Irak: Kein Ende der Gewalt

Jahresrückblick 2012. Heute: Irak. Weiterhin Instabilität und Machtkämpfe
Ungekürzte und unredigierte Version des gleichnamigen Artikels in junge Welt, 3.1.2013
http://www.jungewelt.de/2013/01-03/001.php

Das neue Jahr begann im Irak wie es endete: mit Anschlagserien, Massenverhaftungen, Folter und Exekutionen. Insgesamt wurden im Januar über 560 politische Gewaltakte registriert, darunter 36 Großangriffe mit einer Vielzahl von Opfern (mass-casualty attacks ). Dies sich setze sich über das Jahr fort und erreichte im Juni seinen Höhepunkt. Auch Mitte Dezember erschütterte eine Serie von Bombenangriffe das Land.[1] Gleichzeitig stehen sich nach Schusswechseln südlich von Kirkuk große Kontingente der irakischen Armee und kurdischer Peshmerga kampfbereit gegenüber. Gefährlich zugespitzt werden die Spannungen hier durch die Absicht des US-Multi Exxon Mobile in Kürze mit Bohrungen auf Ölfeldern zu beginnen, an denen er von der Kurdischen Regionalregierung (KRG) Anteile erworben hat – zu einem großen Teil außerhalb des kurdischen Autonomiegebietes.

Der Irak als Ganzes mag nicht im Bürgerkrieg sein, aber einzelne Städte und Regionen sind es wohl, stellte die Frankfurter Rundschau nach einer Anschlagserie im September zu Recht fest.[2]
 
Bürgerkrieg

Offiziell gilt die Lage im Land bereits als beruhigt, da die Gewalt im Vergleich zu den Hochzeiten 2006 bis 2008 deutlich zurückging. Demonstrativ trafen sich Ende März die Arabische Liga zu ihrem Gipfeltreffen in Bagdad und im Mai die „5+1-Gruppe“, d.h. die Veto-Mächte und Deutschland, zu Verhandlungen mit dem Iran. Sieht man von Meldungen über größere Bombenanschläge an Orten, ist das geschundene Land seit langem aus den Medien verschwunden, im Focus steht mit Syrien schon das nächte Land für einen gewaltsamen „Regimewechsel“.

Dabei ist das Gewaltniveau im Irak keineswegs geringer als im Nachbarland. Das Iraq Body Count Projekt (IBC) registrierte bis November 4348 zivile Opfer, dies entspricht im Schnitt 395 pro Monat und liegt knapp 25% über dem Wert des Vorjahrs von 318 pro Monat. IBC kann erfahrungsgemäß jedoch nur einen Teil der Getöteten erfassen, in heißen Phasen waren es weniger als ein 10 Prozent. Da es zudem nur die als zivil eingestuften Toten erfasst, dürfte. die Gesamtzahl aller Opfer über 20.000 liegen und höher als die des Kriegs in Syrien sein.

Der leichte Anstieg 2012 wird im Westen natürlich gerne als Folge des Abzugs der regulären US-Truppen dargestellt. Tatsächlich sind sie auf eine Verschärfung der Machtkämpfe im Land und das Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf den Irak zurückzuführen. [Die internen Kämpfe werden verschärft durch die Verwicklung verschiedener Kräfte in den Krieg in Syrien. Über verbündete sunnitische Stämme und Gruppierungen organisieren Saudi Arabien und Katar den Nachschub für islamistische Gegner der Assad-Regierung und salafistische Gruppen schicken Kämpfer. Schiitische und andere pro-syrische Kräfte stellen sich hinter Assad und versuchen dies zu unterbinden.]

