Irak-Wahlen 2010 III - Ausschluß von Regierungsgegner als letzte Rettung

Die am 7. März stattfindenden Parlamentswahlen werden der vierte landesweite Urnengang seit Kriegsbeginn sein. Die Erfahrung mit den bisherigen sei für die Iraker sehr durchwachsen gewesen, meint die transatlantische Denkfabrik International Crisis Group (ICG) in ihrer aktuellen Analyse zu den Wahlen im März.(Iraq’s Uncertain Future: Elections and Beyond, ICG, 25.2.2010) Dies ist äußerst milde ausgedrückt: Tatsächlich waren alle geprägt von Repression, Wählereinschüchterung und massivem Wahlbetrug.

Durch die spärliche und einseitge Berichterstattung erscheint vielen der Irak nun auf dem Weg zur Normalität. Die neue Wahlen gelten dabei als letzter entscheidender Schritt für die Konsolidierung der von den USA angestrebten Nachkriegsordnung. Tatsächlich demonstrierten sie bereits im Vorfeld die Brüchigkeit des von den USA installierten Regimes. (siehe auch Irak – ein Jahr unter Obama)
Streit um das Wahlgesetz, der Ausschluß von Regierungsgegner, Repression und Mordanschläge gegen Oppositionelle etc.. haben nicht nur längst die Glaubwürdigkeit des Urnengangs demontiert, sie bieten auch eine Menge Zündstoff für die Zeit danach. Damit kommen die Besatzer, die mehr Truppen aus dem Irak nach Afghanistan verlegen wollen, ziemlich in der Zwickmühle.
 
Nachfolgenden ein Überblick über
- den Auschluß der Regierungsgegner
- Wahlmanipulation als letzter Ausweg
- "De-Baathisierung" – zwei Fliegen mit einer Klappe
- "Wie in Afghanistan: Wahlen um jeden Preis"
- "Die Iraker haben schon verloren"
- Besatzer in der Zwickmühle

Regierungsgegner ausgeschlossen

Die jetzigen Wahlen begannen gleich mit einem Eklat: Mitte Januar verkündete die „Irakische unabhängige Wahlkommission“ (IHEC) den Ausschluss von 511 Kandidaten und 15 Parteien wegen angeblicher Nähe zur verbotenen Baath-Partei. Unter den Betroffenen sind viele führende Persönlichkeiten der Opposition, darunter auch die prominenten Politiker Salih Al-Mutlak und Zafer Al-Ani von der säkularen, nationalistischen Wahlallianz al-Iraqia (Einen Überblick über den Ablauf des Coups gibt Joel Wings Timeline).
"Unter normalen Umständen würde dies schon genügen, um die Wahlen zu diskreditieren", so die ICG.

Initiiert wurde der Bann vom „Komitee für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht“, das noch auf die Ent-Baathifizierungs-Verordnung des einstigen US-Statthalters im Irak, Paul Bremer zurückgeht. Dieses sollte für die Säuberung aller öffentlichen Einrichtungen, Staatsbetriebe etc. von Funktionären der Baath-Partei sorgen. Dies wurde in der Praxis allerdings sehr selektiv gehandhabt: falls sie ins Lager der schiitischen Parteien wechselten, blieben selbst hochrangige Kader unbehelligt.
2008 verabschiedete das Parlament dafür zwar ein eigenes Gesetz, konnte sich aber nicht über die Zusammensetzung des neuen Komitees einigen. So führten der von Bremer eingesetzte einstige Liebling der Neokonservativen, Ahmed Chalabi und sein Kumpan Ali al-Lami ihre Geschäfte einfacher weiter, sie „kidnappten“ es, wie sich der, über das Störfeuer erboste Kommandeur der US-Streitkräfte im Mittleren Osten, David Petraeus ausdrückte.

