Idealisierung der syrisch-kurdischen Organisationen. So wird oft behauptet, dass ihre Milizen die effektivsten und aufopferungsvollsten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ seien. Auch wenn man ihre Verdienste dabei anerkennt, sollte man nicht übersehen, dass es die syrische Armee ist, die von Anfang an die Hauptlast des Krieges gegen all die dschihadistischen Milizen, von Ahrar al Sham über die Al Nusra Front bis zum IS trug. Und der Kampf gegen den IS im Osten wäre effektiver gewesen, hätte die YPG nicht gemeinsam mit der US-Luftwaffe die syrische Armee daran gehindert, in Raqqa und Umgebung gegen den IS vorzugehen, statt die eigenen Kräfte mit ihr zu vereinen.

Die türkische Aggression hätte vermutlich verhindert werden können, wenn die PKK-nahen syrisch-kurdischen Organisationen auf die Vermittlungsvorschläge von russischer Seite eingegangen wären, die sich intensiv um eine politische Lösung bemüht hatte. Diese beinhalteten die Übernahme der Sicherung der Grenze von Afrin zur Türkei durch syrische und russische Truppen. Die türkische Regierung hätte sich wohl damit zufrieden gegeben. (siehe dazu u.a. die Ausführungen von Karin Leukefeld und Rainer Rupp zur türkischen Offensive in Syrien)

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) hätten durchaus weiter den Rest der Provinz kontrollieren dürfen (die Kurden somit weiterhin mit Zustimmung der syrischen Regierung eine Teil-Autonomie behalten können). Allerdings sollten sie die besetzten Ölquellen in Ostsyrien räumen und sich nicht an den von den USA geplanten "Grenzschutztruppen" beteiligen, die nicht nur von der Türkei als Hauptgrund für ihr Vorgehen genannt werden, sondern auch von der syrischen und russischen Regierung als Plan zur Teilung des Landes angesehen werden.

Die YPG-Führung hat aber, wie schon im Sommer 2017 das Angebot einer Unterstützung durch die syrische Armee abgelehnt und getönt: „Wir haben das nicht akzeptiert, und wir werden unsere Territorien nicht aufgeben. Wir werden alle unsere Gebiete verteidigen.“ (Karin Leukefeld, "Abrechnung mit NATO-Partner USA", RT, 22.01.2018)
Entgegen ihrer bisherigen Verlautbarungen, sich nicht abtrennen zu wollen, strebt sie nun offensichtlich doch mit US-Hilfe die Unabhängigkeit an.

Es ist daher unlauter, wenn nun der russischen Regierung vorgeworfen wird, sie hätten die Kurden im Stich gelassen. Es kann doch niemand erwarten, dass sich russische Streitkräfte unter diesen Umständen den türkischen Truppen entgegenstellen und damit faktisch in einen Krieg mit einem NATO-Staat eintreten.

Unter Führung von US-Militärs haben die im wesentlich aus kurdischen Kampfverbänden bestehenden „syrischen demokratischen Kräfte“ (SDF) nicht nur die IS-Hochburg Raqqa erobert, sondern sind anschließend weiter bis an die südöstliche Grenze zum Irak vorgestoßen und trieben so einen Keil zwischen die syrische Armee und die noch vom IS besetzten Gebiete. Nahezu der gesamte Osten Syriens wird nun von der YPG und den US-Streitkräften mit ihrer Luftstreitmacht und mindestens 2.0000 Mann starke Spezialeinheiten am Boden kontrolliert. Die USA, die in Syrien zusammen mit ihren NATO-Partnern unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts agieren, haben auf diesem Territorium bereits mindestens zwölf Militärstützpunkte eingerichtet und bauen eifrig weitere auf. Hier befinden sich nicht nur die Kornkammer und die bedeutendsten Ölressourcen des Landes, von hier aus wird auch die Wasserversorgung Nordostsyriens kontrolliert. 14 Dämme entlang des Euphrat und seiner Nebenflüsse stehen nun unter kurdischer bzw. US-amerikanischer Kontrolle.

Zur Absicherung dieses Gebiets will Washington eine 30.000 Mann starke „Syrische Grenzschutztruppe“ ( Syrian Border Security Force, BSF) unter SDK-Führung aufbauen, die sowohl an den Grenzen zur Türkei und dem Irak stationiert werden soll, als auch entlang des Euphrats, zwischen dem von den USA und der YPG kontrollierten (überwiegend nicht kurdischem) Gebiete im Osten und dem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet westlich des Euphrats. (siehe Coalition retraining 15,000 veteran SDF fighters to serve as Syrian border force - 30,000-strong force to maintain security along Iraq, Turkey and internal borders, The Defense Post, 13.1.2018 und Syria war: Turkey denounces US 'terror army' plan for border security force, BBC, 15 1.2018)

Gleichzeitig machte US-Außenminister Rex Tillerson in einer Rede in der Stanford University klar, dass die USA mit ihren Truppen auf unbestimmte Zeit präsent bleiben, mit anderen Worten, weite Teile Syriens militärisch besetzen, wollen.