Widerstand

Die irakische Regierung und westliche Medien ordnen alle bewaffneten regierungsfeindliche Aktionen – von gezielten Angriffen auf Regierungskräften oder Ölkonzernen bis zu Terroranschläge auf schiitische Pilger – den unter dem Dach des „Islamischen Staat im Irak“ vereinten Al Qaeda-nahen Organisationen zu. In der Tat dürften viele auf das Konto dieser wiedererstarkten Gruppierungen gehen. Oft vermuten Iraker jedoch auch regierungsnahe Kräfte dahinter, wodurch es nach Anschlägen auf Zivilisten häufig zu wütenden Angriffe auf Sicherheitskräfte kommt.

Die meisten Angriffe richten sich gegen die Polizei und Armee. Auch hierzu bekennen sich häufig dschihadistische Gruppen.

Nach Aussagen ihnen nahestehender Gruppierungen sind die Guerillaformationen des nationalen Widerstands organisatorisch weitgehend intakt, hätten aber noch keine Einigung über die zukünftige Strategie gefunden. Die Besatzung ist zwar für sie noch nicht zu Ende, mit dem Abzug der letzten regulären US-Einheiten verschwanden jedoch auch die eindeutig legitimen Angriffsziele. Obwohl das unter Besatzung eingesetzte Regime als unrechtmäßig und abhängig von den USA und Iran gesehen wird, zögern viele auch dieses und damit Iraker bewaffnet zu bekämpfen. Dies schließt Kämpfe einzelner Einheiten mit Regierungstruppen und regierungsnahen Milizen nicht aus, es fanden seither jedoch keine Operationen mehr statt, zu denen sich eine der bekannten Guerilla-Formation bekannte, mit Ausnahme einiger Angriffe auf die „Grüne Zone“ kurz vor und während des Gipfels der Arabischen Liga im März. [3]

Diktatur, Repression

Premierminister Nouri al-Maliki hat auch 2012 seine Machtbasis weiter ausgebaut. Nachwievor hält er mit den Ministerien für Militär, Inneres und Nationale Sicherheit auch die drei machtpolitisch wichtigsten Ministerien in seiner Hand und konnte so alle Schlüsselstellen in der Polizei, den Geheimdiensten und im Militär mit seinen Leuten besetzen. Auch den Obersten Gerichtshof und die Oberste Wahlkommission ordnete er sich unter.[4]

Die Kontrolle über den Repressionsapparat wird von Maliki massiv zum flächendeckenden Kampf gegen seine Gegner genutzt. Allein im Oktober gab es nach Informationen irakischer Menschenrechtsgruppen im Zuge von 161 Großrazzien gegen politische Gegner 1435 willkürliche Festnahmen. [[Diese Zahl berücksichtigt nur die vom Innen- und Verteidigungsministerium öffentlich gelisteten Fälle. Gefangennahmen der Spezialeinheiten Malikis sind nicht enthalten.]][5] Es folgen, wie auch Amnesty International und Human Rights Watch regelmäßig berichten, Folter, Isolationshaft, erpresste Geständnisse und unfaire Gerichtsverfahren. Nach wie vor unterhalten die direkt Maliki unterstehenden Einheiten auch Geheimgefängnisse. „Irakische Sicherheitskräfte ergreifen Menschen außerhalb des Gesetzes, ohne Gerichtsverfahren oder bekannten Anklagen und verstecken sie an isolierten Orten,“ so HRW im Mai.[6]

Christof Heyns, UN-Sonderberichterstatter für extralegale, summarische und willkürliche Hinrichtungen, schlug im September erneut Alarm aufgrund der hohen Zahl von Hinrichtungen. Nach Angaben des Justizministeriums waren von Januar bis August bereits 96 von knapp 300 Verurteilten exekutiert worden. Ehemalige Gefangene gehen von einer wesentlich höheren Zahl aus.[7]

Die Repression konzentriert sich keineswegs auf bewaffnete Gruppen, sondern auf alle die als Gegner angesehen werden. Sie zielt z.T. auch auf die Unterdrückung oppositioneller Äußerungen generell. So gab es die umfassendsten Massenverhaftungen unmittelbar vor dem Gipfel der Arabischen Liga Ende März. Hunderte wurden tage und wochenlang misshandelt oder gar systematisch gefoltert, ohne dass Malikis Schergen irgendwas gegen sie in der Hand hatten. Die meisten wurden am Ende wieder auf freien Fuß gesetzt – mit der üblichen Warnung vor erneuter Verhaftung oder der Drohung die Frau oder die Töchter zu vergewaltigen, sollten sie sich öffentlich beschweren.