Obwohl Chalabis Komitee ohne Rechtsgrundlage operiert, erkannte die Wahlkommission dessen Entscheidung ohne weiteres an. Die Vorwürfe selbst blieben geheim. In der Regel handelt es um einfache Mitgliedschaften in der Baath-Partei, die früher für viele Ämter zwingend war. Salih al-Mutlak hat aber z.B. die Baath-Partei schon 1977 verlassen.

Über die Hintergründe muß man nicht rätseln: Chalabi und al-Lami sind gleichzeitig auch Spitzenkandidaten der schiitischen Allianz, INA und die Mitglieder der IHEC stehen ebenfalls ausnahmslos den Regierungspartien nahe. Die beiden Drahtzieher stehen außerdem im Ruf, in vielfältige kriminelle Machenschaften verstrickt zu sein, al-Lami gilt zudem als Führer schiitischer Todesschwadrone, der "Liga der Gerechten".

Die US-Regierung setzte alle Hebel in Bewegung, um diese allzu plumpe Ausschaltung aussichtsreicher Gegner wieder rückgängig machen, blieb jedoch erfolglos. Der zur Überprüfung der Fälle eingesetzte Appellation-Ausschuss wollte zunächst den Einsprüchen der Ausgeschlossenen stattgeben, revidierte seine Entscheidung jedoch aufgrund massiven Drucks von Maliki eine Woche später wieder. Nur knapp 50 Kandidaten wurden am Ende doch noch zugelassen.

Im Falle der Nationalen Front al-Mutlaks blieb praktisch die gesamte Partei ausgeschlossen, immerhin die fünftstärkste Fraktion im aktuellen Parlament. Ihm selbst droht Gefängnis, da er bewaffnete Widerstandsgruppen finanziell unterstützt haben soll. Es lägen Geständnisse von Gefangenen vor, die dies belegen würden. Tatsächlich wurden vor einigen Monaten mehrere seiner Leibwächter festgenommen. Der Verdacht Mutlaks, dass sie oder andere Gefangene durch Folter zu belastenden Aussagen gezwungen wurden, liegt nahe.

Wahlmanipulation als letzter Ausweg

In den Medien war schnell wieder vom Aufleben konfessioneller Konflikte die Rede. Tatsächlich zeigt die Liste der Ausgeschlossenen deutlich, dass überwiegend säkulare, nationalistische Politiker aller Konfessionen betroffen sind, neben 72 Kandidaten der al-Irakia z.B. auch 67 von der „Allianz für die irakische Einheit“ des Innenministers Bolani. Und, auch wenn die Initiative von Chalabi, der mittlerweile eng mit Teheran liiert ist, und der schiitischen Einheitsliste ausging, so wurde der Ausschluss von Maliki sofort unterstützt – zum Entsetzen Washingtons und westlicher Beobachter, die eine staatsmännische Haltung ihres Hoffnungsträgers erwartet hatten.

Seine Partei hat in den von ihr kontrollierten Provinzen nun sogar eigene Ent-Baathifizierungs-Komitees gegründet, um auf lokaler Ebene missliebige Politiker und Beamte aus den Ämtern werfen zu können. So nützte es dem prominenten Irakia-Kandidat von Babel, Iskandar Witwit, nichts, dass er zu den Wenigen gehört, deren Ausschluss vom Gericht aufgehoben wurde – er wurde dennoch seines Amtes als Vizegouverneur enthoben, alle seine Anordnungen wurden annulliert.

Die schiitischen Regierungsparteien sind sich des schlechten Bildes, das sie international abgeben, sicherlich bewußt. Doch sie hatten, angesichts schwindender Wahlchancen, schlicht Panik bekommen, vermutet der ehemalige irakische Botschafter bei der UNO, Feisal al-Istrabadi. In der Tat deuten u.a. Meinungsumfragen der britischen und amerikanischen Botschaft darauf hin, dass al-Irakia die Wahlen gewinnen und somit Allawi Regierungschef werden könnte. (Robert Dreyfuss, Iraq's New Sectarian Storm Clouds, The Nation, 18.2.2010) Die USA zeigen ihrem früheren Favoriten bei dessen Werbetour zwar die kalte Schulter, dafür konnte er sich die Unterstützung der arabischen Nachbarländer sichern, die im Irak ebenfalls nicht ohne Einfluss sind.