"Faktisch garantieren die USA damit die Existenz eines permanenten kurdischen Kleinstaates unter US-Schutz", so der renommierte Nahost-Korrespondent des Independent, Patrick Cockburn.

Seine Regierung wolle damit nicht nur den Sieg über den Islamischen Staat sichern, so Tillerson, sondern verhindern, dass "Assad" wieder die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium erringen könne. Sie würden nun dort, wo sie präsent sind, für den Aufbau einer "legitimer lokalen Zivilverwaltung" sorgen, die eine verantwortungsvolle Regierungsgewalt über die befreiten Gebiete" ausüben. (Tillerson: Remarks on the Way Forward for the United States Regarding Syria, US State Department, 17.1.2018)

Die militärische Lage in Syrien im Januar 2018.
(Grafik: Stratfor, Quelle: Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 18.01.2018)

Die "kurdischen Volksver-teidigungseinheiten" haben sich somit nicht nur zu Bodentruppen der USA machen lassen, sondern unterstützten faktisch die Besatzung des Nordosten Syriens durch eine ausländische Macht und  stellen sich damit gegen den Rest der syrischen Bevölkerung.

Da Ankara stets betonte, keine YPG-Einheiten westlich des Euphrats dulden zu wollen und Washington auf die Partnerschaft mit der Türkei nicht verzichten kann, war es töricht von ihnen, auf eine Verteidigung ihrer Unabhängigkeit in Afrin durch die USA als Gegenleistung zu hoffen. Unterstützung werden sie auch weiterhin nur dort und so lange erhalten, wie es Washington nützlich erscheint. Und die US-Regierung balanciert in ihrer Bündnispolitik zwischen Ankara und den YPG auf einem dünnen Draht.

Es ist in diesem Zusammenhang auch falsch, wenn oft von "den syrischen Kurden" gesprochen wird. Wie selbst der langjährige Unterstützer des kurdischen Unabhängigkeitsbestrebens, Joost Hilterman von der International Crisis Group schreibt, ist auch ein erheblicher Teil der syrischen Kurden nicht damit einverstanden, einer ziemlich rigiden Herrschaft von PKK-nahen Kadern unterworfen zu sein, die ihre Politik mehr an PKK-Chef Öcalan ausrichten, als an den örtlichen Befindlichkeiten und sie durch das Bündnis mit den USA in eine gefährliche Lage gebracht haben. Er empfiehlt der YPG-Führung, die Zusammenarbeit mit den USA zurückzufahren und die Kontrolle über nicht-kurdischen Gebiete aufzugeben, sowie sich auf den Aufbau einer lebensfähigen Autonomie -- in Zusammenarbeit mit lokalen Parteien und im Rahmen des syrischen Staates -- zu konzentrieren.  (Joost Hiltermann, Maria Fantappie, Twilight
of the Kurds
- Kurdish officials once dreamed of forging their own state out of the ashes of the war against the Islamic State. Now they are fighting for their very survival, Foreign Policy 16.1.2018)

Vielleicht bringt der türkische Angriff auf Afrin ein Umdenken. Medienberichten zufolge könnten die YPG nun doch der syrischen Regierung die Verantwortung für die Verteidigung der Enklave überlassen und die syrische Armee zur türkischen Grenze - zwischen die eigenen und türkischen Truppen - vorstoßen lassen. (Possible understanding between Syrian gov't, Kurdish forces can help end Turkish attack on Afrin, Xinhua, 22.1.2018)

Siehe auch:
Robert Fisk, The Next Kurdish War Looms on the Horizon, Independent/Counterpunch, 19.1.2018

Patrick Cockburn, By reversing its policy in Syria the US is fuelling more wars in the Middle East, Independent, 26.1.2018

Mike Whitney, Trump’s Plan B for Syria: Occupation and Intimidation, Counterpunch, 19.1.2018

Anton Mardasov, Russia’s role in Turkish incursion into Syria is tricky, Al Monitor, 24.1.2018

Karin Leukefeld, Neue Runde im »großen Spiel«, junge Welt, 26.01.2018

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