Betroffen sind alle Arten von Opponenten, inklusive Abgeordnete, Bürgermeister und Mitglieder von Provinzregierungen die rivalisierenden Parteien angehören.

Jüngstes Beispiel dafür ist der Überfall von Malikis Sicherheitskräften auf Büros des Finanzministers Rafia al-Issawi, bei der nach dessen Angaben 150 seiner Sicherheitsleute und Angestellten festgenommen wurden. Dies erinnert an eine ähnliche Razzia gegen den Vizepräsident Iraks, Tariq al-Haschimi ein Jahr zuvor. Dieser wurde mittlerweile mehrfach zum Tode verurteilt, konnte sich aber rechtzeitig über Kurdistan in die Türkei absetzten. Grundlage sind erneut Geständnisse von Leibwächter, die vermutlich unter Folter erpresst wurden. Beide sind führende Mitglieder der, aus sunnitischen und säkularen Parteien bestehenden „Irakischen Nationalbewegung“ Irakija, die formell mit Malikis Partei und den Kurdenpartien eine „Einheitsregierung“ bildet.[8] Maliki war jedoch nie bereit, die Macht wirklich zu teilen nun scheint er entschlossen, die im Amt verbliebenen Rivalen zu beseitigen.

[Nun hat sich Irakija, wie auch ein Jahr  zuvor, aus dem Kabinett zurückgezogen, in ihren Hochburgen gibt es seither heftige Proteste. In Falludscha unterbrachen Hunderte wütende Demonstranten die internationale Schnellstraße, die den Irak mit Syrien und Jordanien verbindet.[9]
[„Nach dem Rückzug der US-Truppen aus dem Irak Ende vergangenen Jahres hatte Haschemi massive Kritik an Ministerpräsident Nuri al-Maliki geäußert. Er warf diesem vor, die irakischen Sunniten zu unterdrücken und einen konfessionellen Streit im Irak zu provozieren. Haschemi ist selbst Sunnit. Maliki, der die drei wichtigsten Ministerien Inneres, Nationale Sicherheit und Verteidigung selbst kontrolliert, entwickele sich zu einem Alleinherrscher »schlimmer als Saddam Hussein«, so Haschemi. Der eigentlich politische Konflikt entwickelte sich rasch zu einem Streit zwischen den von Iran unterstützten Schiiten um Maliki) und den von Katar und Saudi-Arabien begünstigten Sunniten.“[10]]
Kein Wiederaufbau

Der ehemalige britische  Premierminister Tony Blair, konfrontiert mit der immer lauteren Forderung von Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, ihm wegen Führens eines Aggressionskrieges gegen den Irak den Prozess zu machen, die zu Hause von eine Reihe Abgeordneten aufgegriffen wurde, [11] verteidigte sich im November damit, dass der Krieg für die Iraker riesige Fortschritte gebracht hätte. Der  Irak werde, so Blair, in diesem Jahrzehnt zur am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt aufsteigen. [12] [Besonders toll seien die Entwicklungen in Basra, das bis zu ihrem erzwungen Abzug, unter Kontrolle britischer Truppen, hier sei auch die Kindersterblichkeit drastisch gesunken.]