Schon die Provinzwahlen im Januar letzten Jahres waren eine bedrohliche Warnung für die Regierungspartien gewesen. Diese zeigten sehr deutlich, wie überdrüssig die meisten Iraker der sektiererischen Politik Turban tragender Politiker waren und wie empört über deren miserable Leistungen, ihrer Unfähigkeit und Korruption. Sie zeigten ein klares Votum für einen einheitlichen, zentralen Staat und, wie auch die ICG konstatierte die Wiederbelebung der alten irakischen nationalen Identität. Die Ergebnis hätten ihnen gezeigt, so Sadeq al-Rikabi, führender Berater Malikis, dass die Mehrheit der Iraker einen starken, demokratischen und vereinigten Irak wollen, mit einer starken, nicht-religiösen Zentralregierung, die integer ist und staatlich Dienstleistungen ausbaut.
Zwar hatte vor allem der ISCI massiv an Stimmen verloren. Letztlich waren aber in allen Provinzen die Parteien abgestraft worden, die sie bis dahin regierten. Maliki hatte in den meisten Provinzen im Süden gut abgeschnitten, hatte aber auch nur in Kerbela die Provinzregierung gestellt. Dort verloren sie ebenfalls dramatisch. (siehe Besatzung abgewählt - Neue Koalitionen im Irak)

Maliki hatte sich durch sein neues Image etwas vom allgemeinen Trend absetzen können: vielen erschien er als neuer starker Mann, der für eine Verbesserung der Sicherheitslage sorgte, den Besatzern eine Abkommen über einen Rückzug abrang und gleichermaßen gegen die schiitische Bewegung al Sadrs und al-Qaeda wie auch die territoriale Ansprüche der Kurden vorgeht. Die landesweit erreichten 15% der Stimmen sind jedoch bei einer Wahlbeteiligung von 50% alles andere als ein sicheres Polster. Sah es zunächst noch so aus, als könnte er seine Position als Mann der Mitte ausbauen, so wurde sein Image im Herbst durch die Serie von verheerenden Anschlägen auf das stark gesicherte Zentrum Bagdads schwer erschüttert. Auch die immer noch katastrophale Versorgungslage wird ihm zunehmend persönlich angelastet.

"De-Baathisierung" – zwei Fliegen mit einer Klappe

Mit der De-Baathisierungskeule konnten schließlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Die schiitischen Parteien schossen damit nicht nur gewichtige Gegner aus dem Rennen, mit der dadurch angeheizten Debatte konnten unangenehmen Themen wie das Versagen bei Versorgung und Wiederaufbau, die ungeheure Korruption oder die mangelnde Sicherheit in den Hintergrund gedrängt werden. Säkularismus und arabischen Nationalismus wird dabei einfach mit „Baathismus“ gleichgesetzt. Bei einem guten Teil der schiitischen Bevölkerung konnten sie sich einer positiven Resonanz sicher sein, der Haß gegen den Baathismus ist hier noch weit verbreitet.

Die schiitischen Parteien tun seither alles, das Thema in den Schlagzeilen zu halten. Längst geht es nicht nur gegen Kandidaten. Chalabi und Maliki haben eine neue Hexenjagd gegen alle gestartet, die als zu arabisch-nationalistisch erscheinen. Mitte Februar kündigte al-Lami, die Entlassung von Hunderten Polizeibeamten und Armeeoffizieren an, denen bald Tausende folgen würden. Offiziere der US-Armee befürchten laut Washington Post, dass bei dieser Gelegenheit viele der von ihnen eingesetzten sunnitischen Offiziere durch pro-iranische ersetzt werden.
Auf der Abschlussliste sind u.a. auch 10 Professoren der Universität von Kerbela und zahlreiche führende Angestellte der South Oil Company. (Reidar Visser, The Secret Election Manifesto, 25.2.2010) Die Mitarbeiter des zentralen staatlichen Ölkonzerns, dem größten und wichtigsten Unternehmen des Landes, hatten sich in jüngster Zeit vehement gegen den Einstieg ausländischer Konzerne gestellt. Wie bei den frühen Ent-Baathifizierungs-Wellen sehen sich viele, die vor 2003 ein Amt innehatten oder Mitglied in der Baath-Partei waren, nicht nur der Gefahr ausgesetzt, aufgrund willkürlicher Vorwürfe den Job zu verlieren, sondern auch auf die Liste schiitischer Todesschwadrone zu geraten.