Blair spielte auf Analysen an, die für 2012 ein Wachstum von 9% und für 2013 mehr als 10% prognostizierten. Abgesehen vom Zynismus, die der Verweis auf Wachstumsraten in einem durch Embargo und Krieg ruinierten Land darstellt, sehen Fachleute die Aussichten wesentlich nüchterner. Das durchaus um optimistische Daten bemühte irakische Finanzministerium geht nur von knapp 5% aus und die UNDP weigert sich, den desolaten Staat überhaupt in seine Länderberichte aufzunehmen.[13] Tatsächlich sind Wirtschaft und Infrastruktur des Landes nach wie vor in einem desolaten Zustand.

Während sich die Regierungstätigkeit Malikis auf die für den Machterhalt maßgeblichen Ministerien konzentriert, glänzt der übrige Regierungsapparat durch beispiellose Ineffizienz und Korruption.

Öleinnahmen:

Die Produktion konnte zwar im Laufe des Jahres gesteigert werden und der Export lag mit 2,6 Millionen Barrel pro Tag (bpd) zum ersten Mal über dem Vorkriegsniveau.[14] Die eigentlich vorgesehene Kapazitätssteigerung wurde jedoch erneut verfehlt.[15] Dennoch erzielt der Staat die Rekordeinnahme von rund 100 Mrd. Dollar. [Dies sind aber fast auch die gesamten Einnahmen. Da die übrige Wirtschaft am Boden liegt, ein erheblicher Teil der Bevölkerung arbeitslos ist und seit den Erlassen der Besatzungsbehörde unter Paul Bremer ohnehin kaum Steuer und Zölle erhoben werden, machen die Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten 95% der gesamten Staatseinnahmen aus.]

Infrastuktur

Trotz der erheblichen Einnahmen ändert sich an den Lebensverhältnissen wenig. Iraks Wirtschaft und Infrastruktur ist immer noch ein Desaster fasste der Journalist und Irak-Kenner Dahr Jamail  anfangs des Jahres die Lage treffend zusammen.[16]

Nach wie vor sind weite Teile der Bevölkerung von der Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung ausgeschlossen. Immer noch produziert das Land nur gut ein Drittel des Bedarfs an elektrischer Energie. Von den benötigten rund 15000 Megawatt können die Kraftwerke nur 5852 Megawatt liefern, und auch dies nicht ohne regelmäßige Ausfälle. Trotz der vielen Milliarden Dollar, die in Reparatur und Ausbau der Energieversorgung flossen, liegt die Gesamtleistung immer noch unter der von 2003, als das umfassende Embargo die Lieferung von Material und Ersatzteilen weitgehend verhinderte.[17]

Die Folgen von alltäglichen Stromausfällen von im Schnitt 15 Stundendauer sind natürlich vor allem in den heißen Sommermonaten verheerend. In Basra kam es wieder wiederholt zu Unruhen als der Strom volle 2 Tage wegblieb.[18]

Soziale Situation

Offiziell fiel die Arbeitslosigkeit unter 16%,[19] internationale Organisationen gehen eher von der doppelten Rate aus.[20] Laut einem Bericht der UNDP vom Mai gehen nur 34% der arbeitsfähigen Bevölkerung einer Erwerbstätigkeit nach. Sieben Millionen Iraker, 23%, leben in absoluter Arbeit. [21] Während die Lebenserwartung in den anderen arabischen Ländern, inklusive Somalia und Sudan seit 2000 um durchschnittlich 2 Jahre stieg, liegt sie im Irak mittlerweile bei 70, 2 Jahre unter dem Stand von 2000, als das Land schwer unter dem Embargo litt.[22]

Kinder

Der Irak war 1987 von der UNESCO für sein Bildungswesen ausgezeichnet worden, der Analphabetismus war fast beseitigt gewesen. Nun stieg die Analphabeten-Rate wieder auf über 22%, (nach manchen Quellen auf über 25%), in manchen Gegenden beträgt sie bei Frauen schon 40-50%. Lag die Einschulungsrate bis weit in die 1990er Jahre bei 100%, sank sie bei Mädchen, u. A. aufgrund der Gefahr Opfer von Entführung und Mädchenhandel zu werden, vielerorts unter 50%. [23]

Das Land ist nach Statistiken, die UNICEF im Juni veröffentlichte einer der schlechtesten Plätze für Kinder auf der Welt. Rund 3,5 Millionen Kinder leben in Armut und 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt, 100 von ihnen sterben jeden Tag. 3 Millionen Kinder sind ohne adäquate Gesundheitsversorgung. [24] Eine am 12. Dezember veröffentlichte, gemeinsam mit der irakischen Regierung durchgeführte und daher nur bedingt kritische Studie, ergab, dass nur 10% aller Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Zugang zu allen nötigen Basisdienstleistungen hat, während ein Drittel, 5,3 Million, von fast allen ausgeschlossen ist.[25]

Flüchtlinge

Ein deutliches Indiz, wie desolat die Lebensbedingungen sind, ist die immer noch hohe Zahl von Flüchtlingen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge konnte nur leicht von 1,3 auf 1,2 Millionen verringert werden. [26]Die Zahl der aus dem Ausland heimkehrenden Flüchtlinge stieg von 67.000 im Vorjahr auf ca. 200.000, wodurch die Gesamtzahl der Auslandsflüchtlinge auf 1,2 Millionen sank. Bei den meisten handelte es um Heimkehrer aus Syrien, die zur Heimkehr gezwungen sahen. Mit ihnen kamen 60.000 syrische Flüchtlinge. UNHCR schätzt dass sich deren Zahl 2013 verdoppeln wird.[27]

Besatzung

Auch wenn der außenpolitische Kurs Malikis in Vielem quer zu den US-Interessen liegt und der Irak sich eher als Verbündeter Irans erweist haben die USA auch nach dem Abzug ihrer regulären Truppen ihren Fuß noch mächtig im Land. Maliki ist weiterhin auf die militärische Unterstützung der nun im Schatten agierenden Besatzer angewiesen. Sie liefern das Gros der Waffen und Ausrüstung für Armee und Sicherheitskräfte und unterstützen diese im Kampf gegen die Gegner des Regimes.

Ihr sichtbares Machtzentrum, die gigantische Botschaftsfestung im Zentrum von Bagdad wird gerade für 100 Millionen weiter ausgebaut. Entgegen der Ankündigungen des State Departments wurde das Personal 2012 nicht reduziert. Nach wie vor umfasst es rund 16.000 Angestellte. Nur knapp 4.000 werden offiziell als Sicherheitspersonal geführt, insgesamt stellt das Pentagon jedoch 8.400 Leute – alle durchweg über Privatunternehmen angeheuert, ein großer Teil also Söldner.[28]

Daneben unterhält die Botschaft noch befestigte Außenstellen in Basra und Erbil und das unter dem Namen „Büro für Sicherheitskooperation“ (Office of Security Cooperation-Iraq, OSC-I) firmende Militärkommando der USA unterhält zudem noch Stäbe in Bagdad, Tikrit, Taji, Besmaya und Umm Qasr. Die Außenstelle in Kirkuk hingegen wurde im August aufgegeben, vermutlich wegen der ständigen Angriffe auf den Komplex.[29]

Daneben operiert mit Sicherheit weiterhin eine große Zahl von US-Spezialeinheiten im Land. Irakischen und iranischen Medien zufolge sind Anfang Dezember auch klammheimlich 3.000 US-Soldaten in mehreren Schritten auf Basen im Irak zurückgekehrt – das Gros auf die Garnison Balad und auf die Luftwaffenbasis al-Asad in Anbar. [30]

Ölmultis

Ebenfalls erheblich an Einfluss gewannen die großen Öl-Multis in deren Taschen ein wachsender Anteil der Einnahmen aus den Öl-Exporten fließt. Sie hatten statt der anvisierten Produktionsbeteiligungen nur Serviceaufträge bekommen mit einer für sie mageren Entlohnung: ein Fixbetrag von 1-2 Dollar pro Barrel, das über ein bestimmtes Niveau hinaus, zusätzlich gefördert wird. Infolge der Inkompetenz und ungeheuren Korruption in den Ministerien und der Verwaltung kommen sie aber durchaus auf weit mehr als auf ihre Kosten. Sie bekommen ihr Geld, ohne echte Kontrolle über erbrachte Leistungen und können völlig überzogene Aufwandsentschädigungen einfordern. [31]