Die Repression gegen oppositionelle Kandidaten und gewählte Politiker begann allerdings nicht erst mit der neuen De-Baathisierungs-Kampagne, insbesondere in den mehrheitlich sunnitischen Provinzen ist dies schon lange Praxis. In Diyala z.B., wo sunnitische und säkulare Politiker diesmal die Mehrheit der Sitze im Provinzparlament erlangten, ergingen bald nach den Wahlen im letzten Januar, gegen ein Viertel aller Abgeordnete des Provinzparlaments Haftbefehle wegen angeblicher Kontakte zum Widerstand. Im Dezember hatten die von Maliki befehligten Spezialeinheiten bei mehrtätigen Razzien über 100 Personen aus ihren Häusern geschleppt und Anfang Februar wurde Najim al-Harbi, der Spitzendkandidat der stärksten sunnitischen Partei von Diyala und populärer Führer der mit den USA verbündeten Awakening-Miliz, festgenommen. (Iraqi Sunnis Pin Their Hopes on Elections, New York Times, 26.2.2010)

Bereits seit Dezember mehren sich Berichte von Anschläge auf Parteibüros und Kandidaten der Opposition, vor allem auf die von al-Iraqia und der nationalen Liste Al-Hadbaa (s. Wahlbündnisse) Robert Dreyfuss sprach mit Kandidaten, die sich nur in schwer bewaffneten Konvoys bewegen können und nicht wagen, auf öffentlichen Veranstaltungen zu sprechen. (Robert Dreyfuss, Violence on Eve of Iraq Vote, 3.3.2010) Zwei Kandidaten wurden so der britsche Telegraph bereits ermordet, andere schwer verwundet. Letzten Montag überlebte ein Kandidat der Iraqia-Allianz einen Bombenanschlag auf eines seiner Büros in Bagdad nur knapp.

An einen regulären Wahlkampf war daher für oppositionelle Gruppen ohnehin nie zu denken.

„Wie in Afghanistan: Wahlen um jeden Preis“

Al-Mutlak und andere Betroffene hatten zunächst einen Boykott der Wahlen angekündigt, die Ankündigung jedoch bald wieder zurückgenommen. Er wäre ihnen, wie der Wahlboykott der Sunniten 2005 nur auf die eigenen Füße gefallen. Auch 2005 gab es sehr gute Gründe dafür, die Wahlen unter Besatzungsbedingungen abzulehnen. Da sich die internationale Öffentlichkeit aber nicht um die Verweigerung eines Fünftels der Wählerschaft scherte, stellte ihr Boykott die Legitimität der Wahlen kein bisschen in Frage, beraubte sie jedoch ihrer Einflussmöglichkeiten im zunehmend wichtiger werdenden Parlament.

Auch diesmal braucht die Opposition auf internationale Unterstützung nicht zu hoffen, der Protest gegen die Wahlmanipulation im Vorfeld, blieb wie bei den früheren äußerst blass. Dabei geht es nicht nur um die fragwürde Praxis der Ent-Baathifizierung. Die Ereignisse stellen, wie auch die ICG feststellte, die Legitimität und Unabhängigkeit der irakischen Wahlkommission generell in Frage sowie deren Fähigkeit einen korrekten Ablauf der Wahlen zu garantieren. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Wahlen bereits jetzt dahin (und nebenbei auch die der irakischen Gerichte).

Doch „die USA wollen diese Wahlen um jeden Preis, egal ob gut oder schlecht, mit oder ohne Betrug, genauso wie mit Karzai in Afghanistan“, so der unabhängige kurdische Abgeordnete Mahmoud Othman erbittert gegenüber dem Team der ICG.

Die Glaubwürdigkeit ist für die USA und die EU offenbar von untergeordneter Bedeutung. Es werden diesmal nur ein paar hundert internationale Wahlbeobachter vor Ort sein, weniger noch als bei den vorangegangenen Wahlen – aufgrund fehlender finanzieller und fehlendem Interesse, so Raed Jarrar, ein in den USA lebender irakischer Politologe und Berater des American Friends Service Committee. (Raed Jarrar, A Military Coup in Iraq?, truthout, 4.3.2010) Selbst ein Appell von 28 US-Abgeordneten an die US-Regierung doch den einschlägigen NGOs ausreichende Mittel für unabhängige Wahlbeobachter zukommen lassen wurde ignoriert.
Dabei machen bereits viele Gerüchte über geplante Wahlmanipulationen die Runde. So äußerten sich die Groß-Ayatollahs in Nadschaf besorgt über Berichte von speziellen Tinten, die rasch wieder verblassen.
Die irakische Tageszeitung Azzaman berichtet, dass das gesamte Personal, dass in den Nachbarländer die Stimmzettel der Auslandsiraker in Empfang nehmen werden, ausschließlich aus den Reihen der Regierungsparteien rekrutiert wurde. Eine unabhängige Kontrolle, was mit den Stimmen der ca. 1,6 Mio. im Ausland lebenden Wahlberechtigten anschließend passiert, gibt es faktisch nicht.

„Die Iraker haben schon verloren“

Doch selbst wenn die Wahlen fair frei wären, bestünde wenig Hoffnung, dass sich dadurch etwas zum Besseren wenden würden.

Der in London lebende Verfassungsrechtler Zaid Al-Ali beantwortet die Frage, ob „die bevorstehende Wahl das Leben der durchschnittlichen irakischen Bevölkerung wirklich verändern“ in einem Artikel für die von der Bundesregierung finanzierten „Wirtschaftsplattform Irak“, mit einem klaren Nein:
„Betrachtet man die Art und Weise des Wahlkampfes der konkurrierenden Parteien und wie hier die dringenden Anliegen der Iraker diskutiert werden, und schaut man sich einmal genauer an, welche Personen zur Wahl stehen , dann ist die Antwort klar: Die Iraker werden gründlich scheitern in ihrem Bemühen, echte Veränderungen auf den Weg zu bringen.“ (Zaid Al-Ali, Eine weitere Wahlniederlage für das irakische Volk, WP-Irak, 04.03.2010)
Al-Ali, der von 2005 bis 2009 für das Entwicklungsprogramm der UNO (UNDP) im Libanon und bis Oktober 2009 als Rechtsberater der Mission der Vereinten Nationen zur Unterstützung des Iraks (UNAMI) tätig hat den Wahlkampf im Irak wie auch die Stimmung in der Bevölkerung aufmerksam beobachtet.
Eine inhaltliche Debatte gibt es nicht und die Wahlkampfaussagen der Parteien unterscheiden, sich kaum. Den meisten Parteien bleibt so al-Ali auch gar nichts anderes übrig, als in Allgemeinplätzen zu verharren, wollen sie auf der politischen Bühne mitspielen: Über nichts gibt es in der irakischen Bevölkerung größeren Konsens als darüber, was der Staat leisten sollte und was in den letzten Jahren schief gelaufen ist.
Die Iraker hätten – möglicherweise wegen der vorherigen „sozialistischen Herrschaft“ vielleicht auch wegen des islamischen Einflusses der letzten Jahre „eine starke soziale Neigung entwickelt,“ so Al-Ali.
„Ginge es nach dem irakischen Volk, so sollten Schulen, Universitäten, die Gesundheitsversorgung und generell öffentlichen Dienstleistungen für alle Bürger frei zugänglich sein; Ärzte und Lehrer sollten Beamte und der Staat der größte Arbeitgeber im Land sein; zwar sollte der Islam Staatsreligion sein, doch sollte dies nicht zu Diskriminierungen aufgrund von Religion, Hautfarbe oder Wertvorstellungen führen. Ein irakischer Politiker, der diesen Überzeugungen widerspräche, würde sich schwer tun, eine einzige Stimme in einer Wahl im heutigen Irak zu erhalten.“