In Abwesenheit einer kompetenten Aufsicht erhalten sie immer größeren Einfluss auf die Ölförderung und damit auch auf die irakische Politik. Angesprochen auf die schlechten Vertragsbedingungen, wies der lokale Chef der britischen BP darauf hin, dass das Rumaila-Ölfeld, auf dem sie arbeiten, die Hälfte des irakischen Staatshaushalts produziert. „Wenn wir wegen etwas  frustriert sind, so können wir jederzeit eine Audienz mit dem Öl-Minister bekommen.“ [32]

Einstieg in Kurdistan

Andere Öl-Multis gehen einen anderen Weg. Mit ExxonMobil und Total sind bereits zwei der großen Multis nach Norden umgeschwenkt und haben Verträge mit der KRG abgeschlossen. Da die irakische Regierung alle Firmen, die an Bagdad vorbei Geschäfte machen, von eigenen Aufträgen ausschließt, stellen sie damit ihre Milliarden-Aufträge im Süden zur Disposition. [Exxon ist dabei seinen Anteil am 50 Milliarden Projekt in West Qurna I zu verkaufen. Damit wären die großen US-Mulits aus dem Geschäft.] Chevron, der zweitgrößte Öl-Multi hinter Exxon in den USA hatte sich gar nicht erst um einen der unbeliebten Serviceaufträge bemüht und stieg dieses Jahr gleich in Kurdistan ein.[33] (The company got an offer from the Iraqi central government authorities to sign a contract for drilling four oil wells in the south of Iraq, but the company directors refused the offer and announced that the Iraqi government's oil, energy and investment policies have proved a failure.[34])

Im Unterschied zu Bagdad bieten die Chefs der beiden Kurdenparteien, die sich die Herrschaft über die Kurdengebiete teilen, genau die Konditionen, die sie seit langem im gesamten Irak anstreben: Produktionsbeteiligungsabkommen (Production Sharing Agreement).

Im kurdischen Autonomiegebiet liegen zwar nur verhältnismäßig kleine Vorkommen. Im Zuge der US-Invasion 2003 konnten die Peshmerga-Verbände von PUK und KDP auch einen bis zu 100km breiten Streifen südlich davon unter ihre Kontrolle bringen, der die größten Vorkommen im Norden Iraks umfasst. Obwohl Kurden hier meist nur eine große Minderheit sind, beanspruchen PUK und KDP diesen Streifen als historisch kurdisches Gebiet. Durch massive Ansiedlung kurdischer Familien und Vertreibung von Arabern, Turkmenen und anderer Minderheiten, versuchen sie die Demografie ihren Vorstellungen anzupassen.

Drei der sechs Ölfelder, auf denen Exxon nun nach Öl bohren will, liegen in den Provinzen Ninive und Tamim (Kirkuk), auch eines der beiden, an denen sich Chevron beteiligt liegt in Ninive.[35] Exxon in KRG on track despite warnings, uncertainty[36]

Die Zentralregierung hält alle von der KRG abgeschlossenen Verträge für illegal und hat dabei das Recht wohl auf ihrer Seite. Nach wie vor gibt es kein neues Gesetz, das die Zuständigkeiten im Sinne der Kurden regeln würde. Mit Sicherheit sind die Verträge über die Ölvorkommen nichtig, die gar nicht unter die Hoheit der KRG fallen. Wenn BP und Chevron trotzdem hier erhebliche Investitionen tätigen wollen, so offensichtlich im Vertrauen darauf, dass die USA und die Peshmerga-Verbände, die mit westlicher und israelischer Hilfe zu einer starken Armee umgewandelt wurde, stark genug sind, sie zu schützen.

Das Hauptproblem für die kurdischen Ambitionen ist, dass sie ihr Öl über Pipelines transportieren müssen, die unter Kontrolle des Ölministeriums stehen. Die soll sich mithilfe der Türkei, die längst zum wichtigsten Wirtschaftspartner wurde ändern. Beide Seiten unterzeichneten ein Abkommen zum Bau einer Pipeline in die Türkei, was die ohnehin schon heftige Feindschaft zwischen Bagdad und Ankara weiter verschärfen wird. 

Letztlich spielen die Ölkonzerne geschickt die Kurden und die Zentralregierung gegeneinander aus. PUK und KDP sind nur zu gerne bereit, ihnen für weitere Schritte zu mehr Unabhängigkeit und wohl auch persönlichem Reichtum, Öl- und Gasreserven zu überlassen – zu Bedingungen, die so vorteilhaft wie nirgendwo sonst für vergleichbare Quellen sind. Mit der Präsenz von Exxon, Chevron und Total in den von ihnen beanspruchten Gebieten, können sie Fakten setzen, die von Bagdad nur noch schwer korrigieren sind, ohne einen offenen Konflikt mit Washington zu riskieren.

Dadurch wächst zudem der Druck auf die Regierung, den Multis im Süden günstigere Konditionen einzuräumen. Lachender Dritte könnten aber auch chinesische Firmen sein. Beste Chancen West Qurna-1 von Exxon Mobil zu übernehmen, hat die China National Petroleum Corp (CNPC), wodurch deren Einfluss im Irak weiter auf Kosten der westlichen Konkurrenten steigen würde. [„For energy-hungry China, a major buyer of Iraqi crude, access to reserves is a strategic imperative, and Beijing is prepared to accept tougher terms and lower profits than Western oil majors“] Chinesische Firmen würden “Iraks Ölfelder dominieren”, so Experten, da sie dann auf einem Drittel der bekannten Reserven tätig wären. [37]

[Die Service-Verträge des Ölministerium mit ausländischen Firmen sind zwar im Einklang mit dem nach wie vor gültigen Gesetz der einstigen Baath-Regierung, es fehlt ihnen aber durchweg die dort vorgeschriebene parlamentarische Zustimmung.

Eine solche einzuholen erschien Maliki und den Besatzern angesichts des breiten Widerstands im Lande gegen die Rückkehr der Öl-Multis viel zu unsicher. Die Vertragspartner setzen auch hier darauf, dass das aktuelle Regime sich lange genug hält bzw. die Macht der USA ihre Investitionen auf andere Weise langfristig sichert. [38]

Die Sicherheitslage im Allgemeinen und der anhaltende Widerwillen der Iraker gegen die Präsenz der Öl-Multis zwingt die Konzerne zu enormer Aufrüstung. Die BP-Basis auf dem Rumaila-Ölfeld ist eine Festung, umringt von Wachtürmen und verteidigt von Dutzenden schwer bewaffneter  privater Söldner. Das Gelände ist übersät von Schutzbunker, geschmackvoll verhüllt von Bougainvillea. Außerhalb des Geländes fährt das eingeflogene Exxon-Personal nur im gesicherten Konvoy.[39]]


[2] Walter Lehmann, Kommentar: Der Irak zerfällt, FR. 10.9.2012

[3] "The Iraqi Resistance is still fine", Dr. Mohammad Bashir Al-Faidhi of the Association of Muslim Scholars in Iraq – interviwed by Snorre Lindquist, 30.4.2012

Katyusha Missiles Hit Baghdad Airport, HEYET Net, 27.3.2012

Tuesday, 27 March 2012 11:13

[4] siehe u.A. Déjà Vu All Over Again: Iraq’s Escalating Political Crisis, International Crisis Group, 30.7.2012