„Die Einigkeit unter den Irakern über die zukünftige Rolle des Staates ist beachtlich. Doch sie werden bitter enttäuscht sein – ganz egal, wer bei den bevorstehenden Wahlen ins Parlament gewählt wird. ... Die Iraker stehen am 7. März vor der Entscheidung zwischen Regen und Traufe. Auf der Suche nach einem demokratischen, ehrlichen und kompetenten Kandidaten, der ihren Sinn für soziale Gerechtigkeit teilt, könnten sie feststellen, dass sie längst verloren haben.“
Besatzer in der Zwickmühle

An Boykott denkt, so die New York Times, trotz der Repression auch in Diyala diesmal keiner. Die Gegner der Besatzung und des von den USA geschaffenen Regimes wollen die Stimmung in der Bevölkerung nutzen, um über die Wahlen das jetzige kurdisch-schiitische Regime beseitigen. Sollte dies scheitern, so dürfte die Wut über Wahl-Manipulationen und Betrug zu heftigen Protesten führen, die rasch auch eskalieren könnten.

Viele, die sich dann um die Hoffnung betrogen fühlen, ihr Ziel mit politischen Mitteln erreichen zu können, werden es vermutlich nicht bei verbalen Protesten belassen und der militärische Widerstand wird zunehmen. Schon jetzt haben, so der Eindruck US-amerikanischer Geheimdienste, bewaffneten Gruppen wieder erheblichen Zulauf bekommen.

Selbst Allawi, an sich fest im Rahmen des von den USA aufgebauten Systems stehend, sprach im britischen Telegraph deutliche Warnungen aus:
"Wir akzeptieren in dieser Situation ein gewisses Maß an Unregelmäßigkeiten. Wir werden aber kein größeres Ausmaß an Regelwidrigkeiten akzeptieren. ... Wir werden dann aus dem politischen Prozeß austeigen. In diesem Fall wird Irak in eine ziemlich gewaltsame und stürmische Zukunft sehen.
Wenn der politische Prozess sich gegen den Willen der Bevölkerung richtet und voller Regelwidrigkeiten ist, werde ich mich ausklinken und andere zum Boykott des Prozesses auffordern. Falls ich gewählt sein werde, werde ich zurücktreten"
Iraq could return to chaos and violence if election is not fair, Telegraph, 3.3.2010)
Die Entwicklung brachte die Besatzungsmacht in ein schwieriges Dilemma. Einerseits setzen sie nach wie vor auf al-Maliki. Herausforderer Allawi, der bei einem Besuch in Washington Obama für eine alternative Option erwärmen wollte, wurde nicht einmal ins Weiße Haus vorgelassen.

Zentraler Punkt ihrer Irak-Strategie ist jedoch auch, oppositionelle sunnitische und säkulare Kräften durch eine stärkere Beteiligung an der Macht einzubinden und dadurch das neue Regime zu stabilisieren. Dies wiederum ist die Voraussetzung die Zahl der eigenen Truppen im geplanten Maß verringern zu können. Maliki steuert nun jedoch genau in die andere Richtung, auf Konfrontationskurs. Vor dem Hintergrund des Streits um das Wahlgesetz und die Auseinandersetzung um Kirkuk, sei dies zerstörerischer für die Stabilität des Landes als jede Bombe, so die ICG. (s.a. Joost Hiltermann (ICG), Playing with fire in Iraq, The National (Abu Dhabi), 28.1.2010)

US-amerikanische Politiker und Militärs machten daher aus ihrem Unmut über Chalabis Coup keinen Hehl. So bezichtigten General Odierno, der Oberkommandierende der Besatzungstruppen und Botschafter Chris Hill Chalabi öffentlich, im Auftrag des Irans zu agieren. Doch wenn es für die Kompradoren um den nackten Machterhalt geht, schwinden die Einflussmöglichkeiten der Besatzer. Wenn die Obama-Administration das, für sie so wichtige Wahlprojekt nicht selbst diskreditieren will, so bleibt ihr nichts übrig, als zu versuchen die Aufregung zu dämpfen.

Insgesamt bewerben sich nun laut Wahlkommission noch 6.172 Kandidaten auf den Listen von 165 politischen Gruppen und 12 Koalitionen um die 325 Parlamentssitze.
Diese Zersplitterung begünstigt einerseits die großen Koalitionen, lässt anderseits aber auch keine klaren Mehrheitsverhältnisse erwarten. Auch wenn die Regierungsparteien an Sitzen einbüßen dürften, könnte dies es den USA noch einmal ermöglichen, eine von Maliki geführte Regierung durchzusetzen, wahrscheinlich erneut im Bündnis mit den Kurdenparteien und ISCI, sowie al-Sadr und Chalabai.
Diese Regierung hätte eine noch geringere Legitimation als die bisherige und stünde in offener Konfrontation zu den säkularen, sunnitischen und nationalistischen Kräften im Lande. Sollte al-Irakia gewinnen, hält Raed Jarrar aber auch einen Militärputsch der Regierungspartien, evtl. unterstützten vom Iran, für durchaus möglich.

Angesichts der sich zuspitzenden Situation haben die US-Kommandeure offenbar schon ihre Pläne für eine Verlängerung ihrer Truppenpräsenz, über die vereinbarten Termine hinaus, konkretisiert. Von einem vollständigen Abzug waren die führenden Kommandeure nie ausgegangen. Der Spielraum wird nun jedoch durch die massive Truppenerhöhung in Afghanistan zunehmend beschränkt.

Aus diesem Grund konnte auch nicht, wie geplant, die Truppenstärke im Irak bis zu den, um mehrere Monate verschobenen Wahlen gehalten werden. Mangels Reserven mussten mehr als 20.000 Soldaten früher aus dem Irak abgezogen werden. Laut US-Kommandeur Odierno sollen die noch verbleibenden 96.000 in nächster Zeit um weitere 10.000 pro Monat reduziert werden. (U.S. Will Slow Iraq Pullout If Violence Surges After Vote, Wall Street Journal, 23.2.2010)
Eine Kampfbrigade will er nun aber auf alle Fälle, über die 50.000 als "Nicht-Kampf-Truppen" etikettierten Soldaten im Nordirak behalten, so der Militärexperte des Center for a New American Security und frühere Pentagon-Korrespondent der Washington Post, Thomas Ricks. (Odierno requests more combat forces in Iraq -- beyond the Obama deadline, foreignpolicy.com, 25.2.2010)

Sollte sich jedoch, wie zu erwarten, die Bildung einer neuen Regierung wieder über Monate hinziehen, der Unmut über den Wahlausgang in gewalttätige Proteste umschlagen und der militärische Widerstand zunehmen, werden die verbleibenden Truppen kaum ausreichen, die Lage in den Griff zu bekommen. Ein Verbleib über die vereinbarten Termine hinaus wird den Widerstand jedoch erst recht anheizen.
Ein von Tomas Avenarius für die SZ befragter Kandidat der Sadr-Bewegung, der davon ausgeht, dass die US-Truppen für immer im Irak bleiben wollen, kündigte an: "Wenn die Amerikaner nicht bis 2011 gingen, müsse man 'mit allen Mitteln' gegen sie kämpfen."

Parallel zur Eskalation in Afghanistan könnten die USA eine solche Zuspitzung im Irak kaum verkraften.

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