[5] HEYET Human Rights Monthly Report , Heyet Net, 13.11.2012

[7] Dahr Jamail, Iraq execution spree under the spotlight, Spate of executions, mass detentions and alleged torture raise concerns over country's human rights situation, Al Jazeera, 11.9.2012

[14] Die Produktion stieg auf rund 3Millionen bpd und der Export auf 2,6 Mio. Vor dem Krieg lag die Tagesförderung trotz Embargo bei 2,8 und die Ausfuhr bei 2,2 Mio. Barrel. Der erzielte Preis sank von 112 auf 105 Dollar, lag im Juni sogar bei mageren 90 Dollar.
Iraq's oil output slumps by 200,000 b/d in October, Platts, 28.11.2012, Iraq Crude Oil Exports – October 2012, Irakisches Ölministerium, 25.11.2012, Iraq's oil exports increase 1.1 percent in October, AP, 22.11.2012

[15] Special Inspector General for Iraq Reconstruction (SIGIR), Quarterly Report to the US Congress January 2011
Iraq Sees Growth In Its Oil Industry In 2011, Will Continue Into 2012, Musings on Iraq, 24.1.2012

[16] Dahr Jamail, Iraq: A country in shambles -- Despite promises made for improvements, Iraq’s economy and infrastructure are still a disaster, Al Jazeera, 8.1.2012.

[19] Iraqi Unemployment Falls to 16%, Alsumaria TV, 6.6.2012.

[20] Iraq traces poverty rates during first quarter of 2012, AKnews (Kurdistan News Agency), 23.4.2012

[21] Poverty in Iraq is disastrous, 20.2.2012, AKnews, 20.2.2012

[23] Illiteracy Rate in Iraq Climbs among Highest in the Region, NGO Coordination Committee in Iraq, 28.9.2010

[24] The country is one of the most insecure places in the world for children, Fides, 5.7.2011, basiert auf der eindrucksvollen Präsentation: Iraq: A New Beginning – Building the Future of Iraq – Iraq Regional Comparison, UNICEF, 5.7.2011

[25] Presseerklärung, Findings launched of major survey of children and women in Iraq -- Survey finds 32 per cent of children in Iraq - 5.3 million - are deprived of many basic services and rights, UNICE, 12.12.2012, Multiple Indicator Cluster Survey 4, UNICEF,

[26] 2012 UNHCR country operations profile – Iraq, .unhcr.org, Stand 15.12.2012,

[27] UNHCR Global Appeal 2013 Update – Iraq, UNHCR Fundraising Reports, 1.12.2012

[28] Special Inspector General for Iraq Reconstruction, Quarterly Report To Congress -  October 2012, SIGIR, 30.10.2012

[29] Konsularische Dienste hat dieses “Konsulat” nie geleistet, Snapshot: US Mission Iraq Staffing as of July 2012, DiploPundit, 31.7.2012, mehr zur US-Botschaft in Bagdad: http://diplopundit.net/category/us-embassy-baghdad/

[30] US troops secretly return to Iraq, PUKmedia (Media Office of Patriotic Union Kurdistan), 10.12.2012, US secret comeback to Iraq, Voice of Russia, 10.12.2012

[31] Greg Muttitt, Mission Accomplished for Big Oil? -- How an American Disaster Paved the Way for Big Oil’s Rise -- and Possible Fall -- in Iraq, TomDispatch, 23.8.2012

[32] Iraq – back in the flow -- Western groups revive production, but bureaucracy and stingy contracts drive majors to Kurdistan, FT, 16.12.2012

[34] Exxon Mobil and Chevron rebuff Baghdad's threats as Total, The Kurdish Globe, 31.7.2012

[35] Chevron Acquires Interest in Kurdistan Concessions, Agreement provides Chevron 80 percent interest in contracts covering two blocks in the Kurdistan Region of Iraq, Chevron, 19.7.2012

[38] Siehe Magere Beute …

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